Sprachtherapie mit Kindern

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

phonologische Schleife des Arbeitsgedächtnisses Im zuvor genannten Beispiel wird zudem deutlich, dass die komplexe Aufgabe der allmählichen Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen einen stetigen Einbezug der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses erfordert.

So muss Anton das Wort „Nikolaus“, das er von seinen Bezugspersonen hört, in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses aufrecht halten. Gleichzeitig muss er in seinem mentalen Lexikon den bereits abgelegten Eintrag suchen und dessen aktuell gespeicherte phonologische Wortform aktivieren (z. B. / laus / ). Nun kann er beide Wortformen miteinander vergleichen und feststellen, an welcher Stelle sie sich voneinander unterscheiden, so dass er seinen aktuellen Eintrag überarbeiten und in veränderter Form abspeichern kann (z. B. zu / kolaus / ).

Die phonologische Schleife des Arbeitsgedächtnisses spielt somit eine zentrale Rolle für den Wortschatzerwerb. Sie ist für das Verstehen von Wörtern notwendig und sie ist grundlegend für den Erwerb neuer Wörter sowie die allmähliche Ausdifferenzierung phonologischer Wortformen (Baddeley et al. 1998; Rothweiler 2001):

„Nur auf der Basis einer adäquaten, temporären phonologischen Speicherung im Arbeitsgedächtnis gelingt die Konstruktion eines stabilen Wortformeintrags“ (Rothweiler 2001, 68).

Differenzierte phonologische Repräsentationen können somit nur dann aufgebaut werden, wenn die phonologische Wortform ausreichend lang in der phonologischen Schleife gehalten werden kann, um die Lautstruktur zu analysieren und reihenfolgengenau im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Vor allem im frühen Wortschatzererb zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Speicherkapazität des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses und dem Umfang des produktiven Wortschatzes (Adams / Gathercole 1995). Ab dem Vorschul- und Grundschulalter trägt dann auch der Umfang des bereits vorhandenen lexikalischen Wissens dazu bei, den Lernprozess für neue Wörter zu erleichtern (Gathercole et al. 1997). Über die phonologische Schleife hinaus ist die phonologische Informationsverarbeitung noch in weiterer Hinsicht am Wortschatzerwerb beteiligt. So ermöglichen es die Fortschritte des Kindes bei der Ausdifferenzierung seines phonologischen Systems und der Überwindung phonologischer Prozesse, immer zielgenauere phonologische Repräsentationen abzuspeichern (Beitrag 1). Auch die Konsequenz, mit der die Kinder ein und dasselbe Wort mit der gleichen Wortform realisieren, nimmt im Zuge dessen zu (Fox-Boyer / Schäfer 2015). Zunehmende Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit ermöglichen es, immer kleinere Einheiten der phonologischen Wortformen in den Blick zu nehmen, zu segmentieren und zu analysieren (Schäfer 2014). Die Zugriffsgeschwindigkeit auf phonologische Informationen schließlich scheint eine Rolle bei der Automatisierung von Wortabrufprozessen zu spielen (Glück 2010; Beier / Siegmüller 2013).

individuelle Variabilität Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zeigt sich eine erhebliche individuelle Variabilität bezüglich des Lexikonumfangs. So ermittelten Bates et al. (1994) in einer englischsprachigen Studie an 1803 Kindern einen durchschnittlichen Wortschatzumfang eines 24 Monate alten Kindes von 311 Wörtern, die Bandbreite lag jedoch zwischen 57 Wörtern bei den unteren 10 % aller Kinder und 534 Wörtern bei den oberen 10 % der Zweijährigen. Deutschsprachige Untersuchungen fanden einen Mittelwert von 214 Wörtern im Alter von 24 Monaten bei einer Spanne von vier bis 458 Wörtern (Szagun et al. 2009; von Suchodoletz 2010; Kauschke 2012).


Übereinstimmend hat man sich in der Fachliteratur darauf geeinigt, Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter produktiv verwenden oder keine Zweiwortkombinationen bilden, als Late Talker zu bezeichnen (Kap. 2).

Hinsichtlich der Wortartenverteilung im kindlichen Lexikon überwiegen im ersten Lebensjahr Objektwörter (Nomen) sowie personal-soziale Wörter. Im zweiten und dritten Lebensjahr wächst der Verbwortschatz deutlich an, bevor gegen Ende des dritten Lebensjahres auch immer mehr Funktionswörter hinzukommen (Kauschke 2015).

