Weihnachtswundernacht 2

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3. Dezember

Das Geschenk

Es schellte an der Tür. Missmutig schob ich meinen Schreibtischsessel zurück und schlurfte zur Tür. Mit einem »Ich-mag-es-nicht-wenn-man-mich-stört-Gesicht« öffnete ich die Haustür und blickte in die aufgeweckten Augen eines etwas schäbig gekleideten, älteren Herrn.

»Keine Angst, ich will Ihnen nichts verkaufen«, begrüßte mich der Alte lächelnd, »mein Name ist Nimmzeit, und ich möchte Ihnen etwas schenken.«

»Aha«, dachte ich bei mir und stellte mich vorsichtshalber noch etwas breiter in die Tür: »Sie wollen mir etwas schenken, da bin ich aber mal gespannt! Schießen Sie los, worum handelt es sich?«

Herr Nimmzeit hatte seinen Hut abgenommen und schien nun seltsam in die Ferne zu blicken. Es war, als hätten seine Pupillen durch mich und alle Wände meines Hauses hindurch etwas ganz anderes im Auge.

»Das, was ich Ihnen schenken möchte, brauchen Sie dringend. Sie haben zwar schon oft versucht, es zu kaufen, aber Sie haben es niemals bekommen. Und heute komme ich zu Ihnen, um Ihnen das, wonach Sie sich so sehr sehnen, zu schenken.«

Während seine Worte leise verklangen, funkelten mich seine kleinen Augen herausfordernd an, und über seinen Mund glitt ein kaum sichtbares Lächeln.

»Halten Sie mal keine großen Reden, kommen Sie zum Kern der Sache. Ich habe zu tun. Zeit ist schließlich Geld und somit teuer.«

Ich hoffte, mit diesen Worten unsere Begegnung zu einem raschen Ende zu bringen, obwohl ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich gar nicht so dringend beschäftigt war.

Doch solche merkwürdigen Gespräche sind mir immer unangenehm. Es gibt ja Menschen, die können Bände füllen mit ihren Ausschweifungen, ohne jemals wirklich etwas zu sagen, geschweige denn irgendwann einmal auf den Punkt zu kommen.

Der ältere Herr nickte unmerklich: »Genau deshalb bin ich hier!«, antwortete er mit einem fast feierlichen Unterton.

Jetzt wurde es mir aber doch zu bunt: »Weshalb sind Sie jetzt hier? Weil ich zu tun habe oder weil Zeit Geld ist? Oder weil Sie nicht so viel reden wollen? Ach … sind Sie vielleicht ein Geldbote vom Finanzamt? Natürlich, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Kommen Sie doch herein. Die letzten Steuerabzüge kamen mir sofort etwas zu hoch vor. Ich zahle ja gerne meinen Teil, aber was zu viel ist, ist zu viel. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

In einem Schwall von Worten und unter wildem Gestikulieren komplimentierte ich den Mann in unser Wohnzimmer und dort auf das Sofa, wo er nun ruhig und gelassen saß.

»Ja, ich trinke gern ein Glas Mineralwasser, wenn Sie so freundlich sind, aber vom Finanzamt komme ich nicht. Ich sagte ja auch nicht ›zurückerstatten‹, sondern ›schenken‹. Sie bekommen etwas geschenkt.«

Die Enttäuschung muss mir im Gesicht gestanden haben, denn Herr Nimmzeit rutschte mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck noch tiefer in das Polster der Wohnzimmergarnitur.

»Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu schenken, oder besser gesagt: Ich möchte Sie auf ein Geschenk aufmerksam machen!«

Nun wurde ich allmählich wirklich wütend. Da hatte sich dieser Alte unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in unsere Wohnung führen lassen, besaß ganz nebenbei die Dreistigkeit, von mir etwas zu trinken zu verlangen, und nun wollte er mich lediglich auf ein Geschenk aufmerksam machen. Die ganze Sache war doch eindeutig faul, oberfaul sogar. Man kennt ja solche Typen: Erst erzählen sie einem lange und umständlich was von »Geschenk« und »alles gratis« und »Sie sind der Glückliche« und all dieses Zeug, und zum Schluss hat man dann, ehe man sich versieht, zwei Zeitschriftenabonnements und einen Staubsauger gekauft.

