Buch lesen: «Zeitstrukturen»

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Inhaltsverzeichnis

ThPQ 169 (2021), Heft 1

Schwerpunktthema:

Zeitstrukturen

Susanne Gillmayr-Bucher

Liebe Leserin, lieber Leser!

Reinhold Esterbauer

Warum brauchen Menschen strukturierte Zeit? Bemerkungen zu einer leibzeitlichen Anthropologie

1 Chronometrische Zeit und leibliche Eigenzeit

2 Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Zeit

3 Strukturen innerer und äußerer Zeit

4 Strukturen interpersonaler Zeit

Jürgen P. Rinderspacher

Zeiten fallen nicht vom Himmel. Akteure und Modalitäten moderner Zeitstrukturierung im epochalen Wandel

1 Die Macher und die Macht der Zeit

2 Zeitordnungen und Rechtfertigungsordnungen

3 Wer macht die Zeit? Strukturwandel der Zeitstrukturierung

4 Nachmoderne Zeitlichkeit als Zeitwettbewerb

Angelika Berlejung

Wie wird Zeit in den Kulturen des Alten Orients strukturiert?

1 Die Struktur der Zeit in Zyklen

2 Die Strukturierung der Zeit in lineare Sequenzen

3 Qualitative Zeitstrukturen

4 Fazit

Esther Jonas-Märtin

Über Paläste in der Zeit – oder wie Zeit heilig wird

1 Woher kommt die Zeit?

2 Die Mizwot

3 Kewa versus Kawanah

4 Fazit

Stephan Wahle

Freiraum Fest. Chancen und Notwendigkeiten der Unterbrechung von Zeit

1 Kursorische Beobachtungen zur Fastenzeit in der Corona-Krise

2 Zwischenschritt: Konzepte der Muße

3 Der Sonntag als Tag zur Verräumlichung der Zeit

4 Fazit

Clemens Leonhard

Ostern und Weihnachten: Erzählte Entstehung christlicher Zeitstrukturen

1 Allgemeine Beobachtungen

2 Weihnachten

3 Ostern

4 Konkurrenz

5 Umfüllen von Festkalendern

Abhandlungen

Kurt Kardinal Koch

Wie steht es um die christliche Zukunft Europas? Reflexionen zu Europas geistiger Identität

1 Befindet sich Europa heute noch auf seiner Höhe?

2 Die christlichen Werte in der Identität Europas

3 Wert oder Würde: die moderne Gretchenfrage

4 Neuzeitliche Säkularisierung und ökumenische Verantwortung in Europa

5 Positive Laizität gegen säkularistischen Laizismus

Christian Spieß

Liebe und Brüderlichkeit statt Menschenrechte und Gerechtigkeit? Papst Franziskus legt mit Fratelli tutti eine neue Sozialenzyklika vor

1 Unklare theologisch-ethische Systematik

2 Prophetische Sozialkritik: Migration

3 Kleinkarierte Wirtschaftstheorien

4 Kein gerechter Krieg mehr

5 Inklusion und Dialog

6 Die Kirche als Gegenstand der Sozialethik?

Albert Biesinger

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

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Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

Versuche, mithilfe von Zeitvorstellungen gesellschaftlichen Erfahrungen eine Ordnung zu geben, finden sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Da sich die Zeit von Menschen nicht sinnlich erfassen lässt, orientiert sich das Reden von der Zeit an Veränderungen, wie beispielsweise dem rhythmischen Wechsel von Tag und Nacht, den Mondphasen oder den Jahreszeiten einerseits und der als linear fortschreitend erfahrenen Lebenszeit andererseits. Damit ist jeder Versuch, Zeit zu strukturieren, vor die Aufgabe gestellt, beide Systeme, das zyklische und das lineare, miteinander zu verbinden.

