Theologie im Kontext des Ersten Weltkrieges

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Dass sich bei Kriegsbeginn die Hoffnungen der Katholiken auf Realisierung der Parität und damit auf einen Erfolg jahrzehntelanger Emanzipationsbemühungen richteten, werte ich als eine katholische Facette der allgemeinen Hoffnung von Intellektuellen, Akademikern und Jugend, die den Krieg begrüßten als Jungbrunnen gegen eine überalterte, verkrustete Gesellschaft.

Für viele wirkte der Krieg zu Beginn deshalb wie eine Erlösung. „Nun will endlich die furchtbare jahrelange Spannung ein Ende haben. So wirkt der entsetzlichste Krieg wie eine Wohltat. Jetzt hört wenigstens die Heuchelei auf“ – meinte der protestantische Theologe Martin Rade (1857–1940)34. Und für den Konvertiten Max Scheler (1874–1928) kam der Krieg einem „metaphysischen Erwachen aus dem dumpfen Zustand eines bleiernen Schlafes“ gleich, war er eine notwendige Zerstörung der Illusionen des Liberalismus und Kapitalismus35.

Einen ganz anderen Weg als die Katholiken hatte im 19. Jahrhundert allerdings der deutsche Protestantismus zurückgelegt. Die Säkularisation hatte günstige Voraussetzungen für seine Prosperität geschaffen. „Bürgerlichkeit“ galt weithin als ein protestantisches Empfinden, wurde zur Signatur einer Epoche, die untrennbar mit dem protestantischen Bildungsbürgertum verbunden war. Die Landeskirchen blieben aufs engste mit den Landesherren verbunden, die den Summepiskopat ausübten und so auch intensiven Anteil am entstehenden nationalen Bewusstsein hatten. Die Reichsgründung und der Kulturkampf taten ein Übriges: Die Kultur und das öffentliche Leben des Kaiserreiches waren in der Folgezeit eindeutig bestimmt. Protestantismus und deutsche Kultur wurden gleichgesetzt36.

Das Ende des von Bismarck geführten Kulturkampfs brachte keineswegs eine konfessionelle Befriedung. Im Gegenteil: in den 1880er Jahren wurden die konfessionellen Gegensätze wieder stärker betont. Und so tauchte im beiderseitigen Sprachspiel ab etwa 1905 die Rede von einem „neuen Kulturkampf“ auf, die in den folgenden Jahren immer wieder rezipiert wurde und damit eine anhaltende Bewusstseinslage schuf, die bis zum Ersten Weltkrieg wirkte37.

Diese Bewusstseinslage war nun auch wieder dezidiert national konnotiert. So polemisierte 1901 der Göttinger Historiker Max Lehmann:

„Unfehlbar will sie sein, diese Papstkirche, alles will sie ihren Gläubigen ersetzen, auch die Wissenschaft, auch die Nationalität […]. Schweigen wir hier von den Beschimpfungen, welche sie gegen diejenigen Deutschen richtet, welche die Alleinherrschaft des Papstes gebrochen haben, ihr Haß richtet sich auch gegen diejenigen Führer unserer Nation, die einer Zeit angehören, da der konfessionelle Gegensatz verblaßt war. Der Index librorum prohibitorum […] ächtet die Œuvres du philosophe de Sanssouci, Kants Kritik der reinen Vernunft, Rankes Geschichte der Päpste. Der größte deutsche König, der größte deutsche Philosoph, der größte deutsche Historiker […]. Wie finden sie den Mut, die größten Deutschen zu beschimpfen, als wären sie Kumpane Alexanders VI. gewesen?“38 – Die größten Deutschen: das waren selbstverständlich Protestanten. Dass Friedrich der Große, Ranke und Kant auf den römischen Index verbotener Bücher gesetzt worden waren, demonstrierte für Lehmann einmal mehr die Deutschfeindlichkeit des Katholizismus überhaupt.

Solch antikatholische Polemik mit nationalem oder gar nationalistischem Einschlag hatte inzwischen eine eigene Evidenz. Das Schimpfwort von der „katholischen Internationale“ – mit allen negativen Assoziationen – machte in national aufgeladenen Zeiten die Runde. Später war gar von der „schwarz-rot-goldenen Internationale“ die Rede – bestehend aus Katholizismus, Kommunismus und Judentum. Und doch wurde der Terminus „Katholische Internationale“ auch als Selbstbezeichnung verwendet39.

