Buch lesen: «Zerreißproben»
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Stephan Russ-Mohl / Christian Pieter Hoffmann (Hrsg.)
Zerreißproben.
Leitmedien, Liberalismus und Liberalität
Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses, 4
Köln: Halem, 2021
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© Copyright Herbert von Halem Verlag 2021
Print: | ISBN 978-3-86962-535-5 |
E-Book(PDF): | ISBN 978-3-86962-538-6 |
E-Book (EPUB): | ISBN 978-3-86962-532-4 |
ISSN 2699-5832
UMSCHLAGGESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf
UMSCHLAGFOTO: © Copyright Alex Verrone/Shutterstock
LEKTORAT: Julian Pitten
SATZ: Herbert von Halem Verlag
DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg
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Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses
Stephan Russ-Mohl / Christian Pieter Hoffmann (Hrsg.)
Zerreißproben
Leitmedien, Liberalismus und Liberalität
Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses
Warum ist der Lager übergreifende öffentlich-demokratische Diskurs gefährdet, ja geradezu ›kaputt‹? Weshalb ist der öffentliche Wettbewerb auf dem Marktplatz der Ideen ins Stocken geraten? Und welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und Algorithmen, aber auch Bildung und Erziehung sowie eskalierende Shitstorms und – auf der Gegenseite – Schweigespiralen bis hin zu Sprech- und Denkverboten?
Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses stellt diese Fragen, denn wir brauchen Beiträge und Theorien des gelingenden oder misslingenden Diskurses, die auch in Form von ›Pro & Contra‹ als konkurrierende Theoriealternativen präsentiert werden können. Zugleich gilt es, an der Kommunikationspraxis zu feilen – und an konkreten empirischen Beispielen zu belegen, dass und weshalb durch gezielte Desinformation ein ›Realitätsvakuum‹ und statt eines zielführenden Diskurses eine von Fake News und Emotionen getragene ›Diskurssimulation‹ entstehen kann. Ferner gilt es, Erklärungen dafür zu finden, warum es heute auch unter Bedingungen von Presse- und Meinungsfreiheit möglich ist, dass täglich regierungsoffiziell desinformiert wird und sich letztlich in der politischen Arena kaum noch ein faktenbasierter und ›rationaler‹ Interessensausgleich herbeiführen lässt. Auf solche Fragen Antworten zu suchen, ist Ziel unserer Buchreihe.
Diese Reihe wird herausgegeben von Stephan Russ-Mohl, emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano/Schweiz und Gründer des European Journalism Observatory.
Inhaltsverzeichnis
Christian P. Hoffmann / Stephan Russ-Mohl
Mediale Zerreißproben für den Liberalismus – liberale Zerreißproben für den Journalismus
1.LIBERALISMUSSCHWUND UND LIBERALITÄTSVERLUSTE
Ulrike Ackermann
Liberalismus unter Druck – die identitäre Herausforderung
Thomas Petersen
Die zerrissene öffentliche Wahrnehmung des Liberalismus
Jan Schnellenbach
Schimpfwort (Neo-)Liberalismus?
Josef Joffe
Hier die Woke-Aktivisten, dort der Wohlfühlstaat
Daniel Cohn-Bendit / Claus Leggewie
Pluralität und Toleranz – alte Werte neu entdeckt
Margit Osterloh
Das Autoritätsvirus in Politik, Wissenschaft und Medien
Heribert Prantl
Grund- und Freiheitsrechte in Quarantäne
Bruno S. Frey
Freiheit, Liberalität und Glück
2.LIBERALER JOURNALISMUS, LIBERALE JOURNALISTEN?
Beatrice Dernbach
Liberalität ist ein grundlegender journalistischer Wert
Christian Pieter Hoffmann
Journalismus zwischen politischer Einseitigkeit und Perspektivenvielfalt
Uwe Krüger / Holger Pötzsch / Hendrik Theine
Wie neoliberal sind die Medien?
Ulf Poschardt
Freiheitsneid unter deutschen Medien
Jochen Bittner
Nicht einknicken! Dein Mitbürger, der Unterdrücker
Gregor Engelmeier / Fatina Keilani
Identitätsanordnungen. Journalismus für eine postfaktische Gesellschaft
Rainer Hank
Journalismus als Erziehungsinstanz?