In unserer modernen Welt ist vor allem die lineare und exakt messbare Dimension von Zeit von großer Bedeutung, ermöglicht sie doch die Koordination des komplexen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens. „Zeitmanagement“ ist für uns alle eine wichtige Aufgabe, gleichgültig, ob im Familienkreis oder in einer großen Institution. Parallel dazu ist unsere Zeit von einem regelmäßig wiederkehrenden Wechsel von Arbeits- und Freizeit, Alltags- und Festzeiten geprägt, dessen allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz zwar immer wieder in Zweifel gezogen wird, der aber für bestimmte, vor allem auch religiöse Gemeinschaften nach wie vor eine große Bedeutung hat. Zeit wird in diesen Rhythmen nicht nur als eine begrenzt verfügbare Ressource verstanden, sondern als Möglichkeitsraum der Entfaltung menschlichen Lebens.

Rose Ausländer thematisiert das in ihrem Gedicht „Sich ausleben“. Sie dreht dabei jedoch die uns vertraute Redeweise von der Nutzung der Zeit um. Vielmehr lässt sie die Zeit als Akteurin auftreten, die über das angesprochene Du verfügt. Damit tritt nicht nur ihre Bedeutung, sondern – wenngleich implizit – die Aufforderung umso deutlicher hervor, die verfügbare Zeit bewusst zu leben.

Sich ausleben

Die Tage / zählen dich / zu ihren Bewohnern

Sie räumen dir / Stunden ein

In ihnen / lebt deine Zeit / sich aus

In vorliegendem Heft wollen wir der Frage nachgehen, auf welche Art und Weise und mit welchen Zielen Gesellschaften und religiöse Gemeinschaften von der Antike bis in die Gegenwart Zeit ordnen, strukturieren und als sinnstiftend bestimmen.

Der erste Beitrag von Reinhold Esterbauer geht ganz allgemein der Frage nach, warum Menschen eine strukturierte Zeit brauchen. In vier Schritten, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Zeit und ihrer Erfahrung beleuchten, wird diese Frage beantwortet. Dabei werden die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Konventionen und individueller Lebenszeit, objektiver Festlegung der Zeit und subjektivem Erleben ebenso besprochen wie Herausforderung, die jedem Menschen gestellt ist, das eigene Leben und damit die je eigene Zeit zu gestalten.

Jürgen P. Rinderspacher beschäftigt sich im Anschluss daran mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Zeit, sowohl den religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Institutionen, die diese festlegen, als auch deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und die einzelnen Menschen. Der Beitrag stellt drei Modelle und ihre jeweiligen Begründungs- und Rechtfertigungsstrategien vor – beginnend beim autoritären Strukturierungsmodus, der lange Zeit die soziale und kulturelle Entwicklung bestimmte, über den marktlich-technologisch-administrativen bis hin zum nachmodern-subjektbezogenen Modus.

Einen großen Schritt zurück in die Vergangenheit führt uns der Beitrag von Angelika Berlejung. Sie zeigt am Beispiel verschiedener Kulturen des Alten Orients, welche Funktionen zyklische, lineare und qualitative Zeitstrukturen für diese Gesellschaften hatten und welche Bedeutung ihnen zugesprochen wurde. Eine besondere Rolle kommt religiösen Symbolsystemen zu, in denen Zeitstrukturen gründen und innerhalb derer sie theologisch begründet und gedeutet werden.

Der folgende Beitrag von Esther Jonas-Märtin bietet einen Einblick in jüdische Zeitvorstellungen und blickt dabei sowohl auf Definitionen von Zeit als auch auf Inhalte, die dem Judentum wichtig sind. Die Betrachtungen beginnen beim Schöpfungsbericht und der darin bereits grundgelegten Unterscheidung zwischen profanem Alltag und heiliger Zeit im Sabbat, die anschließend auch bei den Überlegungen zum Kalender wichtig ist. Mit Blick auf inhaltliche Aspekte geht der Beitrag ausführlich auf die Funktion der Mizwot (Gebote) für die bewusste Gestaltung der Zeit ein. Ebenso bespricht sie die Grundhaltungen von Kewa (Routine) und Kawanah (Achtsamkeit), welche der strukturierten Zeit eine sinnstiftende Dimension verleihen.