1.2.4 Ausbau und Strukturierung im Vorschul- und Schulalter

Im Vorschul- und Schulalter setzt sich der rasche Ausbau des Wortschatzumfangs weiter fort. Rice / Hoffman (2015) konnten dokumentieren, dass sich dieser rasante Zuwachs des Wortschatzes erst im Alter von zwölf Jahren signifikant verlangsamt. Der rezeptive Wortschatzumfang eines Schulanfängers wird auf etwa 9.000 bis 14.0000 Wörter geschätzt (Clark 1993; Pinker 1994) – in jedem Schuljahr kommen etwa 3000 neue Wörter hinzu (Anglin 2005; Nippold 2007). Hierzu gehören nun auch immer mehr bildungssprachliche Ausdrücke, Abstrakta, Fachtermini und Fremdwörter (Glück / Spreer 2015). Um sich die Bedeutung von neuen Wörtern erschließen zu können, bedienen sich Kinder aktiver Erwerbsstrategien wie dem Nachfragen (Ulrich 2012; Rupp 2013; Motsch et al. 2016).

kreative Wortbildungsprozesse Fortschritte in der morphologisch-syntaktischen Entwicklung ermöglichen es, aus der grammatischen Struktur von Äußerungen Hinweise auf Wortbedeutungen zu ziehen (syntaktisches bootstrapping, z. B. Nippold 2007; Rupp 2013). Zudem können kreative Wortbildungsprozesse wie Komposition und Derivation genutzt werden, um aus vorhandenen Wörtern neue Wörter zu „erschaffen“ und so Lücken im Lexikon zu überbrücken (Kauschke 2000, 2015; Rothweiler / Kauschke 2007). Komplexe Wörter, die aus mehreren Morphemen zusammengesetzt sind, können in ihre einzelnen Bestandteile zergliedert und so besser analysiert werden (Rothweiler 2001). Durch die immer stärkere Ablösung der Wortbedeutung von konkreten Situationen verstehen Kinder ab dem Schulalter nun auch metaphorische oder übertragene Bedeutungen, Ironie und Pointen von Witzen (Kauschke 2000). Für das Wortlernen verliert das konkrete Handeln in Interaktionskontexten immer mehr an Bedeutung; stattdessen werden zunehmend Beobachtungen sowie Gespräche mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen für das Wortlernen genutzt (Anglin 2005; Marks 2017).

Auch die zunehmenden schriftsprachlichen Fertigkeiten der Kinder unterstützen den raschen Ausbau des kindlichen Wortschatzes. Spätestens ab dem Alter von acht Jahren wird das Lesen für viele Kinder zu der primären Quelle der Wortschatzerweiterung (Anglin 2005). Mithilfe des Lesens eignen sich Kinder insbesondere über die Alltagssprache hinausgehende, bildungssprachliche Ausdrücke sowie eine Vielzahl von fachspezifischen Begriffen an (Glück / Spreer 2015; auch Nippold 2007; Vadasy / Nelson 2012).

Umstrukturierung des Lexikons Mit der Zunahme des Lexikonumfangs steigt die Notwendigkeit, vorhandene Einträge zu organisieren und zu strukturieren. Während im Lexikon jüngerer Kinder in erster Linie thematische Gliederungsstrukturen dominieren, gewinnen ab dem Vorschulalter kategoriale Aspekte bei der Organisation des Lexikons eine immer größere Bedeutung.

Thematisches – kategoriales Sortieren: Anton, drei Jahre alt, sortiert Bildkarten nach thematischer Zugehörigkeit: Hund, Katze, Futternapf gehören für ihn zusammen. Sein älterer Bruder Lasse, sechs Jahre alt, legt nur die Bildkarten von Hund und Katze zusammen („Das sind beides Tiere.“).

Diese Umstrukturierung in Richtung einer hierarchischen Organisation vor allem des Nomenwortschatzes wird als „syntagmatic-paradigmatic shift“ oder „thematic-taxonomic shift“ bezeichnet (Glück 2010; Ulrich 2012). Bis in das Erwachsenenalter hinein behalten thematische Gliederungsstrukturen aber dennoch eine wichtige Funktion für die Speicherung, Verknüpfung und den Abruf von Wörtern.