Anders der Protestantismus, der sich als Träger der deutschen Nation verstand. Dies zeigt die Erforschung von Lutherbild und protestantischer Erinnerungskultur40. Während für den Katholizismus „Nation“ und „Glaube“ weitgehend Konkurrenzbegriffe und die dahinter stehenden Ideen und Wirklichkeiten konkurrierende Größen waren, kam es im Protestantismus – wie Forschungen der letzten Jahrzehnte zeigen – zu einer „Sakralisierung der Nation“. Der Nationalismus wurde „eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts“41, für viele gar ein Religionsersatz.

Obwohl die Ausgangslagen, in denen sich katholische und protestantische Kirchen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs befanden, also durchaus sehr verschieden waren, führten sie beide sehr stringent in den Krieg hinein. Für die einen war er eine nationale Bewährungsprobe, für die andern selbstverständliche religiöse, nicht nur nationale Pflichterfüllung.

3. Faktoren katholischer Kriegsbejahung

Auf einige Faktoren, die für die Bejahung des Krieges durch die Katholiken eine Rolle spielten, möchte ich etwas näher eingehen. Zunächst:

Nationale Begeisterung – Verteidigung gegen protestantisches Misstrauen

Es gab – wie gesagt – schon vor 1914 im Katholizismus eine gewisse Kriegsbereitschaft. Das Zentrum trug die Rüstungspolitik der Regierung teilweise mit. In den ersten Kriegswochen und Monaten wurde in der katholischen Presse vielfach – und zu Recht – betont, wie weit der nationale Gedanke in die verschiedenen katholischen Lebensbereiche eingedrungen war. Tatsächlich hatte eine „Nationalisierung“ breiter Schichten sowohl im deutschen als auch im europäischen Katholizismus überhaupt stattgefunden42. Betroffen war vor allem auch der akademische Bereich, in dem die Katholiken den stärksten Aufholbedarf hatten. In der katholischen Studentenschaft etwa lässt sich die Kriegsbegeisterung darauf zurückführen, dass man – allen Verdächtigungen von protestantischer Seite zum Trotz – auch ohne Duell und Mensur gut kämpfen könne. Es ging also um eine „nationale Bewährungsprobe“43.

Für die nationale Begeisterung lassen sich zahllose Beispiele anführen. Allerdings wird man in der Betonung des nationalen Gedankens, der als festes Repertoire in die Kriegspredigten und Hirtenbriefe Eingang fand, wohl auch und vor allem eine Verteidigung gegenüber anderslautenden Stimmen zu sehen haben. So wurden etwa Berichte über vaterlandsverräterische Aktionen katholischer Priester im Elsass ge streut, außerdem in protestantischen und konservativen deutschen Blättern Gerüchte über Gräueltaten belgischer katholischer Geistlicher gegen die deutschen Truppen. Offenbar sollte im ersten Siegestaumel Kapital gegen den „Milieufeind“ geschlagen werden. Die Katholiken verwahrten sich gegen diese „schmutzige Katholikenhetze“44, indem sie darauf hinwiesen, die deutschen Katholiken ließen sich „an vaterländischer Gesinnung und Opferfreudigkeit“ von keinem übertreffen45. Ebenfalls von protestantischer Seite kam der Vorwurf, der katholische Klerus beteilige sich nicht angemessen am Krieg. Auch dieser Vorwurf wurde zurückgewiesen: Die blutigen Kriegshände vertrügen sich nicht mit dem priesterlichen Amt, weshalb die Geistlichen vom Waffendienst befreit seien. Doch übernähmen viele Geistliche „mit Freuden“ den seelsorgerlichen Dienst im Feld46. Und selbst die deutsche Ordensprovinz der Jesuiten habe sich schon im August 1914 komplett dem Heer und der Flotte zur Verfügung gestellt, und zwar mit Angabe der jeweiligen Sprachbeherrschung, um gezielt im Kriegsgebiet eingesetzt werden zu können47. Nota bene: damals standen die Jesuiten noch unter der repressiven deutschen Kulturkampfgesetzgebung!48

1917 brachte der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler (1852–1926) im Geleitwort zu Sankt Michael, dem Kriegsbuch der deutschsprachigen Katholiken, das Dilemma ins Wort, in dem die Katholiken sich befanden: „Von der einen Seite sind wir verdächtigt worden, als hätte ein übertriebenes Nationalgefühl unser katholisches Christentum verkümmert und durchsäuert. Von der anderen Seite hegte man den Argwohn, ob nicht unser katholisches Christentum unsere Vaterlandstreue und Kriegstüchtigkeit schwäche und in Frage stelle“49. Keppler stellte klar:

„Manche andersgläubige Stammesbrüder konnten auch im Kriege ein gewisses Mißtrauen gegen uns nicht überwinden, oder sie verrieten durch eine Belobigung unserer Kriegshaltung, die uns mehr wehe als wohl tat, daß sie uns nicht viel Gutes zugetraut hatten. […] Man mache sich keine unnötigen Sorgen um die deutschen Katholiken. Wir haben unsere Pflicht getan und werden sie tun. Wir sind nicht Deutsche zweiter Güte, nicht Vaterlandsfreunde zweiter Klasse. Aber Mißtrauen und Argwohn führt zu Abneigung und Anfeindung und stört das friedliche Zusammenleben und einträchtige Zusammenwirken“50.

In der katholischen Presse tauchten auch grundsätzliche Artikel auf, die den Vorwurf nichtkatholischer Gruppen zu entkräften suchen, Katholizismus und nationale Interessen seien nicht vereinbar. Da wurde mit statistischem Material gearbeitet, da tauchten immer wieder Floskeln auf wie: „Neben den Pflichten gegen Gott kennen sie keine höheren als die Pflichten gegen Kaiser und Reich“51.

Allerdings wurden durchaus auch differenzierende Töne laut: Die deutschen Katholiken betrieben „mit dem Wort ‚national‘ keinen Kultus, wie gewisse Kreise, die die Vaterlandsliebe für sich allein in Anspruch nehmen und jeden Mitbürger als Reichsfeind verschreien, der nicht in ihren Hurrapatriotismus einstimmt“. Sie hielten stattdessen „die goldene Mitte […] zwischen jener Richtung, die einseitig und übertrieben alles nur vom nationalen Gesichtspunkt betrachtet und jener anderen Richtung, die von keinem engeren Vaterlande etwas wissen will“52. Und schließlich gab es auch eine dezidiert katholische Kritik am Nationalismus. So, wenn der Jesuit Stanislaus von Dunin-Borkowski (1864–1934) vor der nationalen „Vergewaltigung“ der Religion warnte und prophezeite:

 

„Die Phrasen der nationalistischen Schreier werden im Kanonendonner verstummen. Das ist ihr wohlverdientes Schicksal. […] was aber leider bleiben wird, das ist das Unglück der Reiche, denen die Staatsmänner einen nationalistischen Kurs gaben, die religiöse Not der Völker, die jetzt Nationalismus und Religion zum Bund zwingen wollten. Was bleiben wird als Denkmal ewiger Schande, das ist das unselige Schlagwort ‚Krieg und Katholizismus‘ im Sinne jener, die es nicht als Sammelwort der Liebe und Versöhnung, sondern als Kampfwort der Zwietracht und des Hasses erfunden haben. Daß sie die Weltkirche in die Glut der Leidenschaften zerren wollten, ist ein Frevel an der Religion und der Kultur“53.

Sicherheit, Freiheit, Schutz fürs Vaterland – der „gerechte Krieg“

Klar ist, dass durch die „gefühlte“ – propagandistisch zur Realität erhobene – Bedrohung von außen ein qualitativ neues Einheitsbewusstsein vom „deutschen Vaterland“ entstand. Das Bestreben, die Heimat vor dem Einfall feindlicher Armeen zu schützen und seinen Bestand zu wahren, war nicht konfessionsspezifisch, aber der Topos wurde auch von den Katholiken rezipiert. So hieß es etwa in einem Presseartikel:

„Vier Jahrzehnte lang hat Deutschland sich in eine arge Unsicherheit gefügt. Wir waren fortwährend bedroht von links und rechts […]. Der Krieg soll uns die Sicherheit bringen, die wir in den verflossenen Jahrzehnten des sog. Friedens so sehr vermisst haben“54.