Henrik Müller
Lärmspiralen und andere Ärgernisse. Zur ökonomischen Kompetenz im Journalismus
Tim Krieger
Die Schwierigkeit, Ordoliberalismus zu vermitteln
3.PARTEIEN UND LIBERALISMUS IN DEN MEDIEN
Roland Schatz
Die FDP in den Medien
Wolfgang Kubicki
Medienberichterstattung über die FDP – aus der Innensicht
Laura Schieritz
Die One-Man-Show als mediales Narrativ
Hasso Mansfeld
Wie hältst du es mit dem Zeitgeist? Liberale Politik erfolgreich kommunizieren
Peter Unfried
Sind die Grünen parteipolitisch Erben des Liberalismus?
Antonia Haufler
Auf dem Rückzug und Vormarsch zugleich: Liberalismus in der CDU
Juli Zeh
SPD, Liberalität und Linksliberalismus – ein Interview
Sahra Wagenknecht
Auch die Linke braucht Liberalität
4. SCHLUSSAKKORD
Stephan Russ-Mohl
Der kleine, GROSSE Unterschied. Liberalität im Journalismus, in der Medienforschung – und im Leben
Herausgeber
Autoren
Christian P. Hoffmann / Stephan Russ-Mohl
Mediale Zerreißproben für den Liberalismus – liberale Zerreißproben für den Journalismus
»Warum ist eigentlich immer der ›Neoliberalismus‹ an allem schuld?«, titelte jüngst fragend Rainer Hank, auch Autor eines Beitrags im vorliegenden Band, in der Neuen Zürcher Zeitung. Zahllose sozial- und geisteswissenschaftliche Schriften, Vorträge und Kolloquien, aber auch unzählige Artikel, Analysen und Kommentare in den Massenmedien obduzieren die Verfehlungen des Neoliberalismus: Armut, Klimakatastrophe, Wohnungsknappheit, Rassismus und Sexismus, Austerität, Demographie – kein Übel dieser Welt kann offenbar nicht auf den Neoliberalismus zurückgeführt werden.
Auf Twitter macht sich der Ökonom Holger Schäfer regelmäßig den Spaß, öffentlich geäußerte Vorwürfe gegenüber dem Neoliberalismus zu sammeln. Die lange Liste umfasst Schätze wie Körpergeruch, Selbstverwirklichung, Fitness, die 1990er-Jahre und Wiesbaden. Der Neoliberalismus ist heute so etwas wie der Beelzebub der progressiven Gesellschaftskritik – allgegenwärtig, nahezu allmächtig und doch kaum je zu fassen.
Als die Herausgeber dieses Bandes mit dem Gedanken zu spielen begannen, ein Werk zum Verhältnis von Journalismus und Liberalismus zu veröffentlichten, raunte ihnen schnell die Warnung entgegen: das dürfe aber nicht in einer Neoliberalismus-Apologetik enden, das zerstöre jede Akzeptanz! Liberalismus ja, Neoliberalismus nein – eine Zerreißprobe.
Der kritische Blick auf die öffentliche Debatte macht jedoch schnell deutlich: die Neoliberalismus-Kritik ist heute so weit verbreitet, so universell und ubiquitär, dass sie längst an Sprengkraft verliert. Auch unter Progressiven. Die Ablehnung des Neoliberalismus ist in Kreisen, die sich gerne als kritisch betrachten, so etwas wie eine Höflichkeitsgeste, eine Begrüßungssymbolik, die Zutritt gewährt.
Doch hitzige Debatten entbrennen und den Puls in Höhe jagen lässt heute eine andere Herausforderung, die allenfalls ein Derivat der Neoliberalismus-Kritik darstellt: die Identitätspolitik. Die auf Twitter aktiven öffentlichen Intellektuellen rollen allenfalls mit den Augen, wenn mal wieder ein Ordnungsökonom – typisch deutsch! – die Marktwirtschaft verteidigt. Ganz anders, wenn eine Journalistin die Seenotrettung von Flüchtlingen hinterfragt, ein Migrationsforscher die schleppende Integration von arabischstämmigen Einwanderern moniert, eine Soziologin Frauenfeindlichkeit im Islam thematisiert, ein Biologe behauptet, es gäbe nur zwei Geschlechter, oder eine Anzeige impliziert, sportliche Menschen lebten gesünder. Es sind diese Art der Äußerungen, die nach einem identitätspolitischen Muster als frauen-, migranten-, homosexuellen-, behinderten- oder übergewichtigenfeindlich kategorisiert werden können, die intensive und langanhaltende öffentliche Empörung auslösen.