Die in den ersten Beiträgen bereits wiederholt angesprochene Bedeutung und Rolle der Feste steht im Mittelpunkt der zwei nächsten Beiträge. Stephan Wahle nähert sich dem Thema Fest in vier Schritten. Ausgehend von aktuellen Beobachtungen zur Fastenzeit unter den Bedingungen der Pandemie wendet sich der Beitrag der Muße als einer Zeitform zu, über die jemand ohne zeitliche Zwänge selbstbestimmt verfügen und die zu einem sinnerfüllten Erfahrungsraum werden kann. Konkretisiert werden diese Überlegungen am Beispiel des Sonntags und seiner Bedeutung für heute.

Am Beispiel der beiden Feste Weihnachten und Ostern reflektiert Clemens Leonhard die Tragweite der Festlegung von Daten für Feste. Der Beitrag zeigt zum einen, welche Rolle die Erzählungen von der Geschichte der Feste spielen, zum anderen beleuchtet er die Argumente jener gesellschaftlichen Gruppen, die einen Festtermin bestimmen und sich unter Umständen gegen die Interessen anderen Gruppen durchsetzen können.

Das vorliegende Heft wird durch zwei weitere Beiträge abgerundet. Kurt Kardinal Koch wendet sich der Frage zu, wie es um die christliche Zukunft Europas bestellt ist. Fußend auf einem Zitat Franz Kardinal Königs, in dem die Wichtigkeit der geistigen Fundamente Europas hervorgehoben wird, begibt sich dieser Beitrag auf die Suche nach der „Seele Europas“. Er schließt mit einem Plädoyer dafür, dass Religion weiterhin ein öffentliches Thema in Europa bleibt, das nicht ganz ins Private abgedrängt werden darf.

Christian Spieß beschäftigt sich eingehend mit „Fratelli tutti“, der neuesten Sozialenzyklika von Papst Franziskus und nimmt diese kritisch in den Blick. Das Dokument, das die geschwisterliche Liebe und soziale Freundschaft als theologisch-ethisches Motiv in den Mittelpunkt stellt, erweckt insgesamt eher den Eindruck einer prophetischen Sozialkritik als einer systematischen, theologisch-ethischen Auseinandersetzung. Am Beispiel der Themen: Migration, Wirtschaftstheorien, Krieg und Inklusion erläutert der Beitrag die Stärken und Schwächen dieser Enzyklika.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Die unterschiedlichen Einblicke in Zeitstrukturen, ihre Bestimmung und Bedeutung zeigen, wie wichtig dieses Thema für das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist. Umgekehrt erlaubt dieser Blick auf die Zeit auch einen Einblick in das Selbstverständnis einer Gesellschaft, einer Religionsgemeinschaft und ihrer komplexen Orientierungssysteme.

Ihre

Susanne Gillmayr-Bucher

(für die Redaktion)

Reinhold Esterbauer

Warum brauchen Menschen strukturierte Zeit?

Bemerkungen zu einer leibzeitlichen Anthropologie

♦ Um zu einem adäquaten Verständnis von Zeit zu gelangen, wollen auch die Wechselseitigkeit von chronometrischer Zeit und leiblicher Eigenzeit sowie interpersonale Zeit reflektiert werden. In dieser Reflexion nimmt die Bedeutung der Zeitekstasen von Vergangenheit und Zukunft durch den eigenen Leib zu. Dabei wird eine auch anthropologisch bedeutsame Diskrepanz zwischen einer objektiven Seite und einer subjektiven Seite der Zeit sichtbar. Diese Wechselseitigkeit macht eine Vorstellungsumkehr der Zeit als eines objektiven Gegenübers hin zu einem personalen Zugang als eigener Zeit wichtig und notwendig. Trotz methodischer Umkehr bleiben aber praktische Herausforderungen dieser Wechselwirkung von objektiver und subjektiver Zeit im Leben des Einzelnen präsent, die nicht nur gestaltet werden können, sondern die auch gestaltet werden müssen. (Redaktion)