Das hier angeführte Motiv wurde nun aber nicht nur aufgegriffen, sondern auch theologisch weitergeführt und legitimiert durch die alte „Lehre vom gerechten Krieg“55. In der katholischen Moraltheologie galt der Krieg als zulässiges Mittel zur Wiederherstellung des Rechts, mitunter gar als sozialethische Pflicht. So sagte etwa der Münsteraner Moraltheologe Joseph Mausbach (1861–1931) in einer Rede am 22. September 1914:

„Der einzelne Mensch darf zur Notwehr schreiten, um sich und andere vor Mordlust zu schützen. Der Staat darf zu den Waffen greifen, wenn die höchsten nationalen Güter dies fordern, wenn es gilt, für den Sieg der Gerechtigkeit und Vollkommenheit zu streiten. Denn das ist das höchste Ideal des Christentums, und in diesem Siege der gerechten Sache liegt die wahrste und tiefste Rechtfertigung des Krieges“56.

Das war nun ganz naturrechtlich argumentiert. Der Staat hatte die Pflicht, Bedingungen herbeizuführen, die die zeitliche Wohlfahrt des einzelnen und der im Staate enthaltenen Familien und Berufsklassen nach allen Seiten hin fördern57. Zentral für Mausbachs Argumentation war das Augustinuswort „Pacem habere debet voluntas, bellum necessitas“, das er – bezeichnend – folgendermaßen übersetzte: „Der Friede ist ein Gut an sich, das wir erstreben müssen, der Krieg ist ein furchtbares Übel, das die Not uns aufzwingt“. Der gegenwärtige Krieg ist deshalb ein gerechter, weil Deutschland dem Ideal des Friedens lange mit ehrlichem Willen gedient hat, bis der Krieg zur Notwendigkeit wurde. Die Argumentation Mausbachs funktioniert allerdings nicht mehr angesichts des Einmarsches in Belgien, weshalb er auch in eine allgemeine Propagandaterminologie abgleitet58.

Die Lehre vom gerechten Krieg passte sehr gut zu der von der Reichsregierung vorgegebenen Formel vom aufgezwungenen Krieg und zu der vom Kaiser nach Bekanntwerden der russischen Mobilmachung am 31. Juli gebrauchten Wendung, Deutschland werde zur „gerechten Verteidigung“ gezwungen: „Man drückt uns das Schwert in die Hand“59. Mitunter wurde der Krieg nicht nur als „gerecht“60, sondern sogar als „heilig in seinem Zwecke“ bezeichnet, insofern „wir nichts anderes erstreben, als die Freiheit und Sicherheit des Vaterlandes, einen dauerhaften Frieden für die Welt, bei dem nicht bloß die menschliche Kultur, sondern auch das Reich Gottes blühen und gedeihen kann“61. Die Kurzformel lautete:

„Unser Kampf ist ein heiliger, ein gerechter Kampf für geheiligtes Recht, für geheiligte Ordnung. Es gilt die Verteidigung des Vaterlandes, die Verteidigung unserer Güter. Es gilt die Sicherung der eigenen Grenzen. Fürwahr, das ist ein heiliger Kampf um Gottes willen“62.

Allerdings wurden in der katholischen Publizistik durchaus auch die Bedingungen und Grenzen des „gerechten Krieges“ benannt, nämlich: „Wenn also diplomatische Verhandlungen, Repressalien, Vermittlung, Warenboykott und dergleichen Mittel genügen, um dem Staate zu seinem Rechte zu verhelfen, so darf nicht zum Kriege gegriffen werden, der doch immer das größere Übel bleibt“63. So etwa Ende Oktober 1914 im Fuldaer Bonifatiusboten. Damals stand angesichts dessen, was in Belgien geschehen war (Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Politik der Verbrannten Erde, Zerstörung Löwens, die Verteidigung Deutschlands auf fremdem Territorium), die Anwendung der Lehre vom gerechten Krieg unter einem massiven Rechtfertigungsdruck64.

Nationale Vereinnahmung Gottes – religiös begründet

Eng mit der Frage nach dem gerechten Krieg verbunden war die Frage nach dem Standort Gottes. Er musste auf der Seite der Gerechten stehen. Auch die nationale Vereinnahmung Gottes war kein konfessionsspezifisches Argumentationsmuster, wurde aber von katholischer Seite übernommen. Denn es bot die Möglichkeit, den offenen Zwiespalt zwischen Katholizismus und Nationalismus zu überwinden.

