Buch lesen: «TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv»

Schriftart:

Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv

Herausgegeben von Michael Töteberg und Alexandra Vasa


TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. SONDERBAND

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-96707-429-1

E-ISBN 978-3-96707-431-4

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Axel Ruckaberle

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Michael Töteberg

Ein Gang durchs Archiv

Katrin von Boltenstern

»Niemals Germanisten ranlassen«. Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen

Michael Schwarz Adorno und die Archivierung des Ephemeren. Bemerkungen zu seinem Nachlass

Susanne Fischer Reste und Ränder. »Nichtiges Zeug« im Nachlass-Archiv Arno Schmidts

Thomas Ehrsam Vom Suchen und vom Finden. Erfahrungen in Nachlassarchiven

Holger Helbig / Katja Leuchtenberger / Antje Pautzke Kann ich das sehen? Über Aufmerksamkeit und Ordnung im Umgang mit dem Uwe Johnson-Archiv

Stephan Lesker »Das Archiv ist nutzlos, wenn wir es nicht auswerten«. Walter Kempowski öffnet sein Archiv

Alexandra Vasa Aus dem Archiv. Die Transformation von Dokumenten in der literarischen Fiktion

Sabine Wolf »Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen«. Archiv und Schreiben: Christa Wolf

Birgit Dahlke Autor*innenbibliothek als Archiv? Die Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität Berlin

Franziska Galek DDR-Verlagsarchive – alles nur Zensur? Einblicke in das Archiv des Henschelverlags Kunst und Gesellschaft im Literaturarchiv der Akademie der Künste

Christoph Hilse Verlagsarchive erschließen die Welt. Neue Forschungsansätze in einer sich ändernden Bestandspolitik am Deutschen Literaturarchiv Marbach

Michael Töteberg Die Erfindung der Nachkriegsliteratur. Verlagsinterna: das Voten-Archiv des Rowohlt Verlags

Gustav Frank / Stefan Scherer Zeitschriften als ›kleine Archive‹. Geschichte, Stellenwert und Funktion des ›Kleinen‹ im ›großen‹ Archiv

Anneka Metzger Mäandern in Archiven. Künstlerische Transformationen gespeicherten Wissens

Michael Töteberg Auswahlbibliografie

Notizen

Michael Töteberg

Ein Gang durchs Archiv

Das Archiv hat Konjunktur. War es früher lediglich ein Magazin, ein Aufbewahrungsort für literarische Hinterlassenschaften, den forschende Germanisten oder Aficionados aufsuchten, ist es heute ein Schauplatz auf der literarischen Szene und Feuilletonthema. Die Archive haben sich der Öffentlichkeit zugewandt, präsentieren auf ihren Websites kommentierte Fundstücke oder haben einen Blog. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht per Pressemitteilung über Neuerwerbungen informiert wird.

Sammlungspolitik und Ankaufspraxis haben sich geändert: Wurden früher Schätze aus der Vergangenheit konserviert, öffnet sich das Archiv der Gegenwart. Neben Nachlässen von Berühmtheiten wurden immer schon auch Vorlässe erworben, allerdings von Autoren, die bereits über ein Lebenswerk verfügen. Kaum überrascht, dass die Vorlässe von Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt werden. Doch immer wieder liest man, dass Autor*innen, deren literarische Arbeit noch längst nicht abgeschlossen ist, ihre Papiere bereits ans Marbacher Archiv gegeben haben: Martin Mosebach und Durs Grünbein zum Beispiel, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht. Die Motive der Autoren erklärt Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung, ganz prosaisch: »Platzbedarf, Geldbedarf, Ruhmbedarf«.1 Marbach als modernes Pantheon. »Die (Selbst)Einlieferung des Vorlasses ist gewissermaßen eine Bewerbung auf einen Platz im Kanon.«2

Das drückt den Preis, die Ankäufer wissen darum. »Sie nehmen gern von den Lebendigen«, bekennt Ulrich Raulff, ehemals Direktor in Marbach, in einem Aufsatz zu den »Ökonomien des literarischen Archivs«.3 Die Neuerwerbung kann sich auch als Fehlspekulation erweisen, wie Hanna Engelmeier ausführt. Die Ankäufer »gehen eine Wette ein, deren Einsatz höher ausfällt als bei Nachlässen. Sie wetten darauf, dass mit dem Tod der vorlassgebenden Person eine Nachfrage von Seiten der Forschung eintreten wird, durch die sich die Investition in die Archivierung langfristig amortisiert.«4