»Also, was ist das nun für ein Geschenk, von dem Sie da dauernd faseln?«, fuhr ich ihn giftig an.

Im selben Augenblick tat es mir schon wieder leid, denn die eben noch lebendigen Augen des alten Mannes schauten mich plötzlich traurig und müde an. Fast flüsternd sagte er: »Das Geschenk, auf das ich Sie aufmerksam machen wollte, ist die Zeit. Ich habe Ihnen Zeit geschenkt, aber Sie haben sie sich eigentlich nie wirklich genommen. Sie sind zu beschäftigt.«

Jetzt war es mir wirklich egal, wie traurig der alte Mann auch aussah, und ich erwiderte mit bestimmtem Unterton in der Stimme: »Sie wollen mir Zeit schenken, dass ich nicht lache! Zeit gestohlen haben Sie mir. Dauernd vergeuden Sie meine Zeit. Ich pfeife auf Ihr Geschenk!«

Herr Nimmzeit saß nun wieder aufrecht auf der vorderen Sitzfläche des Sofas, stützte sich mit den Armen auf die Knie und schaute mich ernst an: »Darin liegt das eigentliche Problem! Dass Sie glauben, Zeit zu besitzen und jederzeit über Zeit verfügen zu können. Sie wissen noch gar nicht, dass die Zeit ein Geschenk ist, sonst würden Sie anders über diese wundervolle Gabe, die ich Ihnen gebracht habe, reden. Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeder Tag, jede Woche, jeder Monat und jedes Jahr ist ein Geschenk. Doch die Menschen haben all das vergessen. Für sie ist die Zeit wie eine Autobahn, die sie einfach gedankenlos benutzen und abfahren. Wie sehr sie dabei das Eigentliche übersehen, merken sie gar nicht. Gibt es wirklich einmal Straßenschäden, dann vertrauen alle darauf, dass die Macken schon wieder repariert werden. Glauben Sie wirklich, Sie seien im Besitz Ihrer Zeit? Sie sind nicht im Besitz Ihrer Zeit, sonst hätten Sie ja viel mehr davon. Sie besitzen eigentlich überhaupt keine Zeit, nicht mal ein kleines bisschen, und deshalb kann Ihnen auch niemand Zeit stehlen. Sie haben ja gar keine!«

Während der alte Mann mit den nun wieder leuchtenden Augen sprach, war ich ins Nachdenken gekommen. Irgendwie hatte er recht. Es war schon seltsam mit der Zeit. Da hatte man eigentlich den ganzen Tag zur Verfügung, vierundzwanzig lange Stunden, und wenn man einmal Zeit brauchte, war nie welche da. Immer gab es Termindruck, immer war irgendwo irgendetwas zu tun, zu verabreden, ja selbst die Freizeitgestaltung war streng durchgeplant. Und das letzte bisschen »freie Zeit« entwich in den sogenannten Entspannungsmomenten, die ich vor dem Fernseher verbrachte, wie im Flug. Ja, der Mann hatte recht, eigentlich hatte ich nie Zeit. In Wirklichkeit verfügte ich ziemlich gedankenlos über meine Lebensgestaltung.

Ich war derart in Gedanken versunken, dass ich fast nicht bemerkt hätte, wie Herr Nimmzeit sich still und heimlich aus unserer Wohnung zurückzog. Ich folgte ihm über die Treppe bis an die Haustür und bat ihn, doch wieder hereinzukommen. Ich wollte gerne noch so viel mehr über dieses Geschenk erfahren.

»Es ist alles gesagt«, lächelte der alte Mann, »das Weitere liegt nun an Ihnen!«

»Ja, aber … aber wie komme ich denn an dieses Geschenk heran? Wer schenkt mir denn nun die Zeit?«, rief ich ihm verzweifelt hinterher.

Herr Nimmzeit drehte sich noch einmal um, schaute mich mit ernster Miene an – obwohl ich heute nicht mehr sicher bin, ob er nicht doch ein hintersinniges Lächeln in den Mundwinkeln hatte – und sagte flüsternd: »Sie ist da. Die Zeit. Sie müssen sie sich nur nehmen. Wer das Geschenk anzunehmen und zu schätzen weiß, der wird immer reicher beschenkt werden!«

CLEMENS BITTLINGER


4. Dezember

Wartenwartenwarten

Wir warten. Immer warten wir. Auf besseres Wetter und bessere Zeiten. Und sagen, wenn sie denn endlich da sind, die besseren Zeiten, dass eigentlich doch früher alles besser gewesen ist.