Mitunter wurde aus dem Krieg ein im Namen Gottes geführter Krieg. So predigte der Maria Laacher Prior 1914:

„Den Krieg selber, insofern in ihm materielle Gewalten und Massen aufeinanderstoßen und durch eine mehr oder minder physische Kraftprobe die Entscheidung in einem an und für sich doch geistigen Rechtsstreit herbeiführen – den Krieg, so verstanden, nimmt die Kirche als eine gegebene Tatsache hin, die in der notwendigen Unvollkommenheit aller irdischen Institutionen, zu großen Teil aber auch in der mangelhaften Erfassung des christlichen Ideals begründet ist. Sieht man aber von der so traurigen materiellen Seite des Krieges ab und faßt man ihn von der ethischen Seite, insofern er nun einmal doch von den kämpfenden Parteien als das Ringen zwischen Recht und Unrecht aufgefaßt wird, dann ist der aus dem Willen zum Recht unternommene Defensiv- und Offensivkrieg für die Kirche nichts anderes als ein im Namen Gottes geführter Kampf. Jeder Krieg steht sogar in einem geheimnisvollen Zusammenhange mit dem blutigen Drama auf Golgotha. Er ist eine Fortsetzung, er ist tatsächlich ein Stück des Kampfes, den unser Erlöser geführt hat. Wie Christus seinen Sieg mit seinem Blute erkauft hat, so ist es auch heute nicht selten denen, die auf Christi Seite stehen, beschieden, ihr Recht mit dem Blute zu erkaufen“65.

Die nationale Vereinnahmung Gottes im Sinne der Bitte um Gottes Hilfe in der kriegerischen Auseinandersetzung ist freilich eine Sache, die heilsgeschichtliche Deutung von Kriegsglück aber eine andere.

Ich führe hier nur eine derart legitimierende Stimme an: Im September 1914 hieß es in der Fuldaer Zeitung: „Der Allmächtige hat unsere Truppen von Sieg zu Sieg geführt, all unseren Feinden hat er offenbar gemacht, daß er mit der gerechten Sache ist und mit dem Volk, das in Demut um seinen Schutz und Segen fleht“66. – Im Umkehrschluss hätte dieses Argumentationsmuster, spätestens 1918, bedeutet: die deutsche Sache war eben doch nicht die gerechte Sache und schon gar nicht die Sache Gottes, denn der Sieg war auf Seiten des Gegners.

Dieser logische Rückschluss wurde freilich nicht gezogen. Stattdessen finden sich selbst noch im Juli 1918 Spuren desselben Musters, wenn sie auch nicht mehr ganz so vollmundig klingen: Gottes Wille habe zumindest den Krieg „vom Boden unseres Vaterlandes, von seinen Fluren, Städten und Dörfern fern gehalten“67.

Hier offenbart sich eine primitive Pseudotheologie, die in weiten katholischen Kreisen bis hin zu höchsten kirchlichen Würdenträgern zu finden war. Man hätte 1918 ja auch mit ganz anderen Interpretamenten argumentieren können. Etwa mit biblischen Aussagen wie: „Der Gerechte muß viel leiden“ (Ps 34,20), oder: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ (Spr 3,12). Solche Dinge sucht man in diesem Zusammenhang jedoch vergebens.

Allerdings, und damit komme ich zur verbreitetsten Rechtfertigung des Krieges, wurde der Krieg als Instrument der Strafe, der Züchtigung, der Erziehung Gottes interpretiert – bezeichnenderweise aber nicht auf eine – deshalb – zu erwartende kriegerische Niederlage bezogen.

Krieg als Gottesstrafe und Aufruf zur Läuterung

Dort, wo dem Krieg – neben der prinzipiell negativen Erfahrung des Leids – eine positive religiös-sittliche Dimension abgerungen wurde, traten die Motive der Läuterung und Buße sowie des „Opfers“ auf68.

Der Krieg sei eine Prüfung, „die Gott will, die zu Gott führt“69. Ein Freiburger Pfarrer formulierte das so: „Nur der Schmerz und das Leid weiß ja das Edelste und Tiefste im Menschen zu erlösen und zu befreien“70. Erhofft wurde also – frei nach dem Motto: „Not lehrt beten“ – eine neue Hinwendung zu Gott, zum Glauben, zur Kirche. Der erkannte Sinn des Krieges war, jene, die sich vom Glauben abgewandt haben, zurückzuführen, jenen aber, die glaubten, die Gelegenheit zur Bewährung zu geben. In der Kölnischen Volkszeitung schrieb ein Pfarrer im September 1914: „Der Ruf des Kaisers an die wehrfähigen Männer Deutschlands bedeutete für das katholische Volk in Wahrheit zunächst eine Herzensmobilmachung71. So wurde der Krieg in katholischen Verlautbarungen allenthalben legitimiert.

