Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 30/31

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Hans-Ernst Schiller

Das Individuum bei Freud und die Macht der Kollektive

»Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten […].«

Adorno, Erziehung nach Auschwitz

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Freud, nicht mit der Psychoanalyse. Einige der diskutierten Gedanken Freuds dürften heute nur noch von wenigen Analytikern verteidigt werden. Dennoch glaube ich, dass die nachfolgenden Überlegungen mehr als ein historisches Interesse beanspruchen können. Ihr Ausgangspunkt ist die These, dass Freud eine bedeutende und positive Rolle in dem vieldeutigen und widersprüchlichen Prozess der modernen Individualisierung gespielt hat.1 Gleichwohl gelangt er immer wieder an Punkte, an denen er die Individuen Kollektiven unterordnet, die als bloße Natur, nämlich als Abstammungsgemeinschaften, bestimmt werden. Um diesen prima facie widersprüchlichen Sachverhalt zu verstehen, reicht es nicht aus, auf die Gedankenatmosphäre jener Zeit oder auf Freuds politische oder persönliche Einstellungen zu verweisen. Die Frage muss vielmehr lauten, welche theoretischen Voraussetzungen in eine solche Zwiespältigkeit treiben. Nach meiner Vermutung spielt der Hegemonieanspruch der Psychologie gegenüber Ethik und Gesellschaftstheorie eine Schlüsselrolle. Stößt er auf seine Grenzen, können diese nicht mehr in Richtung einer kritischen Gesellschaftstheorie überschritten werden, sondern nur noch, auf dem Weg über die Frühgeschichte, hin zur Biologie als Vererbungslehre.

1. Psychologie des Individuums

Ausgangspunkt für die Psychoanalyse als therapeutische Wissenschaft ist die neurotische Individualisierung, die Individualisierung durch ein Symptom, das den Einzelnen von normalen und gemeinsamen Betätigungen, z. B. erotischer Natur, ausschließt und zum Sonderling macht. Bei solchen Absonderlichkeiten handelt es sich nicht um freie Selbstbestimmungen, sondern um Determinierungen, deren sich das Individuum nicht bewusst ist. Es muss sich mit sich selbst beschäftigen, seinen Träumen, seinen Assoziationen, seiner Lebensgeschichte. Wenn es gelingt, den unbewussten Konflikt, der seine Wurzeln in der frühen Kindheit hat, bewusst zu machen, wird es möglich, einen annehmbaren, im Rahmen der allgemeinen kulturellen Anforderungen ›normalen‹ Grad an sozialer Integration, an Arbeits- und Liebesfähigkeit zu erreichen.

In Totem und Tabu definiert Freud die Psychoanalyse als »Erforschung des unbewussten Anteils am individuellen Seelenleben«.2 Das lebensgeschichtlich Unbewusste, das bewusst war und verdrängt wurde, ist ein individuelles Unbewusstes, entstanden aus erotischen Konflikten. Diese Konflikte freilich und ihre Darstellung in Symbolen und Symptomen sind ein Allgemeines. Wie die neuzeitliche Naturwissenschaft beansprucht die Freud’sche Psychoanalyse, allgemein gültige Sätze, nämlich Gesetze der psychischen Entwicklung, aufgrund empirischer Beobachtung, also durch Induktion, aufzustellen. Nun kommt es Freud nicht nur darauf an, das Allgemeine im Individuellen wiederzuerkennen, sondern umgekehrt, die allgemeine Einsicht in die Mechanismen der Verdrängung, der Symbolisierung, der Formen des Sexuellen etc. als Heuristik für die Vergegenwärtigung des Dramas zu gebrauchen, das sich in der Geschichte gerade dieses Individuums zugetragen hat. Wenn Freud gesteht, wie seltsam ihn berührt, dass sich seine Fallgeschichten wie Novellen lesen,3 bestätigt dies den individualisierenden Charakter der Psychoanalyse als Wissenschaft. Vielleicht kann man wissenschaftsgeschichtlich sogar sagen, dass der Kranke in seiner Krankheit erst jetzt zum Individuum wird: Seine Symptome sind nicht nur eine abspaltbare Sache der Klassifikation, sondern in seinem Erleben verwurzelt. Deshalb ist, wie Anna Freud festhält, die Anwendung der allgemeinen Symbolsprache nicht ausreichend, um das Verständnis des Individuums zu vertiefen.4 Deshalb ist es auch im Allgemeinen unmöglich, einen Traum zu deuten, wenn der Träumer nicht seine Assoziationen zur Verfügung stellt (vgl. II, 247). Gelangt man zum Verständnis des Individuums, kann der in einem Symptom kompromisshaft stillgestellte Konflikt auch wieder aufgelöst und können seine Antriebe wieder in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden. Für das Hilfe suchende Individuum stellen die Entwicklung der analytischen Therapie und ihre gesellschaftliche Anerkennung einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt dar: Die Ernsthaftigkeit und Ausdauer, mit der sich zwei Menschen um eine Lebensgeschichte bemühen, damit der Freiheitsspielraum des Leidenden erweitert wird, kann eine wahrhaft humane Veranstaltung sein, die freilich auch einen unglaublichen Luxus darstellt.