In seinem Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ erzählt Christoph Ransmayr vom Londoner Uhrmacher Alister Cox, der an den Hof des chinesischen Kaisers Qiánlóng eingeladen wird, um dort mit seinen britischen Gehilfen außergewöhnliche Zeitmesser zu konstruieren. Er steht schließlich nicht nur vor der schier unlösbaren Aufgabe, eine Uhr zu bauen, welche die Ewigkeit messen soll, sondern befindet sich auch vor dem zentralen Problem, vergehende Zeit in den Griff zu bekommen. Cox soll qualitativ gänzlich unterschiedliche Zeiten messbar machen – etwa die Zeit des Glücks, die Zeit der Liebe oder jene des Todes, wiewohl deren personale Dimensionen sich gerade nicht messen lassen. Anfänglich meint er noch, dass er nur die Geschwindigkeit des Vergehens von Zeit zu verändern brauche, um die Uhren auf qualitativ unterschiedliche Lebensphasen einzustellen, er merkt aber bald, dass es damit nicht getan ist.1 Cox steht nämlich vor dem Rätsel, ob Zeitqualität überhaupt messbar ist, noch dazu, da sie für jeden Menschen etwas anderes bedeutet.

Wenn man darüber nachdenkt, warum Menschen eine strukturierte Zeit brauchen, steht man vor einem ähnlichen Problem wie Alister Cox. Denn einesteils wird Zeit meist mit der Hilfe von Uhren strukturiert, andernteils aber scheint sich das Ordnen von Zeit nicht darin zu erschöpfen.

Die folgenden Überlegungen möchten dieser Diskrepanz nachgehen und sowohl anthropologisch als auch ontologisch differente Zeitebenen aufspüren. Die zugrundeliegende These wird sein, dass es für ein adäquates Verständnis von Zeit nicht genügt, sich chronometrisch auf sie zu beziehen, sondern dass auch leibliche Eigenzeit und interpersonale Zeit für ihre Strukturierung maßgeblich sind.

1 Chronometrische Zeit und leibliche Eigenzeit

In sehr vielen Bereichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen bleibt Zeit un­thematisch. Was man gewöhnlich als selbstverständlich erachtet, wird nur selten zum Thema und gibt Anlass, darüber nachzudenken – z. B. wenn es um Arbeits- und Urlaubszeiten, Jubiläen oder Zeitmessung im Sport geht. Am augenfälligsten scheint Zeit zunächst an Dingen in Erscheinung zu treten, die es erlauben, sie zu messen. Uhren und Chronometer zeigen die Zeit an und machen sie besonders spürbar, wenn man beispielsweise entweder in Bedrängnis gerät, weil eine Frist viel zu früh verstreicht, oder man im Gegenteil Langeweile empfindet, wenn Zeit nicht vergehen will.

Die Zeit, die Uhren anzeigen, gilt als objektiv, weil man sie messen und verallgemeinern kann. Wenn man Fahrpläne erstellt, damit alle wissen, wann ein Zug abfährt oder ankommen soll, oder Termine vereinbart, damit man nicht lange warten muss, bis eine Verhandlung oder ein Gespräch beginnen kann, verwendet man Zeit gewöhnlich chronometrisch. Charakteristisch für solche Zeit ist zweierlei: Damit das Zusammenleben funktionieren kann, braucht es zum einen Regelungen dafür, welche Einheit zur Zeitmessung verwendet werden soll und welchem Zeitsystem man sich unterwerfen will. Dies führt etwa die aktuelle Debatte über die Verwendung von mitteleuropäischer Zeit oder mitteleuropäischer Sommerzeit2 deutlich vor Augen. Gelingt keine Einigung, verschiebt sich Zeit nicht nur beim Überschreiten von Zeitzonen, sondern bereits, wenn man innerhalb derselben Zeitzone eine Staatsgrenze passiert. Chronometrische Zeit verlangt in jedem Fall Konventionen und Übereinkünfte, damit sie ihren Zweck erfüllen kann.