Wir setzen auf die Zukunft, verklären die Vergangenheit und verpassen dabei die Gegenwart. Oft. Oft genug.

Wenn ich erst einmal das Abitur habe …

Wenn ich erst einmal die neue Wohnung habe …

Wenn ich erst einmal wieder gesund bin …

Wenn ich erst einmal im Ruhestand bin …

Dann!

Und wenn es gar nicht kommt, das »Dann«? Wenn uns nur das Jetzt bleibt?

Oder wenn wir entdecken, dass das Dann auch nicht anders ist als das Jetzt?

Dann warten wir eben weiter …

Warum warten wir eigentlich? Und worauf? Vor allem wohl, weil das Jetzt nicht alle Sehnsüchte stillt. Weil im Jetzt nicht alle Träume Wirklichkeit werden.

Wir warten wie Estragon und Wladimir in Samuel Becketts berühmten Stück »Warten auf Godot«, das 1953 in Paris uraufgeführt wurde.

Zwei Landstreicher warten an einem undefinierbaren Ort. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Sie warten auf Godot. Den sie nicht kennen und von dem sie nichts Genaues wissen. Nicht einmal, ob es ihn überhaupt gibt. Am Ende jedes Aktes erscheint ein kleiner Junge und verkündet, dass sich Godots Ankunft weiter verzögert. Doch er kommt nicht. Ein ganzes langes Stück lang nicht. Umsonst gewartet. Umsonst gelebt.

Sind wir Estragon und Wladimir? Manchmal?

Wir warten, dass heil wird, was zerbrochen ist. Dass gesund wird, was krank ist. Dass gelingt, was misslungen ist.

Damit aber warten wir im Grunde auf den Himmel! Auf die Rückkehr des verlorenen Paradieses! Damit warten wir im Grunde – auf Gott!

Als ein kleiner Junge kommt. Ein ganz kleiner Junge. Und verkündet:

Gott ist längst gekommen. Und er kommt immer wieder. Kommt mitten hinein in unsere Brüche. In unser Unheil. In unser Scheitern. In unsere Schuld. Ich bin dieser Gott. Ich. Jesus.

 

Und staunend knien Hirten vor einer Futterkrippe. Und Soldaten vor einem Kreuz. Und verängstigte Jüngerinnen und Jünger vor einem leeren Grab.

Seine Geburt ist eine ganz und gar ungewöhnliche Geburt an einem ganz und gar ungewöhnlichen Ort. Doch dann gehen die Eltern mit ihm den gewohnten und gewöhnlichen Weg, der Juden seit vielen Generationen vorgeschrieben ist. Am 8. Tag die Beschneidung als Zeichen dafür, dass das neugeborene Kind nun auch ganz und gar zum Abrahams-Bund zwischen Gott und seinem Volk gehört. Und weil der Junge einen Namen braucht. Ihn nennen sie Jeschua. Jesus. Auf Deutsch: Der Herr hilft. Der Herr rettet.

Was für ein Name!

Ein paar Wochen später folgt die Darstellung im Tempel. Die »Auslösung«. Denn nach dem jüdischen Gesetz gehört alle männliche Erstgeburt dem Herrn. Weil aber dieser Herr Menschenopfer untersagt hat, werden ein paar junge Tauben geopfert.

Aber dann geht die Geschichte wieder ganz und gar ungewöhnlich weiter. Denn im Tempel gibt es zwei besondere Menschen. Den alten Simeon, dem Gott versprochen hat, dass er nicht sterben wird, ohne vorher den Messias gesehen zu haben. Und die alte Hanna, eine Witwe, die Gott Tag und Nacht im Tempel diente »mit Fasten und mit Flehen«.

Die sehen den Jungen, und beide wissen sofort, mit wem sie es zu tun haben. Und Simeon bricht spontan in einen grandiosen Jubelgesang aus:

»Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.«

Und Hanna, die alte Frau, die Prophetin, hört gar nicht mehr auf, Gott zu preisen. Später erzählt sie allen, die auf die Erlösung Israels warten, dass sie endlich da ist. In diesem kleinen Jungen. In Jesus. Gott hilft! Gott rettet!