Dürfen Social Media solchen Äußerungen eine Plattform bieten (›Hatespeech‹)? Sollen Journalisten sie thematisieren – und wenn ja, in welcher Form? Kritik an einer als schädlich oder gefährlich betrachteten Aussage ist unweigerlich mit dem Nachteil verbunden, dieser Aussage zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken. Wäre totschweigen nicht besser? Für den Journalismus ganz zweifellos: eine Zerreißprobe. Und ebenso für einen Band, der sich mit dem Verhältnis von Journalismus und Liberalismus beschäftigen soll. Er muss sich auch befassen mit Liberalität, mit der Offenheit öffentlich ausgetragener Debatten. Wenngleich wohlmeinende Begleiter der Herausgeber auch hiervon dringlich abrieten.
Eine dritte Zerreißprobe ergab sich unerwartet und in tragischer Dimension während der Arbeit am Buchprojekt: die Covid-19-Pandemie. Nicht alle werden sich vermutlich daran erinnern, aber es gab vor dem Frühjahr 2020 eine Zeit, eine kurze, in der der Ausbruch der Epidemie für den Journalismus eine Sachfrage darstellte. Im Mittelpunkt standen Fragen wie: Woher kommt die Erkrankung, wie verbreitet sie sich, welche Folgen hat sie, wie kann man sich gegen sie schützen? Doch allzu schnell wurde die Pandemie befallen von der Politisierung und Polarisierung. Antworten auf Sachfragen wurden zu Glaubensfragen, natur- und sozialwissenschaftliche Argumente wurden zu politischen Bekenntnissen. Und wieder wurde diskutiert: Was sollte auf Social Media veröffentlicht werden dürfen? Was sind gefährliche ›Fake News‹, ja eine ›Infodemie‹? Darf, ja muss der Journalismus politische Maßgaben unterstützen? Inwiefern sollte er Kritik an Regierung, an Verordnungen, an Einschränkungen von Freiheiten Raum geben?
Angesichts der zeitweise monothematischen medialen Befassung mit der Pandemie ergab sich so erstaunlich wenig Raum für kontroverse Debatten. Nicht nur das Publikum bekam angesichts schockierender Bilder aus Norditalien und New York Angst – es schien, als hätten auch Journalisten, Experten, Künstler und Politiker Angst, etwas Falsches zu sagen und einem pandemiediskurspolitischen Bannstrahl anheim zu fallen. Dass diese Angst nicht gänzlich unberechtigt gewesen sein mag, zeigte die hitzige Debatte um #allesdichtmachen. Die unter diesem Hashtag veröffentlichte, meist humorvoll intendierte kritische Auseinandersetzung zahlreicher, teils prominenter Künstler mit der Lockdown-Müdigkeit zog eine gewaltige Welle harscher Kritik und ängstlicher Distanzierungen nach sich. An vorderster Front kritisierten nicht selten: Journalisten. Journalismus als Schiedsrichter statt als Moderator des Diskurses? Eine Zerreißprobe.
Auch hier blieb die Warnung an die Herausgeber nicht aus: Bloß dieses Thema nicht anfassen, das endet unweigerlich in Verschubladisierung! Niemand möchte schließlich mit ›Covidioten‹ und Verschwörungstheoretikern in Verbindung gebracht werden.
Ist es nicht erstaunlich, wie schnell sich ganze Themengebiete ansammeln, die nach wohlmeinendem Rat nicht angesprochen werden sollten, wenn ein Band das Verhältnis von Journalismus, Liberalismus und Liberalität kritisch analysieren will? Gerade bei dieser Zielsetzung stellen allzu viele und allzu leichtfertig umrissene Tabuzonen unweigerlich eine contradictio in adiecto dar. Sind es nicht gerade die Zerreißproben, die uns faszinieren und beschäftigen sollten?