 

1.3 Voraussetzungen für erfolgreiches Einspeichern und Abrufen von Wörtern

Wie in Kapitel 1.2 beschrieben, ermöglicht das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren im ungestörten Spracherwerb eine sichere Einspeicherung der Lexikoneinträge (Abb. 8).

Abb. 8: Faktoren für das erfolgreiche Einspeichern von Wörtern

Je differenzierter und facettenreicher das Wissen zu einem Wort ist und je mehr Verknüpfungen zu anderen, bereits vorhandenen Einträgen hergestellt werden können, umso tiefer wird dieses Wort im Netzwerk des mentalen Lexikons gespeichert. Der regelmäßige Gebrauch eines Wortes führt sowohl zu einer vertieften Einspeicherung als auch zu einer erhöhten Abrufstärke dieses Eintrags (Dannenbauer 1997; Nippold 2007).


Die Erhöhung der Verwendungshäufigkeit eines Wortes führt sowohl zu einer tieferen Einspeicherung als auch zu einem verbesserten Zugriff auf dieses Wort.

Abrufkapazität Die Abrufkapazität eines Wortes kann zudem von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst werden (Nippold 2007). Hierzu gehört die Frage danach, ob externe oder eigens generierte Hinweisreize vorhanden sind, um eine ausreichende Aktivierung des Eintrags zu erreichen (Kap. 1.1). Erhalten mehrere ähnliche Einträge ein vergleichbar hohes Maß an Aktivierung, kann dieser „Wettstreit“ der Einträge den Abruf des Zielwortes beeinträchtigen. Zudem spielt der Zeitpunkt des Erwerbs eine Rolle: Während früh gelernte Wörter in der Regel häufiger gebraucht wurden, dadurch tiefer eingespeichert und leichter abrufbar sind, fällt der Abruf von neu gelerntem Gedächtnismaterial oftmals aufgrund der noch „frischen“ Gedächtnisspuren leichter (Ulrich 2012). Intrinsische Motivation und Interesse, emotionaler Druck und Stress gehören zu externen Einflussfaktoren auf den Wort abruf (Dannenbauer 1997; Ulrich 2012). Jedoch auch die Beschaffenheit des Wortmaterials selbst kann den Abruf erleichtern oder erschweren. Bei der Auswahl von exemplarischem Wortmaterial können folgende Einflussfaktoren auf den Wortabruf berücksichtigt / kontrolliert werden:

■ Wortfrequenz,

■ Erwerbsalter,

■ Anzahl phonologisch ähnlicher Wörter (= phonologische Nachbarschaftsdichte),

■ Frequenz der phonologischen Nachbarn,

■ phonotaktische Regularität der Lautstruktur,

■ Wortlänge,

■ Konkretheit,

■ Vertrautheit,

■ Regularität des Betonungsmusters.


Beier J., Siegmüller, J. (2013): Kindliche Wortfindungsstörungen. In: Ringmann, S., Siegmüller, J. (Hrsg.), 79-102

Dannenbauer, F. M. (1997): Mentales Lexikon und Wortfindungsprobleme bei

Kindern. Die Sprachheilarbeit 42 (1), 4-21

Glück, C. W. (2010): Kindliche Wortfindungsstörungen. Ein Bericht des aktuellen Erkenntnisstandes zu Grundlagen, Diagnostik und Therapie. 4. Aufl. Peter Lang, Bern

Siegmüller, J. (2005): Einflüsse von Frequenz und Erwerbsalter auf das Benennen bei Kindern mit Wortfindungsstörungen. Logos Interdisziplinär 13 (1), 15-20

Ulrich, T. (2012): Effektivität lexikalischer Strategietherapie im Vorschulalter. Eine randomisierte und kontrollierte Interventionsstudie. Shaker, Aachen

Abrufqualität Die Abrufqualität setzt sich zusammen aus den Komponenten der Abrufgenauigkeit und der Abrufgeschwindigkeit. Für die allmähliche Zunahme beider Komponenten im Rahmen des Spracherwerbs wird der zunehmende Einsatz von Speicher- und Abrufstrategien verantwortlich gemacht (Glück 2010; Ulrich 2012):

■ Speicherstrategien: z. B.