Die Antwort, weshalb eine Läuterung überhaupt nötig sei, lautete: Wohlstand und Kultur, der Genuss der irdischen Güter, Eigenliebe und Stolz haben die Werteordnung vertauscht und Gott als das höchste Gut überlagert. So hieß in einem Zeitungsartikel:

„Woher nun der Krieg? Von der Verkehrtheit der Menschen sagst du. Freilich, darin liegt die nächste Ursache. […] Mitten hinein in den immer mehr zunehmenden Unglauben und den Abfall von der Kirche und dem Christentum, mitten hinein in die hochgehenden Fluten der Sittenlosigkeit, die weite Kreise und Schichten der menschl. Gesellschaft erfaßt hat, schwingt der gerechte Gott die Zuchtrute. […] Der maßlose Aufwand, der unsinnige Luxus, die alle Schranken niederreißende Genußsucht, der sittliche Verfall, wie er sich in der wachsenden Häufigkeit der Ehescheidungen, dem Geburtenrückgang, der horrenden Zunahme der öffentlichen Unsittlichkeit kundgab, vor allem der religiöse Niedergang, der weiteste Kreise des deutschen Volkes in seinen unheilvollen Bann gezogen hatte, das, und viele andere Verfallserscheinungen, die das Schlimmste befürchten ließen“72.

Auch die deutschen Bischöfe sahen in ihrem gemeinsamen Kriegshirtenbrief „eine ihrem ganzen Wese nach unchristliche, undeutsche und ungesunde Überkultur mit ihrem äußeren Firnis und ihrer inneren Fäulnis, mit ihrer rohen Geldsucht und Genußsucht, mit ihrem ebenso anmaßenden wie lächerlichen Übermenschentum, mit ihrem ehrlosen Nachäffen einer fremdländischen [gemeint war die französische], verseuchten Literatur und Kunst und auch der schändlichsten Auswüchse der Frauenmode“ mitverantwortlich für den Krieg, den Gott nun als „Kriegsgericht“ über die „gottfeindlichen, irreligiösen, ungläubigen und unsittlichen Weltmächte“ hereinbrechen lasse73. Hier artikulierte sich noch einmal der Kulturpessimismus des katholischen Antimodernismus. Interessant ist, dass die Schuld zwar generalisierend für alle artikuliert, aber dennoch individualisiert wurde. Demgegenüber wurde bei gleicher Interpretation in Frankreich die Schuld kollektiv und strukturell gesehen, und auf den Staat bzw. den Laizismus bezogen.

Es waren vor allem die Bischöfe, die in ihren Hirtenbriefen „ein schwarzes Sittengemälde“ insbesondere der modischen Kultur, des Eheverständnisses und der Sexualität zeichneten. Es wurde also nicht zuerst der Krieg für den Niedergang der Moral verantwortlich gemacht, sondern andersherum: Weil die Menschen von Glaube und Sitte abgekommen waren, strafte Gott sie mit Krieg.

Die Perversion oder zumindest die Aporie einer solchen Kriegsdeutung brachte ein Soldat 1917 zum Ausdruck, als er schrieb:

„Etwas ironisch klang mal ein Artikel, wo dieser Krieg als eine Geißel, als furchtbare Strafe für die sündige Menschheit hingestellt wurde. Natürlich hat die Menschheit vor dem Kriege gesündigt. Aber ich frage: wann wurde mehr gesündigt, vor dem Krieg oder während dem Kriege? Ganz entschieden wurde nie mehr gesündigt als gerade in diesem unheilvollen Kriege. Mit welcher Geißel werden denn diese Sünden gestraft?“74

 

Freilich gab es auch theologisch vorsichtigere Stimmen. Nach den enormen menschlichen Verlusten an der West- und der Ostfront meinte zum Beispiel der Fuldaer Bonifatiusbote im Herbst 1915, das Argument, Gott wolle den Krieg, sei zu relativieren:

„Gott hat den Krieg nicht gewollt, er will auch nicht, daß derselbe so lange fortdauere. […] Aber dieser große, unendliche Gott hat dem Menschen einen freien Willen gegeben. […] Man bleibe also uns fern mit der gedankenlosen Phrase, der Krieg komme von Gott oder wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann müßte das Morden ein Ende haben. Wenn die Engländer erklären, wir geben nicht nach und wir wollen keinen Frieden, wenn Frankreich erklärt, bis zum endgültigen Siege dulden wir nicht, daß man vom Frieden spreche, wenn Rußland trotz seiner ungeheuren Niederlagen sich immer noch als halber Sieger wähnt, […] dann leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein, daß der Herrgott im Himmel mit der längeren Dauer des Krieges nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“75. – Eine selbstkritische Stimme, die aber doch eher eine Ausnahme zu sein scheint!