Zwei alt gewordene Menschen, die stellvertretend für das alt gewordene Volk Israel stehen. Zwei Menschen, die warten. Die ein ganzes Leben lang gewartet haben. Deren Sehnsucht aber nicht erloschen ist wie eine ausgebrannte Kerze.

Ich stelle mir vor, dass ich Hanna für ein paar Minuten beiseite nehme und frage: »Wie hast du das aushalten können? Und kannst du mir verraten, wie ich das aushalten kann? Ich warte doch auch darauf, dass Gott seine Versprechungen und Verheißungen in meinem Leben erfüllt.«

Und ich stelle mir vor, dass Hanna mir freundlich zulächelt und sagt: »Hör doch einfach meine Geschichte. Lies sie. Hör und lies sie immer wieder. An ihr kannst du doch ablesen, dass Gott seine Versprechen immer und auf jeden Fall erfüllt. Und denk über die vielen anderen Geschichten nach, die dir deine Bibel erzählt. Und dann denk auch über dein eigenes Leben nach, über alle Verheißungen, die sich auch in deinem Leben schon erfüllt haben. Und staune darüber, dass man sich auf Gott verlassen kann. Dass seine Uhren zwar anders gehen als unsere, aber dass er immer zur richtigen Zeit handelt, zu seiner Zeit. Vielleicht wird die Zeit des Wartens dann eine Zeit der Vorfreude für dich.«

Später fasst der Apostel Paulus das Weihnachtsgeschehen in einem theologischen Spitzensatz zusammen: »Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.« Die heilsame Gnade Gottes – und damit seine unverdiente Freundlichkeit und seine unerwartete Rettung. Erschienen in einem kleinen Jungen in einer kleinen Krippe in einem kleinen Stall in einem kleinen Ort in einem kleinen Land.

Dieses Ereignis kennt keine Parallele in der Geschichte. Es lässt sich einfach nicht vergleichen. Keine Erzählung der Weltliteratur kann es damit aufnehmen. Die heilsame Gnade Gottes ist erschienen, sie ist da, ein für alle Mal, und sie ist für alle Menschen da. Für alle Menschen aller Zeiten und in allen Ländern.

Wir warten. Wir werden auch weiter warten. Auf die Zeitung, auf den Bus, auf den Arzt. Aber wir müssen nicht mehr auf den Himmel warten. Der ist gekommen. Der ist da. Zum Greifen nah. Frohe Weihnachten!

JÜRGEN WERTH


5. Dezember

Weihnachten in der Wüste

Weihnachten in der Wüste. Davon will ich erzählen. Es ist schon einige Jahre her. Und zugegebenermaßen war es das außergewöhnlichste Weihnachtsfest, das wir je erlebt haben. Weihnachten in der Wüste.

Alle Jahre wieder

In den letzten Jahren hat sich bei uns eine richtige Weihnachtsroutine herausgebildet. An Heiligabend, nachdem der Weihnachtsbaum endlich gekauft und geschmückt ist, laden meine Frau Elke und ich nach dem Nachmittagsgottesdienst immer Leute zu uns ein. Meist sind es um die zwanzig Personen, die mit uns feiern – Singles, junge Ehepaare und oft auch ausländische Studenten, die über die Feiertage nicht in ihre Heimat fahren können. Meist sind Studenten aus Afrika und den Vereinigten Staaten dabei. In einem Jahr hatten wir vier chinesische Austauschprofessoren zu Besuch, ein anderes Mal Türken, Franzosen und Australier. Immer wieder laden wir auch am Heiligabend selbst noch Leute ein, die wir auf der Straße treffen, und die sonst nirgendwo den Heiligen Abend feiern würden. Manche Freunde aus Marburg und Umgebung kommen jedes Jahr, weil es ihnen so gut gefällt.