Zum anderen geht es um technische Präzision. Besitzen Uhren nämlich keine Ganggenauigkeit, zeigen sie im Vergleich unterschiedliche Zeiten an und erlauben die Synchronisierung von Tätigkeiten oder Treffen nicht mehr oder nur mehr ungenau. Daher ging es in der Entwicklung von Uhren auch darum, die Hemmungen zu verbessern und die Uhren dadurch genauer werden zu lassen, dass man die Frequenz der Bewegungen, von denen Zeit abgenommen wurde, erhöhte – vom Pendel über die Unruhe und die Stimmgabel bis zu Quarz- und Atomschwingungen.

Mit der Hilfe von Chronometern und der ihnen zugrundeliegenden objektiven Zeit gelingt es, Geschwindigkeiten zu messen, Abläufe zu strukturieren, Vorgänge zu normieren und menschliches Zusammenleben zu organisieren. Solch objektiver, äußerer Zeit steht allerdings eine andere Form von Zeit gegenüber, nämlich subjektive Zeit. Es handelt sich dabei um die Eigenzeit einer menschlichen Person. Lebensgeschwindigkeiten, einzelnes Zeitempfinden oder körperliche Rhythmen sind unterschiedlich und entsprechen nicht einer universalen Norm, die für alle gelten würde. Darüber hinaus weist subjektive Zeit jeweils unterschiedliche Dauer und Qualität auf. Empfinden die einen eine bestimmte Zeit als langweilig oder leer, kann dieselbe Zeit für andere erfüllt oder aufregend sein. So ist es möglich, dass die scheinbar qualitätslose Zeit, wie sie von Uhren gemessen wird, unterschiedliche Güte aufweist, wenn etwa ein bestimmter Zeitpunkt für den einen ein Moment des Glücks gewesen ist, während er für die andere großes Leid gebracht hat. Da zwar Quantitäten, aber nicht Qualitäten mit der Hilfe von Uhren gemessen werden können, liegt die Behauptung nahe, zu quantifizierbarer, chronometrischer Zeit erst dadurch zu gelangen, dass man von deren Qualität abstrahiert, beziehungsweise eine allgemeine und einheitliche Zeit nur erhält, wenn man individuelle Unterschiede qualitativen Zeiterlebens ausblendet.

Differenzen in der Zeitauffassung zeigen sich allerdings nicht nur, wenn man sein Interesse auf Zeitquantitäten und -qualitäten lenkt, sondern auch, wenn man untersucht, wo Zeit ihren Ursprung hat. Edmund Husserl versuchte in seinen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ zu zeigen, dass eine zeitliche Ordnung dadurch entsteht, dass äußere Sinneseindrücke das Bewusstsein zunächst unmittelbar affizieren, dann aber im Bewusstsein allmählich absinken und schließlich in Vergessenheit geraten. Allerdings ist es dem Bewusstsein möglich, ehemalige und später verblasste „Urimpressionen“ in die Gegenwart zurückzuholen, indem es sich intentional auf sie bezieht und sie in Erinnerung ruft. Die in solcher „Retention“ wieder aufgenommenen Eindrücke sind nicht mehr so lebhaft wie Urimpressionen, können aber als erinnerte neuerlich gegenwärtig oder in Präsenz gehalten werden.3 Wäre dies nicht möglich, könnte man etwa ein Musikstück nicht als zusammengehörig erleben, da sonst verklungene Töne mit unmittelbar erklingenden in keinem Zusammenhang mehr stünden.4 Auf ähnliche Art und Weise kann das Bewusstsein nach Husserl durch „Protentionen“ Zukünftiges als Erwartung in die Gegenwart holen und ihm dadurch Bedeutung verleihen.5 Wie man sieht, gelingt es dem Bewusstsein auf diese Weise, Eindrücke nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu ordnen und ihnen eine zeitliche Struktur zu geben.