Journalismus, wie hältst du es mit…
»Haltung bewahren!« Wer konnte seinerzeit ahnen, dass diese konservativ anmutende Aufforderung zum Kern eines der hitzigsten Aufregerthemen der medialen Selbstreflektion der letzten Jahre werden würde. Braucht der Journalismus Haltung? Wenn ja, wieviel – und welcher Art? ›Haltungsjournalismus‹ ist heute in manchen Kreisen ein Schimpfwort vergleichbar der ›Lügenpresse‹. Und dennoch stehen zahlreiche Vertreter der Zunft zur Forderung nach Haltung im Journalismus. Hinter dem schillernden Begriff verbirgt sich dabei alles Mögliche: unverdächtige Überlegungen, wie das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, diskutable Aufforderungen, wie das Vertreten eines individuellen oder organisationalen Wertekanons – man denke etwa an die Grundsätze des Axel-Springer-Verlags –, oder eben der streitbare Einsatz für politische Projekte, wie etwa die ›Willkommenskultur‹.
Debatten bleiben meist unfruchtbar, wenn der Gegenstand der Debatte nicht klar definiert ist. So ist es auch beim Haltungsstreit. Sehen manche in journalistischer Haltung ein selbstverständliches Bekenntnis zu Berufsnormen, entdecken andere einen Verrat an genau diesen, eine Aufforderung zu Gesinnungsjournalismus, zu politischem Aktivismus statt distanzierter journalistischer Professionalität. Tatsächlich lässt sich im Fachdiskurs beobachten, wie Experten immer lautstarker gegen Ausgewogenheitsnormen argumentieren (›False Balance‹) und für klare normative Positionsbezüge (›Moral Clarity‹). Die Bewegung des ›konstruktiven Journalismus‹ möchte mehr als nur Probleme diagnostizieren, sie will Lösungsvorschläge unterbreiten. Vor allem jüngere Journalisten sehen nicht nur kein Problem, sondern gar eine Notwendigkeit darin, politische Anliegen wie den Klimaschutz oder die Flüchtlingsaufnahme zu unterstützen.
Wenn aber der Journalismus Distanz fallen lässt und Position bezieht, dann stellt sich die Frage: Wo genau findet sich diese Position? Wie tickt der Journalismus, welche Anliegen unterstützt er, welche lehnt er ab? Wo endet Journalismus, und von welchem Punkt an wechselt ein Journalist auf die ›Gegenseite‹, wird de facto Öffentlichkeitsarbeiter und PR-Experte, der bestimmte Anliegen, Persönlichkeiten oder Organisationen fördert?
Die Journalismusforschung bietet viele wertvolle Erkenntnisse zu Berufsnormen. Alle paar Jahre mal wird auch mit Hilfe von Umfragen gezeigt, welche politischen Parteien unter Journalisten mehr oder weniger populär sind. Doch insgesamt wissen wir erstaunlich wenig über die politischen Orientierungen im Journalismus, wie sie die berufliche Selbstselektion beeinflussen, redaktionelle Prozesse lenken, Machtdynamiken in Redaktionen prägen und am Ende in das journalistische Produkt einfließen. Dies gilt insbesondere für den Liberalismus und die Liberalität von Journalisten.
Zwischen allen Stühlen
Die ›Moral Foundations Theory‹ besagt, dass sich moralische Urteile letztlich auf wenige fundamentale Werte reduzieren lassen. Diese Werte stellen so etwas wie Achsen dar, die je zwei Ausprägungen aufweisen können. Fünf solche grundlegende Werte-Achsen wurden durch die Autoren rund um den Psychologen Jonathan Haidt identifiziert: Fürsorge/Schaden, Gerechtigkeit/Betrug, Autorität/Subversion, Reinheit/Zersetzung und Loyalität/Verrat. Individuen können es demnach als mehr oder weniger geboten empfinden, sich um Schwächere zu kümmern, Regelverstöße zu ahnden, Autoritäten zu gehorchen, Errungenschaften vor Verunreinigungen zu bewahren oder die eigene Gruppe zu unterstützen. Entlang dieser Werte-Achsen lassen sich die herkömmlichen dichotomen politischen Lager der ›Progressiven‹ und ›Konservativen‹ oder der ›Linken‹ und der ›Rechten‹ relativ gut differenzieren: Progressive legen mehr Wert auf Fürsorge, Konservative eher auf Reinheit und Loyalität.