Freud hat sein Publikum mit der Nachricht gereizt, dass wir genau genommen alle Neurotiker sind (vgl. I, 350). Nicht zuletzt deshalb kann uns das Studium der »Absonderlichkeiten« die wertvollsten Aufschlüsse über das Seelenleben im Allgemeinen liefern. Die Grundmuster der Pathogenese gelten auch für das »normale« Leiden des Individuums (eigentlich ein Leiden, das ein nur subjektiv bestimmbares Maß an Unerträglichkeit und dysfunktionaler Wirkung noch nicht überschritten hat). Auch das Verständnis dieses »normalen« Leidens verlangt die Hinwendung zur inneren Welt des Individuums und ihrer Geschichte. In einer Alltagskultur, die von psychologischer Theorie imprägniert ist, gewinnt das Nachdenken über sich selbst, im Idealfall der lebenslange Kontakt mit den eigenen Antrieben, eine überragende Bedeutung. Kein Zweifel: Die Psychoanalyse hat die Individualisierung, verstanden als Kultur der inneren Welt, entscheidend gefördert.

2. Allgemeines und individuelles Subjekt

Nach Eli Zaretsky ist die Freud’sche Psychoanalyse die erste Theorie und Praxis des persönlichen Lebens, eines Lebens jenseits der gesellschaftlichen Stellung in Beruf und Familie,5 und damit wegweisender Ausdruck dessen, was er die zweite Moderne nennt. Während die erste Moderne, das Zeitalter der Aufklärung, das Subjekt als den Sitz der universellen Vernunft betrachtete, sieht die zweite Moderne das Subjekt als konkrete Person, die, ausgestattet mit einem einzigartigen Innenleben, historisch situiert ist. Repräsentativ für die erste Moderne ist das philosophische Denken, repräsentativ für die zweite die Psychoanalyse.

Freud könnte über eine solche Einteilung durchaus erfreut gewesen sein. Den Gegensatz zur Philosophie hat er oft betont, nicht nur im Zusammenhang seiner Theorie des Unbewussten, die, wie er sehr wohl selbst wusste, in den Philosophen Schopenhauer und Nietzsche unmittelbare Vorläufer hatte (vgl. XIV, 86). Trotz einiger Verneigungen vor approbierten Größen wie Platon und Kant ist der Ton, wenn es gegen »die Philosophen« geht, eher verächtlich bis hin zur Feststellung einer Verwandtschaft zu den Schizophrenen, bei denen sich das Wort von der Sachvorstellung ablöst und als eigenes Wesen erscheint (vgl. III, 162). Hauptkritikpunkt ist der angeblich weltanschauliche Charakter »der Philosophie«, das Bedürfnis, für alles eine lückenlose Erklärung zu finden (vgl. VI, 241). Im Bestreben, die oft nur künstliche Isolation verschiedener Wissensgebiete zu überwinden, hat Freud kein genuin philosophisches Motiv erkannt, und an Kritik als Form philosophischen Denkens hat er zuverlässig nicht gedacht.