In Literatenkreisen wird gescherzt: Ist das für Marbach oder kann das weg? Angesichts mancher Elaborate aus der Vergangenheit wird mancher Autor, manche Autorin sich fragen: Ist das für Marbach oder sollte das nicht lieber weg? Es muss ja nicht jede Peinlichkeit, jeder erste, noch unbeholfen suchende Entwurf der Nachwelt überliefert werden. Zum Nachlassbewusstsein gehört auch zu vernichten, was nicht ins Archiv soll – Geheimnisse bewahren, nicht alles offenlegen, wenn es nicht gar darum geht, Korrekturen am Lebenslauf und Schaffensprozess vorzunehmen.

Das Literaturarchiv in Marbach wächst Jahr für Jahr um 1300 Regalmeter. Offiziellen Angaben zufolge ruhen in rund 44 000 Archivkästen mehr als 1000 Nachlässe, Sammlungen von Schriftstellern oder Übersetzern. Wer schafft es ins »Endlager der deutschen Literatur«?5 Philosophen, Germanisten und Gelehrte hat Marbach immer schon gesammelt, den Anfang machte Martin Heidegger, und natürlich gehört das Archiv von Peter Sloterdijk hierher. Aber Rio Reiser? Der Musiker wählte sein Pseudonym nach dem Roman »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz und schrieb neben Liedtexten auch Stücke fürs Straßentheater; nun befindet sich sein Nachlass inklusive Konzertmitschnitten, Musikvideos und Filmen im Literaturarchiv. Noch vor ein paar Jahren wäre Rio Reiser (bzw. seine Erben) abgewiesen worden. In einer langen Kette von Traditionen und Traditionsbrüchen stellt sich immer neu die Frage: Was ist Literatur? Die Literaturarchive müssen diese Frage ebenfalls stellen – und beantworten: durch Aufnahme oder Absage von Angeboten.

Über Geld spricht man in Marbach nicht, aus gutem Grund; manchmal werden trotzdem Zahlen bekannt. Ist der Bund an einem Ankauf beteiligt, so lassen sich aus dessen Anteil Rückschlüsse ziehen.6 Für acht Millionen Euro erwarb Marbach 2009 die Archive der Verlage Suhrkamp und Insel. Zuvor wurden sie am Verlagssitz in Frankfurt am Main verwaltet, als Dauerleihgabe in der Goethe-Universität, ebenso das Uwe-Johnson-Archiv, das Siegfried Unseld bereits 1984 als Depositum übergeben hatte.7 Die Mittel für den Ankauf kamen vom Land Baden-Württemberg, vom Bund, aus Stiftungen und von privaten Sponsoren. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach richtete – in Kooperation mit mehreren Universitäten – ein Promotionskolleg zur Erschließung der Verlagsarchive ein, für das die Volkswagen-Stiftung 950 000 Euro zur Verfügung stellte. Knapp drei Jahre später wurde das Johnson-Archiv wieder abgezogen – es fehlten Marbach die finanziellen Mittel, um es zusätzlich zum Verlagsarchiv zu erwerben – und wanderte zur Universität Rostock, wo Uwe Johnson einstmals Germanistik studierte.

Das verstärkte Interesse an Verlagsarchiven bezeugt auch einen Blickwechsel: Galt das Interesse früher der individuellen Dichterpersönlichkeit und der Werkgenese, waren entsprechend Manuskripte und Briefwechsel die bevorzugten Sammelobjekte, so rückt zunehmend der Kontext literarischer Produktion und die Vernetzung im Literaturbetrieb in den Fokus. Im wissenschaftlichen Umgang mit Verlagsarchiven haben, wie der Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis betont, die alten Bundesländer Nachholbedarf: »Dass seit 1990 schlagartig zahlreiche Archive von DDR-Verlagen und staatlichen Kulturinstitutionen zur Verfügung standen und erforscht werden konnten, hatte im Westen zunächst keine Parallele.«8 »Eine Archivexpedition« unternahmen das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin gemeinsam ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung.9 Die DDR ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet mit einer besonderen Quelle. »Zu den größten deutschen Literaturarchiven zählt das Bundesarchiv mit seiner Dienststelle Berlin-Lichterfelde. Hier lagern die Druckgenehmigungsakten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur. Fast zu jedem Buch, das zwischen 1951 und 1989 in der DDR erschienen ist (…), finden sich hier ein Antrag, manchmal das Manuskript und mindestens zwei Gutachten.«10 Lokatis schätzt, dass die Hinterlassenschaft der Hauptverwaltung im Bundesarchiv allein für die Schöne Literatur 20 000 Druckgenehmigungsvorgänge umfasst.