Die katholische Deutung des Krieges als „Appell zu Buße und Sühne“, als „Strafgericht Gottes über die sündige Menschheit“ und als „Anruf, die Tugenden der Christen zu bewähren“76 wurde allerdings lange Zeit beibehalten77. Sie wurde übrigens auch eingesetzt, um sich gegen die Feinde abzugrenzen, so wenn von der „Pariser Sitte“ die Rede war78.

Möglicherweise war diese Deutung allerdings auch eine Folge der Erfahrung des Kriegsbeginns, als es in ganz Deutschland zu einem großen Ansturm auf die Kirchen kam. Die Zahl der Taufen nahm sprunghaft zu, die Gottesdienste waren vielbesucht, die Sakramente wurden bewusst empfangen79. Auch wenn dieser „Massenandrang der Soldaten“, aber auch der Zivilisten, nicht unbedingt einen religiösen Ursprung gehabt haben muss80, legte sich die geschilderte Deutung doch nahe. Die Frage ist, wie in diesem Zusammenhang das bereits in den ersten Kriegsmonaten deutliche Nachlassen religiöser Betätigung der Soldaten, aber auch die Rückkehr der Daheimgebliebenen zu einem „religiösen Routineverhalten“ zu deuten ist. Als Beweis für den nichtreligiösen Ursprung des ersten Andrangs, also im Sinne eines „Akts der Vergemeinschaftung in der Unsicherheit und der Bedrohung“, oder als Beleg für eine rasche Verrohung der Soldaten unter den unmittelbaren Eindrücken des Krieges? Oder wurde die theologische Legitimierung des Krieges einfach zunehmend als „falsch“ erkannt und entlarvt? Schwand also im Zuge der Manifestation des Krieges als Dauerzustand das „Vertrauen in die göttliche Vorsehung“? Es wird wohl das eine wie das andere stimmen. Die zunehmenden Klagen über den sittlichen Verfall, sowohl zuhause bei den zurückgebliebenen Frauen, als auch bei den Soldaten im Feld, zeigen jedenfalls nicht nur, dass alle (vielleicht auch nur zweckoptimistischen) Hoffnungen des Klerus auf eine religiössittliche Erneuerung enttäuscht wurden, sondern dass auch die daran geknüpfte Kriegstheologie absurde Züge aufwies.

Paradigmatisch für den Krieg als „Anruf“ Gottes mag eine Predigt des Paderborner Bischofs Karl Joseph Schulte (1871–1941) stehen:

„Auch von heiligen Tagen, Tagen der Heiligung, darf Gott sei Dank gesprochen werden. In welch unübersehbaren Scharen und mit welch tiefem Ernste haben unsere wehrpflichtigen Männer uns Jünglinge – selbst solche, die Gott und der Kirche jahrelang entfremdet waren – vor dem Auszuge in den Krieg am Beichtstuhl und am Tisch des Herrn sich eingefunden! Der Gedanke an die Ewigkeit und an des Menschen letzte Dinge leuchtete blitzhell in Millionen Seelen auf, die dem Tode täglich nun ins Antlitz sehen müssen; er hat zahllose und unvergeßliche Wunder einer kindlich frommen Rückkehr zu Gott, dem Ewigen und Allbarmherzigen, bewirkt. Und die Daheimgebliebenen? Wann hat man je zuvor solchen Ernst im Lebenswandel, solche Anspruchslosigkeit, solchen Eifer im Guttun wahrgenommen? Wie sehnen sich jetzt die Gläubigen nach den übernatürlichen Kraft- und Trostquellen der heiligen Gnadenmittel der Kirche, wie drängen sie sich täglich am Morgen und am Abend zu den kirchlichen Stätten des Wortes Gottes, des gemeinsamen Gebetes und des heiligen Opfers!“81

Diese Argumentation wurde auch dann noch aufrechterhalten, als bereits in den ersten Kriegsmonaten ein deutliches Nachlassen der religiösen Betätigung der Soldaten82, ja ein deutlicher Sittenverfall83 zu bemerken war. Der Jesuit Peter Lippert (1879–1936) pries – nach über einem Jahr Kriegserfahrung – geradezu hymnisch die inneren „Errungenschaften“ des Krieges, die vielleicht größer seien als der äußerliche Sieg: Die „Hochspannung des Geistes“, den „rastlosen, unverdrossenen Arbeits- und Opferwillen“, das Aufhören von „Partei- und Bruderzwist“, die Überwindung sozialer und gesellschaftlicher Schranken, die „Kameradschaftlichkeit des ganzen Volkes“, die soziale „Gebe- und Opferfreudigkeit“, die sich allgemein zeige.