Die Abwertung philosophischer Ethik scheint ein besonderes Anliegen von Freud gewesen zu sein. Während sich die Psychoanalyse als moralisch wertfreie Wissenschaft präsentiert,6 erscheint die Ethik als Predigt, also eine letztlich religiöse Veranstaltung, aber sie predigt vergeblich (vgl. IX, 268). Die von Freud beanspruchte Entdeckung eines Triebs zur Selbstdestruktion, der nur durch die Wendung der Aggression nach außen in Schach gehalten werden könne, »sei gewiss eine traurige Eröffnung für den Ethiker.«7 Modelle einer gegenüber der Religion selbständigen Ethik scheinen Freud nicht zu interessieren, denn wo er sie erwähnt, geraten sie zur Karikatur: Kants kategorischer Imperativ wolle, wie das prähistorische Tabu, zwangsartig wirken und lehne jede bewusste Motivierung ab (vgl. IX, 292). Ein angemessenes Verständnis der philosophischen Idee der Autonomie sieht zweifellos anders aus. Moralische Einsicht ist für Freud im Wesentlichen Einsicht in eine äußere Notwendigkeit. Keine Zivilisation ohne Inzesttabu, keine Sicherheit ohne Rechtssystem, kein Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft ohne Partizipation der unteren Klassen an den Errungenschaften der Kultur, kein Überleben der Gattung bei fortgeschrittener Technik ohne Frieden.

Die vollständige Fremdheit Freuds gegenüber der klassischen Idee von Autonomie verweist auf den bemerkenswerten Bedeutungswandel, der sich mit diesem Begriff zugetragen hat. Für Philosophen wie Kant war Autonomie im wörtlichen Sinne Selbstgesetzgebung. Wonach der Einzelne sich in seiner Lebensführung und in jeder seiner Handlungen richten soll, muss verallgemeinerbar sein. Er selbst ist aufgerufen zu beurteilen, ob er in seinem Tun Allgemeinheit verwirklicht. Umgekehrt müssen die faktisch geltenden Normen der Moral und des Rechts vom Individuum in ihrer Geltung geprüft und eingesehen werden können. Gegenüber diesem moralphilosophischen Begriff von Autonomie hat sich ein alltagspragmatischer entwickelt, mit dem oft nicht mehr gemeint ist, als im privaten Bereich seine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Zaretsky spricht von »persönlicher« Autonomie, was in Abgrenzung von der universellen Moral paradox erscheinen muss, denn vom Ende der Antike bis heute ist der Begriff der Person mit der Vernunftfähigkeit verbunden und Vernunft ist das Organ des Allgemeinen. Besser wäre von einer lebensgeschichtlichen Autonomie zu sprechen, einer selbst bestimmten oder gewählten Lebensweise, deren objektive Ansicht die dem Soziologen vertraute »Pluralisierung der Lebensstile« wäre. Die Psychologie dient dieser Autonomie, die durch die Märkte freilich auch erfordert ist, indem sie das »Ich« stärkt. Sie verhilft ihm zur Realitätstüchtigkeit und Selbstverantwortungsfähigkeit, indem sie ihm beisteht im Konflikt mit den Autoritäten der Außenwelt, den verdrängten Triebansprüchen und den selbstzerstörerischen Schuldgefühlen. Individuelle Autonomie in diesem Sinne erfordert konkrete Selbstreflexion,8 und diese Forderung ist durchaus moralisch. Schon die analytische Therapie stellt an den Therapeuten gewisse ethische Ansprüche, die er auch verfehlen kann. Die Reflexion von Übertragung und Gegenübertragung ist nicht nur eine behandlungstechnische Angelegenheit. »Die Forderung war, sich selbst objektiv […] zu sehen und zugleich empathisch in die innere Welt anderer Menschen einzutreten.«9 Sie ergeht nicht nur an den Arzt, sondern prägt in dem Maße eine allgemeine Haltung, als sich die Denkweise der Psychoanalyse verbreitet. Insofern fördert die Psychoanalyse eine »neue Ethik«, eine »Ethik der Selbstreflexion«10, die sich in der Alltagskultur eines Teils der Mittelschichten entwickelt.11

 