Zu fragen bleibt allerdings, ob zeitliche Ordnung einzig und allein über das Bewusstsein hergestellt wird. Dieses ist nicht zeittranszendent, sondern agiert selbst in der Zeit. Denn ein Bewusstsein ist immer dasjenige eines konkreten Menschen, der sich in einer bestimmten Phase seiner Biografie befindet und immer ein bestimmtes Alter aufweist, über das zu verfügen ihm nicht gelingt. Das eigene Altern ist nämlich offenbar nicht das Ergebnis aktiver Bewusstseinssynthesen, sondern unterliegt in erster Linie „passiver Synthesis“6, kann also weder bewusst gesteuert noch ausgesetzt oder rückgängig gemacht werden. Vielmehr ist es – wenn auch nicht in chronometrischer Genauigkeit – am Leib der jeweiligen Person ablesbar. Der Leib repräsentiert die Zeit, die jemand durchlebt hat und deren Spuren er trägt, von den Narben über die Falten und Furchen bis hin zu Veränderungen in der Haltung, der Abnahme von Kraft oder zu physiologischen Differenzen im Vergleich zu früher. Der eigene Leib ruft die eigene Geschichte nicht ins Bewusstsein, sondern repräsentiert insofern die eigene Vergangenheit, als er Erlebtes und Durchlittenes physisch sichtbar macht. Die persönliche Geschichte hat sich in ihm sedimentiert, sodass er die eigene Vergangenheit gleichsam selbst ist.

Darüber hinaus bringt der Leib analog zu Retentionen des Bewusstseins Vergangenes in die Gegenwart, allerdings nicht so, dass es ins Bewusstsein geholt würde, sondern z. B. eingeübte Abläufe oder Routinen vorbewusst vollzogen werden. Nachdem sie erlernt worden sind, können diese ohne Nachdenken durchgeführt werden bzw. laufen wie von selbst ab, etwa wenn man das Tippen auf einer Tastatur beherrscht, sich im Tanzen der Musik überlassen kann oder nicht mehr überlegen muss, wie man ein Auto lenkt.7 Aber auch leibliche Protentionen werden ständig vorbewusst vollzogen, sofern etwa wie von selbst vorweggenommen wird, wie man seinen Gang auszutarieren und fortzusetzen hat, wenn der Weg plötzlich abfällt oder ansteigt. Dass dabei auch Fehler unterlaufen können, wird sichtbar, wenn man stolpert oder kurz aus dem Gleichgewicht gerät.8

Die erwähnten Beispiele zeigen, dass Zeit nicht nur mit Hilfe des Bewusstseins strukturiert wird, sondern dass sich die Zeitekstasen von Vergangenheit und Zukunft auch durch den eigenen Leib entfalten. Leibgedächtnis9 und leibliche Antizipationen spannen einen Zeithorizont auf, der logisch vor der Konstitutionsleistung des Bewusstseins angesiedelt ist und unabhängig von diesem Bestand hat. Im Unterschied zu objektiver Zeit, die von außen an einen herangetragen wird und gemessen werden kann, ist die Zeit, die der eigene Leib aufspannt, eine Form subjektiver und innerer Eigenzeit. Dazu gehören auch körperliche Rhythmen wie jener des Herzens oder zirkadiane Rhythmen wie etwa die Abfolge von Wachen und Schlafen.

€9,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783791761985
Rechteinhaber:
Bookwire
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