Zurück zur Gegenwart, die im Archiv zur Vergangenheit wird. Zur Einlieferung von Christian Kracht,11 der zuvor schon seine in Nepal gesammelte »Kathmandu Library« Marbach überließ, gehört, was man von einem Schriftsteller erwarten kann: Typo- und Manuskripte, darunter »Vampyr«, ein erster Entwurf zum Roman »Die Toten«, das Korrekturexemplar des Romans mit Anmerkungen des Lektors, ein Drehbuch, frühe Essays, Notizbücher sowie, bei Kracht wenig überraschend, Reiseunterlagen, Flugtickets, Visitenkarten von Hotels aus aller Welt. Urkunden und Bescheinigungen, von einer argentinischen Pilotenschule und der Besteigung des Kilimandscharo, außerdem im grünen Karton eine kleine Figur: Sigmund Freud in Plastik, noch eingeschweißt. Was geschieht nun mit dem Nippes? Auch Plastik-Freud wird ordentlich katalogisiert und archiviert und somit der Nachwelt überliefert »Mag sein (…), daß die Literatur das Archiv als wilder Kerl betritt«, sinniert Raulff in seinem Essay »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«: »Aber wenn sie es verlässt, ist sie eine Kulturtatsache.«12

Das Archiv – eine Begriffsverwirrung

»Das Archiv zirkuliert. Der Schlüsselbegriff der Wissensgeschichte kursiert in Philosophie und Epistemologie, in Kunst- und Kulturwissenschaft, in Medien-, Wissenschaftsgeschichte. In allen diesen Bereichen ist er zur geläufigen Metapher für kulturelles Gedächtnis, Bibliothek und Museum, ja für jede Art der Speicherung geworden«, beklagen Knut Ebeling und Stephan Günzel in ihrer Einleitung zu dem Band »Archivologie«.13 Schon der Titel ihres Buches verweist auf Jacques Derrida und dessen Buch »Dem Archiv verschrieben«. Die von ihm projektierte Archivologie verstand er als »eine allgemeine und interdisziplinäre Wissenschaft des Archivs«.14

Vorausgegangen war ein viel zitiertes Diktum von Michel Foucault, das den Diskurs in den 1990er Jahren bestimmte. Archiv bezeichnet bei ihm nicht einen materiellen Aufbewahrungsort, sondern er verwendet den Begriff metaphorisch. Denn unter Archiven versteht Foucault »nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will«.15 Der Philosoph betont, dass er ebenfalls »nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit (…) bewahrt hat«, als Archive bezeichnen würde.16 Foucault begreift das Archiv als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«, als »System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht«. Jenseits der abstrakten Metapher hat Foucault mit seinem Text das traditionelle Verständnis des real existierenden Archivs erschüttert. »Das Archiv ist nicht der Ort, auf den man stets zurückgreifen kann, um die Fakten zu finden, es ist der aktive Vorgang, welcher für eine permanente Umschichtung und fortlaufende Transformation der Fakten sorgt.«17

Derrida schreibt Foucault fort, wenn er konstatiert: »Eine Wissenschaft des Archivs muß die Theorie dieser Institutionalisierung, das heißt zugleich die Theorie des Gesetzes, das sich anfangs darin einschreibt, und des dadurch autorisierten Rechts, einschließen.«18 Er koppelt das »Gesetz des Sagbaren« wieder an das reale Archiv: »In der Überkreuzung des Topologischen und des Nomologischen, vor Ort und Gesetz, Träger und Autorität, wird ein Schauplatz verbindlicher Ansiedlung sichtbar und unsichtbar zugleich.«19 Das Archiv ist ein Ort der Produktion einer Erzählung, es entscheidet, was und »in welcher Form Geschichte verfügbar ist und was unter Verschluss bleibt«.20 Schon der Untertitel von Derridas Buch: »Eine Freudsche Impression« offenbart, dass Verdrängung dessen, was nicht ins Archiv kommt, ebenso aussagekräftig ist wie die dort bewahrten Archivalien.