Die kritische Selbstreflexion ist in Freuds Werk schon in der Traumdeutung zu greifen. Ein großer Teil des Materials besteht in Träumen des Autors und die Souveränität und bisweilen ironische Distanz, mit der sich Freud äußert, verdient Bewunderung.12 Natürlich gehört die kritische Selbstreflexion für Freud zur Berufsmoral jedes Wissenschaftlers, aber deren Regeln können nur die Sonderethik einer Berufsgruppe sein. Je konkreter die Fragen des Allgemeinen werden, umso naiver und konventioneller wird die Stellungnahme Freuds. Man lese nur den berühmten Brief an Einstein aus dem Jahre 1932 zur Frage: Warum Krieg? Die Vorschläge zur Friedenspolitik kommen über die gängige Mahnung, man solle sich besser kennen lernen, nicht hinaus.

So bleibt zwischen der Haltung individueller Selbstreflexion und den Fragen der Sozialethik eine Kluft bestehen, individuelles und allgemeines Subjekt fallen auseinander. Hatte sich die klassische Philosophie noch zum Ziel gesetzt, Individuum und Allgemeinheit unmittelbar zu vereinigen (Kant) oder wenigstens im Organismus des Staatsaufbaus zu versöhnen (Hegel), so hat die unabhängig gewordene Psychologie für das Individuum in seiner ganzen Zufälligkeit Partei ergriffen und einen bedeutsamen Beitrag zur Idee seiner Emanzipation geliefert. Es scheint jedoch, als sei der Preis dafür eine Verkümmerung des Vernunftbegriffs und eine Naturalisierung des Allgemeinen, die sich schließlich gegen die Individuen kehren muss.

3. Das arme Ich

Beim Nachdenken über das menschliche Individuum muss man mit seiner biologischen Basis beginnen, dem einzelnen Organismus. Wie der jeder anderen Art ist der menschliche Organismus an der Erhaltung seiner selbst und der Befriedigung seiner Triebe interessiert. Zugleich erscheint er als bloßes Instrument und Durchgangspunkt der Reproduktion seiner Art. Das Individuum kann als »Anhängsel an sein Keimplasma« betrachtet werden, »dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung stellt […].« (III, 46)

Nun vollzieht sich die Reproduktion der menschlichen Gattung nicht nur in der Befriedigung physiologischer Triebe. Menschen arbeiten, sie verwirklichen Zwecke, die ihre »Ideen« waren, sie planen die nähere und fernere Zukunft, sie verändern die Natur und ihre sozialen Beziehungen. Individuelle Subjekte einer solchen artspezifischen Tätigkeit sind »Ich«. Die philosophische Fassung dieses Begriffes gehört der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hegel an und meint das Prinzip der Einheit des individuellen Bewusstseins. Demgegenüber ist der Ichbegriff des Freud’schen Instanzenmodells viel unspezifischer und so unbestimmt, dass er zur Bezeichnung der Leistungen des menschlichen Selbstbewusstseins nicht mehr taugt. »Die Differenzierung von Ich und Es müssen wir nicht nur den primitiven Menschen, sondern noch viel einfacheren Lebewesen zuerkennen, da sie der notwendige Ausdruck des Einflusses der Außenwelt ist.« (III, 305) Philosophisch gesehen, werden hier Wahrnehmung und Selbstbewusstsein, Empfindung und Begriff, situationsgebundene und zeitliche Existenz, schließlich Natur und Geist trübe vermischt. »Ich« sei, so Freud, das System Wahrnehmung-Bewusstsein, die Außenseite des Organismus, selbst etwas Körperliches. Der Begriff des Ich soll anwendbar sein auch auf den primären Narzissmus, ein Zustand, in dem der Organismus noch keine Außenwelt von sich abscheidet, folglich aber, wie Wilhelm von Humboldt uns klar gemacht hat, auch nicht zum Bewusstsein seiner selbst gelangen kann. Somit vollzieht sich ausgerechnet im Ichbegriff eine Einebnung spezifisch menschlicher Leistungen; das Ich erscheint als Naturkategorie, nicht als eine Kategorie der Reflexion, mithin des Geistes.