– Memorieren: mehrfaches Vorsprechen (laut oder leise, rehearsal), mehrfaches Hören / Aufschreiben / Lesen des Wortes,

– Elaborieren: Verknüpfen mit bereits vorhandenem Wissen im Netzwerk, Ausdifferenzieren der Einträge (z. B. Eselsbrücken, Suche nach ähnlichen Wörtern, Suche nach passendem Satzrahmen),

– Segmentieren: umfangreiche Informationen zu kleinen „Päckchen“ schnüren (z. B. Gruppieren von Elementen, Rhythmisieren, silbisches Sprechen);

■ Abrufstrategien: z. B.

– Self-Priming / Self-Cueing: Generieren eigener Hinweisreize durch Erinnern sämtlicher verfügbarer Information zu dem lexikalischen Eintrag (z. B. semantische Eigenschaften, Anlaut, Betonungsstruktur, Silbenanzahl, Lernkontext) mit dem Ziel, sich selbst zu deblockieren.

Abschließend soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die soeben vorgenommene Trennung in Speicherung und Abruf vorrangig theoretischer Natur ist. De facto sind Speicher- und Abrufprozesse eng miteinander verbunden und wirken wechselseitig aufeinander ein; nach konnektionistischer Vorstellung existieren überhaupt keine getrennten Verarbeitungsebenen für Speicherung und Abruf (Rothweiler 2001; Ulrich 2012).


Kannengieser, S. (2015): Sprachentwicklungsstörungen – Grundlagen, Diagnostik und Therapie. 3. Aufl. Elsevier, München

Kauschke, C. (2015): Frühe Entwicklung lexikalischer und grammatischer Fähigkeiten. In: Sachse, S. (Hrsg.), 3-14

Rupp, S. (2013): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern. Sprachentwicklung: Blickrichtung Wortschatz. Springer, Berlin / Heidelberg

Zusammenfassung

Der Wortschatzerwerb stellt eine lebenslange Lernaufgabe dar. Einträge im mentalen Lexikon werden als Bündel miteinander vernetzter Informationen verstanden, die vielfältig mit anderen Einträgen verbunden sind. Ab dem Kleinkindalter besitzen Kinder die Fähigkeit, blitzschnell einen ersten Eintrag für neue Wörter abzuspeichern. Prozesse der Ausdifferenzierung von Wortform- und -bedeutungsinformation benötigen jedoch deutlich mehr Zeit.

2 Störungen des Wortschatzerwerbs

2.1 Begriffsbestimmung

(semantisch­) lexikalische Störungen In der deutschsprachigen Fachliteratur werden unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet, um auf Störungen des Wortschatzerwerbs zu referieren. Die Bezeichnung „semantisch-lexikalische Störung“ wird von Glück / Elsing (2014a, 73) verwendet als

„umfassender Begriff […] für erhebliche, nicht altersgemäße, häufige und anhaltende Schwierigkeiten, die eigenen Äußerungsintentionen in angemessenen lexikalisch besetzten Äußerungen auszudrücken bzw. Äußerungen anderer lexikalisch zu interpretieren […]“.

Während unter „Semantische Störungen“ auch Einschränkungen im Satz- und Textverstehen fallen (sententiale semantische Störung, Crystal 1981), soll der Fokus dieses Beitrags auf den Einschränkungen auf Einzelwortebene liegen. Entsprechend des in der englischen Fachliteratur meist verwendeten Begriffs des „lexical deficit“ wird daher die Bezeichnung „lexikalische Störung“ verwendet (Ulrich 2012; Motsch et al. 2016). Lexikalische Störungen werden als Sammelbegriff für verschiedene Formen von Wortschatzstörungen verstanden:


„Lexikalische Störungen sind Störungen im Lexikoninventar (Wortschatz und Komposition des Wortschatzes), Störungen im semantischen Lexikon (Bedeutungsaufbau und Bedeutungsbeziehungen) und im Wortformlexikon (phonologische Repräsentation) sowie lexikalische Zugriffsstörungen (Wortfindung, Wortabruf und Worterkennung)“ (Rothweiler 2001, 97).

Wie aus dieser Definition deutlich wird, handelt es sich bei lexikalisch gestörten Kindern um eine heterogene Gruppe. Die unterschiedlichen Erscheinungsbilder werden in Kapitel 2.2.2 genauer in den Blick genommen.