Das Archiv ist Aleida Assmann zufolge »ein kollektiver Wissensspeicher«.21 Prinzipiell lassen sich zwei Arten von »institutionalisierte(m) Gedächtnis« feststellen, das »Funktionsgedächtnis« und das »Speichergedächtnis«.22 Ersteres zeichnet sich durch einen »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« aus.23 »In totalitären Staaten, die eine zentrale Kontrolle über das soziale und kulturelle Gedächtnis ausüben, oder dort, wo die Kriterien der Aufnahme zu einer engen Begrenzung führen, wird das Archiv die Form eines Funktionsgedächtnisses annehmen.«24 Das Speichergedächtnis wiederum ist ein »Gedächtnis zweiter Ordnung (…), das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«.25 Die Zuordnungen sind jedoch nicht beständig, ein Übergang in beide Richtungen ist möglich.

Boris Groys kritisiert Foucaults Definition. Denn einerseits betone die poststrukturalistische Theorie die »Materialität der Zeichen« und auch Foucault definiere das Archiv als »System der Zeichen«.26 Dennoch soll es »auf einen verborgenen Träger eingeschrieben« sein, »der nirgendwo aufbewahrt, unzerstörbar und immer abrufbar ist. Ein solcher Träger ist aber nur denkbar (…), auf keinen Fall materiell vorstellbar.« Für Groys hingegen ist das Archiv »real existierend (…) und in diesem Sinne auch durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle möglichen Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden können«. Die Forderung nach dem Neuen setze ein, »wenn alte Werte archiviert und dadurch vor der zerstörerischen Arbeit der Zeit geschützt werden. Wo keine Archive existieren oder sie in ihrer physischen Existenz bedroht sind, wird die Weitervermittlung der intakten Tradition vorgezogen.«27 Das Neue ist Groys zufolge »der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde«.28 »Das kulturelle Gedächtnis ist die Erinnerung an diese Vergleiche« und es bewahrt das Neue, sofern es sich um einen neuen Vergleich handelt.

Moritz Baßler, der im kritischen Impuls gegenüber der dekonstruktivistischen Theorie Boris Groys folgt, legt seinen Untersuchungen einen »pragmatischen Archivbegriff« zugrunde. »Was nicht im Archiv ist, kann kulturwissenschaftlich nicht behandelt werden.«29 Seine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie kann hier nicht behandelt werden, angestrichen habe ich mir einen von Baßler zitierten Satz aus Wolfgang Ernsts Buch »Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung«: »Potentielle Aktualität ist der Aggregatzustand, in dem die Archivdaten verharren – eine Lage radikaler Latenz.«30 Baßler hat – ganz ohne Theorie, vielmehr als empathischer Leser – in den Autoren des deutschen Pop-Romans »die neuen Archivisten« ausgemacht.31

Das Schlusswort erhält Thomas Kling: »Alles ist Archiv. Alles ist im Begriff, Archiv zu werden.«32

Das Archiv im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit

Die Komplexität von Schriftstellernachlässen lässt sich mit den klassischen Kategorien archivarischer Erschließung nur schwer abbilden. Diente die Digitalisierung von Archivbeständen ursprünglich nur der Sicherung und Schonung der Originale, sind im digitalen Archiv aufschlussreiche Kontextualisierungen möglich. Ein Dokument im digitalen Archiv enthält, sofern es sich nicht um eine mechanische Kopie, ein bloßes PDF des Papierdokuments handelt, mehr Informationen als das Original, denn das Digitalisat ist auf Stichworte aller Art durchsuchbar und lässt sich mit anderen Texten und Quellen verlinken. Die Einbindung von Daten und Metadaten aus verschiedenen Beständen lässt Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge sichtbar werden und ermöglicht die virtuelle Rekonstruktion eines verstreuten Gesamtnachlasses.