Das Ich im herkömmlichen Sinne als Prinzip des Selbstbewusstseins wird von Freud nicht geleugnet (vgl. IX, 198). Es wird relativiert und desillusioniert, als ein weitgehend Sekundäres entlarvt. Insofern ist die Psychoanalyse die psychologische Artikulation einer seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich verbreitenden Erfahrung. Das (menschliche) Ich ist ein »armes Ding« (III, 322). Es gleiche einem Reiter, der dem Willen seines Pferdes folgen muss. (vgl. I, 514) Das Bestimmende ist »Es«, ein brodelnder Kessel unbewusster Antriebe, von dem der Organismus alle Energie bezieht, auch wenn er denkt oder auf die Außenwelt einwirkt. Jedoch unterscheidet sich der psychoanalytische Nachweis, dass das Ich »nicht einmal Herr ist im eigenen Hause«, von einer herkömmlichen, in der europäischen Theoriegeschichte niemals unbekannten Überzeugung, dass der freie Wille ein bloßes Epiphänomen sei (eine Wirkung ohne eigene Wirkmöglichkeit). Psychoanalyse bedeutet ja gerade nicht, alle Selbstbestimmung als Illusion zu erweisen, sondern sie behauptet zunächst, dass das Individuum auch dort von sich selbst bestimmt ist, wo es seinem bewussten Willen zuwider handelt und sich Leiden schafft. Weit entfernt davon, dem Menschen die vergiftete Labsal des Fatalismus zu bieten, behauptet sie ferner zumindest die Möglichkeit, neurotisches Elend in normales Unglück zu verwandeln. »Wo Es war, soll Ich werden.« (I, 516) Das »psychologische Ideal« ist der »Primat der Intelligenz« (IX, 181). Mit dem rohen Determinismus, den Freud ebenfalls verkünden kann (vgl. I, 121), ist dieses Freiheitsprogramm schwer vereinbar.

Für die Konzeption des Individuums bedeutet das Paradigma der verdrängten Triebregung und ihrer pathogenen Wirkung eine entschiedene Betonung des Konflikts. Es ist wichtig, so Freud, »dass man rechtzeitig beginne mit der Tatsache zu rechnen, das Seelenleben sei ein Kampf- und Tummelplatz entgegengesetzter Tendenzen […].« (I, 95) Spezifisch ist natürlich wiederum nicht die Erfahrung des Konflikts, sondern seine theoretische Konzeptionalisierung. In ihr spielt die Verinnerlichung äußerer Widerstände und Forderungen, Strafandrohungen und Verurteilungen eine entscheidende Rolle. An ihrem Ursprung und in ihrem allgemeinsten Gehalt sind die inneren Konflikte des Individuums Gegensätze zwischen der Gesellschaft und den organisch verankerten Bedürfnissen sexueller Natur in einem umfassenden, aber immer physiologischen Sinne. Gesellschaft, d. h. nach Freud die Gesamtheit der auf die Regelung der menschlichen Beziehungen gerichteten kulturellen Institutionen, muss die Sexualtriebe unterdrücken, um ihre Mitglieder zur Arbeit anzuhalten (I, 308). Es handelt sich um eine Notwendigkeit des Überlebens, dessen Chancen zu verbessern die grundlegende Leistung der Kultur ist. Diesen Gegensatz von Lust- und Realitätsprinzip gibt die Gesellschaft auf dem Wege der familiären Sozialisation an das Individuum weiter.

Für den Gegensatz von Kultur und Sexualtrieb hat Freud eindrucksvolle Worte gefunden, die zum klassischen Topos geworden sind. Kultur benehme sich gegen die Sexualität »wie ein Volksstamm oder eine Schichte der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.« (IX, 233) Da die Sexualität ein physiologischer Trieb und organische Körperlichkeit die Grundlage menschlicher Individuation ist, kann sich der Gegensatz von Gesellschaft und Trieb als ein Gegensatz von Gesellschaft und natürlicher Individualität darstellen. Wenn sexuelle Befriedigung der Kern und das Urbild des Glücks ist, herrscht ein fundamentaler Widerspruch zwischen individuellem Glücksstreben und Kultur. Wenn individuelles Glückstreben gleich individueller Freiheit ist, ergibt sich zwingend: »Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.« (IX, 226)