Nach der Begrüßung und einer Vorstellung aller Gäste singen wir unzählige Weihnachtslieder und lesen die Weihnachtsgeschichte in verschiedenen Sprachen. Dann geht es weiter mit gutem und ausführlichem Essen, zu dem viele beigetragen haben. Dann folgen noch mehr Lieder und schließlich die Bescherung. Dann werden die Spiele ausgepackt, und ein wahres Spielfieber ergreift uns. Doch halt, da ist ja noch die Christmette um elf Uhr, bei der sich viele Freunde aus der Gemeinde versammeln, um Gott zu loben und das Wunder der Weihnacht zu feiern. Manche von ihnen lassen sich dann noch zu uns nach Hause einladen, und wir feiern und spielen bis in die frühen Morgenstunden. So feiern wir seit vielen Jahren mit Begeisterung Weihnachten. Nach dem Aufräumen und einem ausgiebigen Schlaf findet dann am ersten Weihnachtstag der zweite Teil unserer Weihnachtsroutine statt. Und die besteht aus Verwandtenbesuchen. Keiner darf vergessen werden, und so machen wir die große Verwandtenrunde am ersten und zweiten Weihnachtstag. Viele Kilometer, viel Essen und viele Geschenke müssen noch bewältigt werden. Wenn wir dann wieder zu Hause sind, ist Weihnachten immer noch nicht vorbei. Denn jetzt laden wir alle erwachsenen »Kinder« unserer Lebensgemeinschaft, die inzwischen in der ganzen Welt verstreut sind, zu uns zu einem festlichen Abend ein. Sie kommen aus England, Schweden, Frankreich, Südafrika und allen möglichen Orten in Deutschland, um einander zu begegnen und zu erzählen, wie es ihnen im letzten Jahr ergangen ist.

Das ist unsere Weihnachtsroutine, mit leichten Veränderungen Jahr für Jahr gleich – und jedes Mal ein Höhepunkt des Jahres.

Weihnachten ganz anders

Doch in diesem Jahr, von dem ich erzählen will, war alles anders. Elke und ich hatten beschlossen, schon im Dezember in den Sudan zu fahren, das Land, in dem ich seit vielen Jahren Sprachforschungen betreibe. Im muslimisch geprägten Norden des Landes ist von Weihnachtsstimmung kaum etwas zu spüren. Schon das Wetter ist ganz anders als das, was wir hier in Mitteleuropa mit Weihnachten verbinden. Strahlende Sonne und Temperaturen von zwanzig bis dreißig Grad statt dunkler Abende und Schneeflocken. Statt den vertrauten Klängen der Weihnachtslieder erfüllt der Ruf des Muezzin von den Moscheen die Luft. Nichts erinnert daran, dass die Christenheit sich anschickt, das Fest des Erlösers zu feiern.

Dieses Mal wollten wir das hohe Fest also dort feiern, in der Wüste im Nordsudan. Seit vielen Jahren lebten dort deutsche Krankenschwestern, die von der Evangeliumsgemeinschaft Mittlerer Osten ausgesandt waren, einer Mission, die schon über hundert Jahre den Menschen in dieser Gegend medizinische und geistliche Hilfe zukommen lässt. Wir waren schon von Khartum, der Hauptstadt des Landes, nach Dongola, der Hauptstadt der Nordprovinz, gefahren. Dongola war damals noch ein kleiner Ort am Rande der Wüste mit insgesamt nur zwei Asphaltstraßen. Dort wohnten und lebten zwei deutsche Krankenschwestern, Ursula und Gertrud, die einzigen Ausländer in dieser kleinen Stadt zwischen Nil und Wüste. Doch wir wollten noch weiter in den Norden. Abri, ein kleines Dorf mit einem kleinen Krankenhaus, mitten in die Wüste gebaut, war unser Ziel. Dort lebten und arbeiteten zwei weitere Krankenschwestern, Margarete und Barbara.

Der Weg zwischen Dongola und Abri ist eigentlich nicht weit, ungefähr zweihundert Kilometer. Aber so, ohne Straße, auf selbstgesuchten Wegen durch die Wüste, mussten wir mit einer vollen Tagesreise rechnen. Außerdem gab es längst nicht an jedem Tag der Woche eine Reisemöglichkeit. Das einzige Transportmittel waren die alten, massiven Lastwagen, die mit ihren dicken Reifen in der Lage waren, über Stock und Stein, über Sandpisten und Dünen, über felsige Wegstrecken und Schotterpisten zu fahren. Schließlich fanden wir einen solchen Lastwagen, der durch die Wüste nach Norden fahren wollte.