Neue, zum Teil noch nicht abgeschlossene Projekte gelten Autorinnen und Autoren, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen mussten und nach einem Brecht-Wort die Länder öfter als die Schuhe wechselten. Um den Nachlass von Heinrich Mann einzusehen, musste man bislang Archive in Berlin und Frankfurt, Los Angeles und Moskau, Zürich und Marbach, Prag und München aufsuchen. Ein internationales Kooperationsprojekt – beteiligt sind die Akademie der Künste Berlin, wo allein 30 000 Scans angefertigt werden, die University of Southern California, das Archiv im Museum tschechischer Literatur in Prag, die Feuchtwanger Memorial Library und andere Institutionen – ermöglicht die virtuelle Zusammenführung der zerstreuten Bestände. Ganz ähnlich »Stefan Zweig digital«, ein Informations- und Forschungsportal. Es beruht auf einer Initiative des Literaturarchivs Salzburg und ergänzt die eigenen Bestände mit den in der Daniel Reed Library in Fredonia / New York und der National Library of Israel bewahrten Manuskripten. Mit »Poetic Textures: Else Lasker-Schüler Archives«33 öffnen die National Library of Israel und das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine gemeinsame Plattform, welche die Bestände beider Institutionen digital vereint. Wer Lasker-Schülers Briefwechsel mit Martin Buber, Albert Einstein oder Thomas Mann lesen wollte, musste nach Jerusalem reisen, wer die Korrespondenz mit Sylvain Guggenheim, Franz Marc, oder Karl Wolfskehl einsehen wollte, nach Marbach. Dabei wird nicht nur das literarische Werk präsentiert, zum Beispiel das kommentierte Typoskript von »Mein blaues Klavier«, sondern die bewusst hybride Form der Kunst Else Lasker-Schülers deutlich: Die Manuskripte, Briefe, Telegramme, Fragmente, Collagen und Zeichnungen offenbaren die Auflösung von Grenzen zwischen Leben und Kunst, Schrift und Zeichnung, inszeniertem Selbst und imaginären Figuren.

»Alles erschlossen, alles digitalisiert«,34 verkündet das Thomas-Mann-Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich: gut 31 000 Korrespondenzstücke, rund 2500 Werkmanuskripte, dazu Tagebücher und Notizen, von Thomas Mann gesammelte Werkmaterialien und über 83 000 Zeitungsausschnitte. Die Datenbank Thomas-Mann-Archiv Online (ethz.ch) stellt eine elektronische Abbildung des Archivbestands dar. In einer hierarchischen Baumstruktur steht die oberste Stufe für das Thomas-Mann-Archiv; durch Öffnen der darunterliegenden Stufen werden die verschiedenen Bestände, Teilbestände, Dossiers und Einzelstücke sichtbar. Je weiter man in die Tiefe der Teilbestände geht, desto spezifischer werden die Informationen. Auf der untersten Tektonikstufe sind Informationen zum ausgewählten Dokument erfasst, verbunden mit Zusatzinformationen wie Verweisen auf andere Dokumente oder Veröffentlichungen.

Mit der detaillierten Suche können Treffer eingeschränkt werden nach Typ, Zeitraum und Suchbereich. Man kann aber auch die Volltextsuche nutzen und so durch die Bestände surfen. Bei dem Stichwort »Film« erzielt man 1391 Treffer, gibt man im Suchfeld »Film Krull« ein, reduziert es sich auf 58 Treffer. Verzeichnet wird, ob ein Brief im Original oder als Durchschlag vorliegt; gibt es dazu einen Entwurf, eine Abschrift oder ein Fragment, werden diese in einem Dossier zusammengefasst. Im Archiv nicht vorhandene, aber publizierte Briefe sind ebenfalls erfasst.

Die Digitalisate zu den Beständen sind jedoch nur im Lesesaal des Thomas-Mann-Archivs einsehbar, nicht online. Thomas-Mann-Archiv Online ist ein digitales Findbuch, das nicht den Besuch des Archivs vor Ort erspart.35 Zugleich ist es eine Plattform, die Sekundärliteratur in bisher nicht gekanntem Umfang abbildet: eine online verfügbare Ressource für die literaturwissenschaftliche Forschung.

Ein anderes Pionierprojekt gilt einem lebenden Autor: Peter Handke. Er hat seinen Vorlass an verschiedenen Orten deponiert; auf der Plattform Handkeonline36 werden sie zusammengeführt: der Bestand im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (der wiederum aus zwei Beständen, einer Privatsammlung von Handkes ehemaligem Vermieter und der vom Dichter angekauften »Chaville«-Sammlung besteht) mit den in Marbach verwahrten Notizbüchern sowie einigen »Splitterbeständen«.37 Neben dem Modul »Werke und Materialien« gibt es Themenfelder wie »Handkes Orte« oder »Werkzeuge des Schreibens«. Im Modul »Notizbücher 1971–1990« werden die 66 Exemplare aus der Zeit tabellarisch erfasst und ihr Inhalt beschrieben, dazu gibt es Beispielseiten als Faksimiles. (2017 übergab Handke dem Marbacher Archiv 154 Notizbücher aus den Jahren 1991–2015, die noch nicht öffentlich einsehbar sind.)38