4. Das vorkulturelle Individuum

Steht es mit der Freiheit des kulturellen Individuums so prekär, könnte man zu der Ansicht gelangen, dass nur das vorkulturelle, natürliche Individuum wirklich frei war. Das meint Freud in der Tat, aber mit einer wichtigen Einschränkung: Ihm zufolge lebten die Urmenschen in einer Horde, die von einem dominanten Mann, dem Urvater, beherrscht worden ist. Die Frauen wurden von ihm monopolisiert, die Söhne terrorisiert oder vertrieben. Und es war nur dieser eine, der Vater der Urhorde, der es zur Individualität gebracht hat. Nur er

»war frei. Seine intellektuellen Akte waren auch in der Vereinzelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte niemand außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab.« (IX 115)

In Bezug auf ihn gab es eine »Individualpsychologie« (ebd.), die anderen waren bloße Masse.

Eine solche Phantasie freier Individualität kann nicht stimmig sein. Wer von seinen Leidenschaften beherrscht wird, ist nicht frei, und wer nicht lieben kann, ist zurückgeblieben. Alles, was wir mit Individualität im humanen Sinn verbinden: Selbsterkenntnis, innere Differenziertheit, eigenständiges Denken und Handeln, ist ohne Regel und Beziehung nicht möglich. Solche Individualität ist ein gesellschaftlicher, kultureller Begriff. Indem Freud die Herrschaft des Urvaters als die einer unbeschränkten Individualität beschreibt, zeichnet er ein phantastisches Gegenbild zum historischen Begriff des Individuums. Zwar ist der Hordenvater für Freud kein realistisches Ideal und dessen Wiederherstellung wäre auch nicht wünschenswert. Gleichwohl trägt das vorgeschichtliche »Individuum« die Züge eines Wunschbildes oder ist zumindest der Gegenstand der Bewunderung, wie der Verweis auf Nietzsches »Übermenschen« zeigt. (vgl. IX, S. 115) Das Bild des Ur-Individuums kontrastiert dem zivilisatorischen Individuum, das sich durch Reflexion, Sublimierung und freiwilligen Verzicht auf Triebhandlungen auszeichnet, zugleich jedoch eine gefährdete Angelegenheit ist, bedroht durch ein wachsendes Schuldgefühl und den Verlust der Vitalität. Selbst wenn es »die Erfolge der Verdrängung durch die Ergebnisse der rationellen Geistesarbeit zu ersetzen« gelernt hat (IX, S. 178), bleibt ihm im Wesentlichen doch nichts anderes als die Anpassung an die äußere Notwendigkeit. Adorno und Horkheimer haben diesen Zug an Freuds Konzeption mehrfach kritisiert.13 Vielleicht ist er nicht notwendig, aber er passt doch ganz gut zu der verkürzten Konzeption des Ich im Strukturmodell, das den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Reflexion, zwischen Kritik und Anpassung an die äußeren Realitäten verwischt.

Nicht nur die Individualität des Urvaters bleibt in Freuds Konstruktion problematisch, sondern auch die Individualitätslosigkeit der von ihm Unterworfenen. Was soll sie zu einer so komplizierten Operation wie der kulturstiftenden Einigung befähigt haben? Ihr Wille war schwach wie ihr Vorstellungsvermögen, es gab bloß kollektive Gefühle und Taten (vgl. IX, 114 f.; Anm. 3). Gleichwohl soll es ihnen gelungen sein, den Tyrannen zu beseitigen. Zur Kulturstiftung freilich konnte es erst kommen, als sich die Brüder Regeln des Sexualverkehrs gaben, die um das Tabu, das am Totem als Symbol des Getöteten haftet, zentriert sind. Möglich sei dies nur gewesen, weil sie nach dem Mord Schuld empfanden, und Schuld hätten sie nur empfinden können, weil sie den Tyrannen liebten. Wenn wir diese Annahme akzeptieren, obwohl sie unwahrscheinlich scheint, müssen wir auch zugestehen, dass die Psyche der unterdrückten Brüder die differenziertere und individuellere gewesen wäre.