Ungewisse Fahrt

Zuerst mussten wir über den Nil übersetzen. Brücken gab es nicht, und die alten Fähren, die in der Lage waren, einen Lastwagen zum anderen Ufer hinüberzubringen, konnten nur bei Windstille fahren, da sonst die Wellen das Schiff zum Kentern bringen konnten. Die Fähre war auch der Grund, warum wir jetzt erst fuhren, am Tag vor Heiligabend. Der Lastwagen wollte nämlich schon zwei Tage vorher fahren. Doch am ersten Tag war die Fähre kaputt, und wir mussten unverrichteter Dinge wieder zu Gertrud und Ursula zurückkehren. Am zweiten Tag war die Fähre zwar repariert, aber der Wind und die Wellen auf dem Nil waren zu stark. Erst am dritten Tag gelang es dem Lastwagen, auf das Ostufer überzusetzen. Es war schon um die Mittagszeit, als wir schließlich Richtung Norden fuhren. Hoch oben auf der offenen Ladefläche saßen wir, oben auf der Ladung, zusammen mit vielen Sudanesen, die ebenfalls in die Dörfer im Norden fuhren. Das Ganze war ohnehin etwas gewagt, weil wir nicht wussten, ob wir überhaupt noch am nächsten Tag, am Heiligabend, in Abri ankommen würden. Denn schließlich fuhr dieser Wagen nur bis Kerma, etwa ein Drittel der Wegstrecke. Dort hofften wir, einen anderen Wagen zu finden.

Als wir in Kerma ankamen, war es schon dunkel. Von einem anderen Lastwagen weit und breit keine Spur. So mussten wir uns wohl oder übel in die kleine Herberge begeben, ein offener Hof, umgeben von ein paar Lehmmauern. Weil wir ausländische Gäste waren, bekamen wir den einzigen Raum angewiesen, ein offenes Zimmer mit Lehmwänden und Strohdach, und durften sogar auf echten Holzbetten schlafen. Noch hatten wir die Hoffnung, dass ein anderer Lastwagen vorbeikommen würde, der uns weiter nach Norden mitnehmen würde, pünktlich zum Heiligen Abend in Abri.

Um Mitternacht gab es auf einmal Lärm und Rufe. Wir wurden geweckt: »Los, los, da ist ein Wagen, mit dem ihr fahren könnt!« Wir kletterten auf die Ladefläche und suchten uns einen Platz. Einige andere Passagiere saßen schon oben auf dem Wagen, eingehüllt in ihre Turbane und Decken. Eine kranke Frau lag ausgestreckt in der Mitte. Weiter ging es, durch die Dunkelheit und die kalte Wüstennacht, die durch den pfeifenden Wind noch kälter wurde. Stunde um Stunde mahlten sich die Räder durch den Sand. An Schlaf war nicht zu denken, weil der Wagen hin- und her schaukelte und wir Mühe hatten, uns an den geladenen Gegenständen, auf denen wir saßen, festzuhalten, um nicht vom Wagen herunterzufallen.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit erschienen endlich die ersehnten ersten Grautöne am nächtlichen Himmel. Langsam kam mehr und mehr Farbe in den östlichen Himmel und wir konnten unsere Umgebung deutlicher sehen. Die anderen Fahrgäste waren genauso eingehüllt wie wir, und die kranke Frau lag ausgemergelt und bewegungslos zu unseren Füßen. Sie war auf dem Weg vom Krankenhaus in Dongola zurück in ihr Dorf. Das war also der 24. Dezember, der Heiligabend!

Tränen am Morgen

Als die Sonne aufging, erreichten wir ein kleines Dorf, wo wir abstiegen, um uns zu strecken und die Beine zu vertreten. Die Frauen aus dem Haus, wo wir hielten, brachten den Fahrtgästen Tee, wie es der sudanesischen Gastfreundschaft entspricht. Dankbar setzten wir uns auf den Sand, lehnten uns an die Hauswand und genossen die wärmende Sonne und den starken, süßen Tee.