Nach der Veröffentlichung der Theorie erhielten ihre Urheber immer wieder verärgerte Rückmeldungen einzelner Unzufriedener, die monierten: wirklich entscheidend sei doch eigentlich die Frage, ob soziale Beziehungen von Freiwilligkeit oder Zwang geprägt sind. Wo aber finden sich diese Werte im Fünfer-Kanon? Haidt stellte fest: Der ›Moral Foundations Theory‹ fehlt ein Fundament, die Freiheit. Und siehe da, nach der Einführung einer sechsten Werte-Achse (Freiheit/Unterdrückung) zeigten Erhebungen auf einmal ein drittes politisches Lager, das sich abhebt von den Linken und den Rechten – die Liberalen.
Es ist das beständige, frustrierende Schicksal der Liberalen, dass sich das mentale Modell der zwei politischen Lager – ›Rechte‹ gegen ›Linke‹ – so tief ins kollektive Bewusstsein (und in diverse politische Systeme) eingebrannt hat, dass diese simple, eindimensionale Differenzierung des politischen Spektrums die öffentliche Debatte, die sozialwissenschaftliche Forschung und selbst das politische Denken der Bürgerinnen und Bürger dominiert.
Doch wo auf einer simplen Links-Rechts-Skala finden sich die Liberalen? In der Mitte etwa? Dort wollen bekanntlich alle stehen. Eher »zwischen allen Stühlen«, wie Marion Gräfin Dönhoff so treffend und unverwechselbar feststellte. Dies gilt auch für parteipolitische Konstellationen: Eine Partei wie die FDP sah sich etwa vor der Bundestagswahl 2021 aufmerksamkeitsökonomisch doppelt benachteiligt – als eine von vier Oppositionsparteien, die per se im Vergleich zu den Regierenden im Aufmerksamkeits-Abseits stehen. Und dann noch ›eingerahmt‹ von weiteren Parteien im Oppositionslager, die lautstärker und populistischer daherkommen und schon deshalb mehr Medienresonanz erzielen. Andererseits sind liberale Positionen für Journalisten oftmals lästig, weil kompliziert, abwägend und nicht in einfache Links-Rechts-Muster zu pressen (allen ›AFDP‹-Vorwürfen zum Trotz).
Der liberalen Selbstverortung wäre bereits geholfen, wenn statt der ein- eine zweidimensionale politische Landkarte gezeichnet würde, die etwa die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik differenziert. Denn dann findet sich neben den wirtschaftspolitisch moderaten, gesellschaftspolitisch konservativen ›Rechten‹ und den wirtschaftspolitisch konservativen, aber gesellschaftspolitisch progressiven ›Linken‹ auf einmal auch ein Feld für die gesellschafts- und wirtschaftspolitisch Progressiven – für jene eben, die Freiheit in privaten und wirtschaftlichen Belangen maximieren wollen, die Liberalen.
Empirische Erhebungen zeigen allerdings auch: dieser politische Quadrant ist dünn besiedelt. Es ist in aller Regel und in den meisten westlichen Gesellschaften eine relativ kleine Minderheit, die sich tatsächlich durch konsistente Freiheitsliebe in allen Dimensionen zwischen die Stühle setzt und sich gegen Bevormundung wehrt.
Diese quantitative Schwäche – meist auch liberaler Parteien – steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zur Durchschlagskraft liberaler Ideen, Analysen und Instrumente. Die westliche Geistesgeschichte ist durchdrungen von liberalen Ideen, die maßgeblich politische Institutionen prägten und prägen – bis hin zum Journalismus. Das wirft auch für Medien und Journalismus die Frage auf: Sind Liberalismus und Liberalität im Berufsfeld nun allgegenwärtig, in Form von Normen, Regeln, Institutionen und die Meinungs- und Pressefreiheit sichernden Grundwerten? Oder sind gelebter Liberalismus und Liberalität unter Journalisten eher ein kleines Minderheitenphänomen?