 

Die Heiligkeit des Totem ist die erste Form der Religion und zugleich die erste Form von »Gesetzlichkeit«. Ihre Einrichtung verdankte sich einem »Gesellschaftsvertrag« (IX, 530) und war die Überwindung eines Zustands, in dem das »Recht« oder vielmehr die Gewalt des Stärkeren geherrscht hat:

»Gewalt wird gebrochen durch Einigung, die Macht dieser Geeinigten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen. Wir sehen, das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit, sich gegen jeden Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben Zwecke; der Unterschied liegt wirklich nur darin, daß es nicht mehr die Gewalt eines Einzelnen ist, die sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft.« (IX, 277)

Die Urgeschichte der Zivilisation stellt sich somit dar als eine Mischung von wilder Brutalität und bürgerlicher Zivilität, von Vatermord und Vertrag. Ihre Konstruktion verbindet die Faszination für die Wilden mit den Grundgedanken neuzeitlicher Sozialphilosophie.

5. Die Überlagerung von Urzeit und Moderne

Gegenüber dem vorkulturellen Individuum erscheint Gesellschaft (der intersubjektive Aspekt der Kultur) als die Organisation von Massen durch Führer, welche sich nicht mehr durch rein physische Stärke, sondern durch überlegene Einsicht und Selbstdisziplin auszeichnen (vgl. IX, 141). Die Institutionen der Massenorganisation haben ihren Seinsgrund nicht nur in psychischen Notwendigkeiten – was man etwa bei den Kirchen oder anderen religiösen Vereinigungen annehmen könnte – sondern – wie Fabriken oder Heere – auch in äußeren Erfordernissen der Lebenshaltung. Wenn Freud in der Neuen Folge seiner Einführungsvorlesungen verkündigt, Soziologie könne nichts anderes sein als »angewandte Psychologie« (I, 606), so zielt das nicht auf die Leugnung jener äußeren Notwendigkeiten. Erhoben wird vielmehr der Anspruch, dass die gesellschaftlichen Institutionen als Verhältnisse von Massen und Führern und diese nach dem familiären Muster von Abhängigkeit und Identifizierung verstanden werden können. Unter diesen Prämissen können die historisch-epochalen Bestimmungen der Institutionen zu einer Nebensache werden. Ihre Grundstruktur ist omnihistorischer Natur und von anthropologischer Notwendigkeit.

Von den institutionalisierten Massen unterscheidet Freud kurzlebige spontane Massen (vgl. IX, 78 u. 120). Eine weitere Unterscheidung betrifft Massen mit Führern und führerlose Massen, wobei nicht ganz klar wird, ob sie mit der ersteren deckungsgleich ist. Es könnte, so Freud, auch institutionalisierte Massen geben, bei denen anstelle des Führers ein Abstraktum, eine Idee, getreten ist. Jedenfalls sind Führermassen die »primären« Massen. In ihnen stellen die Individuen eine Gefühlsbindung zueinander her, indem jeder an die Stelle seines Ichideals den Führer als dessen bewunderte Verwirklichung setzt. Die Individuen regredieren, und zwar in eben jenen Naturzustand, in dem die Menschen einst dem Hordenvater unterworfen waren: »Der Führer der Masse ist noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätshörig, hat den Durst nach Unterwerfung. Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht.« (IX, 119) Während die Feststellung des regressiven Charakters der autoritären Massen – dass sie die einzige Form historischer Massenbildung sind, ist mehrfach bestritten worden14 – ein gegenwartsanalytisches und kritisches Potential birgt, stellt der Kurzschluss zwischen den modernen Massen und der hypothetischen Urhorde einen kaum zu begründenden Gewaltstreich dar, der unverkennbar einen politisch konservativen Sinn hat.15