War bisher von der Digitalisierung von Papier die Rede, so muss sich das Archiv zunehmend auf Born-digital-Materialien einstellen, die auf dem Computer geschrieben wurden. Damit verändern sich die Methoden zur Erschließung, Sicherung und Aufbereitung von Archivalien radikal. Ein großes Problem stellen veraltete Dateiformate dar. Nicht mehr lesbare Disketten verzeichnet das Findbuch zum Nachlass von Thomas Brasch in der Akademie der Künste. Hier sind EDV-Experten gefragt, die mit alten Floppy-Disks ebenso umgehen können wie mit den heutigen USB-Sticks und »digitale Forensik« beherrschen. Nur ein Beispiel dafür, welche Herausforderungen auf das Archiv zukommen: Friedrich Kittlers Nachlass besteht aus neun Festplatten, 648 Disketten, 100 CD-ROMs, 1,1 Terabyte umfassende Dateien und wird Marbach über Jahre beschäftigen.

Das konventionelle Archiv war und ist gefährdet durch Diebstahl, unsachgemäße Lagerung, Feuer- und Wasserschaden oder Katastrophen wie im März 2009 der Einsturz des Kölner Stadtarchivs (wobei unter anderem das Verlagsarchiv von Kiepenheuer & Witsch sowie das Heinrich-Böll-Archiv vernichtet wurde). Das digitale Archiv ist anderen Gefährdungen ausgesetzt. Die Entmagnetisierung schreitet schneller voran als der Zerfall von Papier, noch schneller ist die technische Entwicklung. Inzwischen sind mit »Open Archival Information Systems« Standards für die Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen entwickelt worden, die über die langfristige Lesbarkeit hinausgehen: Das »Archival Information Package« enthält neben den eigentlichen Daten auch verborgene Informationen zur Bearbeitungsgeschichte, um so die Integrität und Authentizität des Digitalisats zu gewährleisten.39

Galten bisher Archive als »hermetisch abgeriegelte Räume, die die alleinigen Bedingungen der Einsicht ihrer Inhalte sowie die Autorität über deren Ordnung besitzen«,40 so ist der Besuch des digitalen Archivs weder an den Ort noch an Öffnungszeiten gebunden. Der Nutzer kann sich in diesen Räumen frei bewegen und seinen Interessen nachgehen. Gewissen Vorgaben entkommt er jedoch nicht: Der Webmaster hat entschieden, welche verstreuten Materialien wie virtuell zusammengeführt werden und welche Ordnungs- und Sortierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. »Somit büßt das Archiv seine Definitionsmacht nicht ein, sondern passt seine Funktionsweisen den Anforderungen und der Logik des Raumes an«41 und verliert keineswegs die Deutungshoheit über das Archivgut.

Bekam der Benutzer früher eine Mappe mit den Dokumenten, die er im Lesesaal – mit weißen Handschuhen, unter Aufsicht – durchblättern und die Originale in die Hand nehmen konnte, muss er sich nun mit dem Digitalisat begnügen. Ein Verlust der Aura. Allein schon, dass das Material überall im ortlosen Internet einsehbar ist, bewirkt dies.42 Zudem ist es kein Relikt der Vergangenheit mehr, sondern aufbereitet und transformiert in eine abstrakte Datenstruktur. Georg Vogeler hat die Frage aufgeworfen, wieweit »das Digitale Archiv als Vermittler zwischen Entstehungszusammenhang und forschender Benutzung nicht die Anschauung von Archivgut substanziell verändert«.43

Das Original wird zum Ausstellungsobjekt, die digitale Kopie ist für die Forschung. Im Literaturmuseum unterscheidet sich das Manuskriptblatt nicht von anderen Reliquien aus dem Dichterleben. Handschriften Hölderlins oder ein Brief Kafkas konkurrieren als Schauobjekt mit Schillers Schreibfeder, dem Henkersbeil mit Christian Morgensterns »Galgenliedern« und Ernst Jüngers Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg (mit Einschusslöchern). Überhaupt Waffen: Kurt Tucholskys Revolver wird in der Akademie der Künste Berlin verwahrt, die Waffe, mit der sich Wolfgang Herrndorf erschoss, in Marbach. Das Werkzeug, mit dem der Schriftsteller sein Leben beendete, besitzt das Literaturarchiv, jedoch nicht eine einzige Zeile Text von ihm.44