 

Auf einmal gellte ein Schrei durch die Luft. Eine Frau, wohl eine Verwandte der Kranken, war mit ihr oben auf der Ladefläche geblieben, und stimmte das Klagegeschrei an. Sofort fielen alle anderen Frauen in das Heulen und Schreien mit ein. Aus allen Häusern kamen sie herbeigelaufen, rissen sich an den Haaren, schlugen sich auf die Brust und warfen Sand auf ihre Kleider. Die Frau, die durch die Nacht hindurch zu unseren Füßen gelegen hatte, war gestorben. Ihr Ehemann saß direkt neben uns im Sand. Anders als die Frauen stimmte er nicht in das Klagegeschrei ein. Er sagte nur leise: »Allahu akbar!« – »Gott ist größer!« Eine Träne lief ihm über die Wange. Dann trank er seinen Tee.

Das war also unser Weihnachten! Nichts von Festtagsstimmung, kein Lametta, keine Kerzen und kein Weihnachtsschmuck, keine Lieder und kein Gebäck. Das war doch kein Weihnachten! Oder doch?

Unterwegs mit schlechter Nachricht?

Nach kurzer Pause fuhren wir weiter, oben auf dem Wagen, zusammen mit der toten Frau und den anderen Fahrgästen. Von Dorf zu Dorf ging es, entlang dem Nil. Und überall, wo wir hinkamen, erschallte das Klagegeschrei vom Wagen herunter. Überall kamen die Frauen des Dorfes herbeigelaufen und stimmten in das Klagen ein. Hier waren die Menschen alle irgendwie miteinander verwandt, und so betraf der Todesfall die meisten von ihnen. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht.

Aber es war doch Heiligabend, der Tag, an dem die beste aller Nachrichten zum ersten Mal die Menschen erreichte: »Euch ist heute der Heiland geboren!« Und es waren doch genauso einfache Menschen wie die, mit denen wir hier unterwegs waren, denen die Himmelsboten damals diese Botschaft verkündigten. Und wir mussten an das Versprechen aus der Bibel denken, das immer wieder in der Weihnachtszeit in den Kirchen vorgelesen wird: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da sitzen im finstern Land, strahlt es hell! Denn euch ist ein Kind geboren …«

Genau in diese Welt mit ihren Dunkelheiten, mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer, mit ihrer Krankheit und ihrem Tod, da hinein gehört die Weihnachtsbotschaft. Wo, wenn nicht hier, macht Weihnachten wirklich Sinn?

Zwiebeln und Tomatensuppe aus der Tüte

Es war dann kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als wir endlich am Haus der beiden Krankenschwestern eintrafen. Margarete und Barbara hatten kaum noch zu hoffen gewagt, dass wir ankommen würden. Ein Telefon gab es damals noch nicht in ihrem einfachen Haus und auch keinen Strom. Und doch konnten wir jetzt Weihnachten feiern! Viel gab es nicht zu kaufen auf dem kleinen Markt von Abri. Fleisch war schon seit Wochen nicht mehr angeboten worden. So bestand unser Festmahl aus einer Tütensuppe, die sie im Sommer aus Deutschland mitgebracht hatten, gebratenen Zwiebeln, etwas Käse und Brot. Und doch war es ein köstliches Mahl, gerade nach der langen Reise. Und wieder sangen wir die Weihnachtslieder, lasen den Bericht von der Geburt von Jesus, den Lukas in seinem Evangelium niedergeschrieben hat, und beteten miteinander. Draußen gingen die Sterne auf, wie damals in der ersten Heiligen Nacht. Und wie damals die Hirten auf dem Feld hörten wir in unseren Herzen die Worte des Engels: »Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«

Weihnachten in der Wüste

Dieses Weihnachtsfest in der Wüste wird uns für immer unvergesslich sein. Fern von allem, was sonst Weihnachten für uns ausmacht, und fern von dem, was auch häufig den wahren Sinn von Weihnachten überdeckt, erlebten wir unmittelbar, worum es bei Weihnachten wirklich geht.

Das Licht scheint in der Finsternis.

Die Freude überwindet die Trauer.

Das Leben besiegt den Tod.

Jesus, der Retter, ist da!

Dass diese Hoffnung, diese Freude und diese Wahrheit allen Menschen gilt, ob sie nun im Sudan leben oder in Deutschland, in Russland oder Amerika, in Asien, Afrika, Australien, Europa oder sonst wo auf der Welt, das ist der Grund dafür, dass wir immer und überall Weihnachten feiern können.

Auch in der Wüste. Denn da, wo die Weihnachtsbotschaft uns erfasst, wird aus der Wüste unseres Lebens ein blühender Garten.

ROLAND WERNER

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