Das gegenwartsanalytische und kritische Potential der Massentheorie lässt sich deshalb nur entbinden, wenn man sich aus der Kontinuität des Archaischen löst und der besondere Charakter autoritärer Massenbildung in der Moderne in den Blick genommen wird. Das geschieht bei Adorno: »[…] die einzelnen, aus denen sich die heutigen Massen zusammensetzen«, sind »Individuen, Kinder einer individualistisch-liberalen Konkurrenzgesellschaft, dazu erzogen, sich als unabhängige, sich selbst erhaltende Einheiten in der Konkurrenz zu behaupten […].«16 In unterschiedlichem Grade ist ihre Praxis der Selbstbehauptung von Ohnmachtserfahrungen durchzogen. »Die Menschen, mit denen er [nämlich der Führer] zu rechnen hat, befinden sich in der Regel in dem charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen.«17 Erst auf dieser Grundlage bietet die Freud’sche Psychologie für die autoritäre Massenbildung eine einleuchtende Erklärung. Die Individuen sehnen sich nach einer mächtigen Figur, in der sie das eigene Wunsch-Ich verwirklicht sehen können, und die sie zugleich der Verantwortung enthebt, die sie weder moralisch noch ökonomisch tragen können. So gesehen hatte die Schrift von 1921 noch eine glänzende Bestätigung vor sich. Aber mit der Hypothese vom Fortleben der Psychologie der Urhorde ist diese Adaption nicht vereinbar. Die Regression, die die Individuen in der autoritären Masse vollziehen, ist eine Regression in die individuelle Vorzeit der kindlichen Abhängigkeit. Die Stärke solcher Regressionswünsche zu berücksichtigen, ist eine der wichtigsten Folgerungen, die aus Freuds Psychologie für das politische Agieren moderner Massen gezogen werden kann. Die Regression in die individuelle Vorzeit von Menschen, die in einer besitzorientierten Marktgesellschaft sozialisiert werden, kann jedoch nicht zugleich die Regression in eine archaische Vorzeit der Urhorde sein, wo immer diese im Seelenleben der Heutigen ihren Ort haben sollte. Die Vorstellung vom Kind als erwachsenem Wilden ist ebenso abwegig wie bestimmte Phänomene der autoritären Massen – etwa die der Industrie entliehene Gleichförmigkeit oder die Bewusstseinsform des nationalen Wir – aus einem psychologischen Ursprung unerklärlich sind.

6. Archaische Erbschaft

»So wie der Urmensch in jedem Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder herstellen […].« (IX, 115) Worin aber besteht diese Virtualität? Freud gibt die Antwort in seinem Begriff der »archaischen Erbschaft«. Die Generalthese lautet, »dass im psychischen Leben des Individuums nicht nur selbst erlebte, sondern auch bei der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, Stücke von phylogenetischer Herkunft, eine archaische Erbschaft […].« (IX, 545)

Das Theorem von der biologischen Vererbung eines »seelisch Angeborenen« (II, 524; Zusatz von 1919) ist im Freud’schen Gesamtwerk zu häufig anzutreffen, als dass man sich seiner vorschnell entledigen könnte. Die wichtigste Frage lautet: Was soll vererbt werden? Zu denken ist zunächst an individuelle pathologische Dispositionen, wie die Stärke eines Triebs, die darüber bestimmen kann, warum ein Erlebnis im einen Fall traumatisch und pathogen wirkt, während es im anderen verhältnismäßig schadlos bleibt. (Erg. Bd., 380) Offenbar hat Freud auch die familiäre Häufung psychischer Pathologien in der Annahme solch biologisch vererbter Dispositionen bestärkt. (VIII, 141) Unser Thema sind jedoch nicht individuelle oder auf bestimmte Familien beschränkte, sondern phylogenetische Dispositionen und darunter zunächst solche, die der Gattung als ganzer eigen sein sollen. Solche artspezifische Dispositionen finden sich bei allen Lebewesen; sie bestehen aus Fähigkeiten und Neigungen, »bestimmte Entwicklungsrichtungen einzuschlagen und auf gewisse Erregungen, Eindrücke und Reize in einer besonderen Weise zu reagieren.« (IX, 545) Beim Menschen können wir – obwohl Freud sie nicht anführt – an die Spracherwerbung denken, die offenkundig biologisch programmiert ist, aber nur innerhalb einer Sprachgemeinschaft, also auf eine Anrede hin, vonstatten gehen kann. Nicht die besonderen Sprachen sind angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine besondere Sprache, gleich welche, zu erlernen.

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