„Als vor vierzehn Monaten das gigantische Ringen anhob, da war es uns, als ob neue Morgenröten aufgingen hinter den Bergen, als ob neue Lebensquellen aufspringen wollten in allen Gründen, als ob neues Geisteswehen herangebraust käme von allen Höhen und Tiefen. Da fühlten wir uns, nach dem ersten ungeheuren und unfaßbaren Eindruck, wie neugeboren. Wir erwachten zu einer neuen Wirklichkeit. Wie wenn ein langer und böser Traum verflogen wäre und frische Morgenwinde uns die von Nichtigkeiten und Narrheiten heißgewordenen Stirnen kühlten. Wir sprachen erstaunt und beglückt von der Wiedergeburt des Volkes, von der politischen, sittlichen, religiösen Wiedergeburt. Und es war nicht alles Täuschung. So lange wir leben werden, wir Zeitgenossen dieses Krieges, werden wir Gott kniefällig zu danken haben, daß wir sie erleben durften, diese Zeit, wo wir unser Vaterland, unsere Seele, unsern Gott neu entdeckten“84.

Lippert sah allerdings die Gefährdung solcher Errungenschaften und er verband deshalb mit seinem Jubel sehr konkrete Vorstellungen, Erwartungen und Aufgaben an das Volk, vor allem aber an die ganze Seelsorgstätigkeit der Nachkriegszeit. Die gemachten Erfahrungen müssten seiner Ansicht nach auch zu einer Läuterung der Kirche, der Pastoral führen. Alles komme darauf an, „daß eine regelmäßige Seelsorge auch die Bevölkerungsschichten erfasse, die ihr bisher entgangen“ waren, „besonders in den Großstädten“. „Die Sammlung und Betreuung der in besonderem Maße Gefährdeten, der Zugewanderten und der schulentlassenen Jugend“ werde zu einer der dringendsten Aufgaben werden. Lippert forderte eine individuellere Gruppenseelsorge, das Ausschöpfen der liturgischen Möglichkeiten. Die von vielen Feldgeistlichen an den Tag gelegte „außergewöhnliche Rührigkeit, Weitherzigkeit und Entschlossenheit“ müsse weitergehen. Religiöse und liturgische Gebräuche und Gepflogenheiten hätten keinen Wert an sich, sondern müssten angetastet und an die veränderten Zeitverhältnisse angepasst werden. Es müsse ernst gemacht werden mit der gewonnenen Einsicht, „daß die Seelsorgsformen und Seelsorgsmittel für die Menschen da sind, nicht umgekehrt“85. Und dies habe auch Konsequenzen für die Theologenausbildung:

„Die wohltätige Mischung der Theologiestudierenden und Ordensbrüder mitten unter die Krieger aus den andern Ständen, die von reichem Segen gekrönte Bereitwilligkeit, mit der die Priester das Leben in den Schützengräben, die glühenden Märsche und die kalten Winterfahrten, die Gefahren und Strapazen geteilt haben mit den Regimentern und Divisionen, die ihrer Seelsorge anvertraut waren, all das hat uns aufs neue das Ziel gezeigt, zu dem wir unsere Priesteramtskandidaten erziehen, zum unmittelbaren Leben in und mit dem Volk, zu möglichst lebendiger Berührung mit dem Denken und Fühlen der Volksseele, zu einem gewandten und klug sich anpassenden Verkehr mit Angehörigen aller Stände und Bildungsschichten, vor allem aber zu selbstverleugnendem und opferwilligem Eingehen auf die abgrundtiefen Nöte des Menschenherzens und zu der unermüdlichen und unverdrossenen Arbeitsfreudigkeit und Unternehmenslust, wie sie unserem gesunden und begabten Volk eigen ist, und wie sie in erhöhtem Maße all denen zu eigen sein muß, die unter diesem Volke arbeiten, die dieses Volk führen sollen“86.