Lexikalische Störungen treten meist in Zusammenhang mit (spezifischen) Sprachentwicklungsstörungen auf (Glück 2001; Glück / Elsing 2014a). Jedoch auch bei Kindern mit kognitiven Einschränkungen, Hörstörungen, frühkindlichem Autismus sowie erworbenen neurologischen Störungen können lexikalische Defizite beobachtet werden (McGregor 2008; Glück / Elsing 2014a; Motsch et al. 2016).

Immer stärker kristallisieren sich die engen Zusammenhänge zwischen lexikalischen Störungen und (späteren) Schriftspracherwerbsstörungen heraus (Beier / Siegmüller 2013; Motsch et al. 2016; Beitrag 5).

Prävalenz Hinsichtlich der Häufigkeit, mit der lexikalische Störungen auftreten, finden sich unterschiedliche Angaben. So ermittelten Dockrell et al. (1998) anhand einer Befragung unter britischen Sprachtherapeuten, dass 23 % der Kinder in sprachtherapeutischer Behandlung Symptome von lexikalischen Störungen zeigten. Glück / Elsing (2014a) interpretieren die Ergebnisse einer Studie von van Weerdenburg et al. (2006) dahingehend, dass 64 % der untersuchten sechs- bis achtjährigen spracherwerbsgestörten Kinder im lexikalischen Bereich auffällig waren. Im förderschulischen Kontext finden sich teilweise noch höhere Prävalenzraten: So schätzten die von Glück (2010) befragten Lehrkräfte an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache 60 % ihrer Schülerschaft als lexikalisch auffällig ein, eine Untersuchung an Drittklässlern der Sprachheilschule ermittelte bei 86 % der 212 untersuchten Kinder eine therapierelevante lexikalische Störung (Marks 2017).

Entwicklungsverlauf Typischerweise starten lexikalisch gestörte Kinder bereits verspätet in den Spracherwerb: Die ersten Wörter produzieren sie durchschnittlich erst mit 23 Monaten, also fast ein Jahr später als sprachunauffällige Kinder (Trauner et al. 2000). Im Alter von 24 Monaten erfüllen sie oftmals das diagnostische Kriterium eines „Late Talkers“, d. h. weniger als 50 verschiedene, produktiv verwendete Wörter (Hachul 2015). Für die weitere Prognose eines Late Talkers scheinen die rezeptiven sprachlichen Leistungen eine besondere Rolle zu spielen. So haben Late Talker mit zusätzlichen rezeptiven Einschränkungen ein erhöhtes Risiko, in der Folge eine manifeste Sprachentwicklungsstörung (SES) zu entwickeln, die sicher ab dem Alter von drei Jahren diagnostiziert werden kann (Schlesiger 2009; Hachul 2013, 2015; Sachse 2015). Im Vorschulalter zeigen sich lexikalische Störungen in unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen (Kap. 2.2.2). Spätestens zu dieser Zeit erfolgt bei den meisten lexikalisch gestörten Kindern eine sprachtherapeutische Diagnostik mit anschließender Therapie. Ab dem Vorschulalter und insbesondere mit dem Eintritt in die Schule werden gehäuft Schwierigkeiten beim Zugriff auf Lexikoneinträge (kindliche Wortfindungsstörungen) beobachtet (Glück 2010). Wortfindungsstörungen ebenso wie sententiale semantische Störungen – also Schwierigkeiten beim Verstehen von Sätzen, Texten und Geschichten – können bis ins Jugendlichen- und Erwachsenenalter persistieren. Sie erschweren den betroffenen Schülern die Aneignung schulischen Wissens, bildungs- und fachsprachlichen Vokabulars und gefährden insgesamt den schulischen Erfolg (White et al. 1990; Stothard et al. 1998; Glück 2001). Darüber hinaus entwickeln viele lexikalisch gestörte Kinder Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische Störungen (Dannenbauer 1997; Toppelberg / Shapiro 2000).

 

2.2 Erscheinungsbild

2.2.1 Mögliche Symptome einer lexikalischen Störung

Im Gegensatz zu Auffälligkeiten der Aussprache oder der Grammatik sind Defizite im Bereich des Wortschatzes für Eltern, Erzieher oder Lehrer oftmals schwieriger zu erkennen. Dennoch weist eine Reihe von Auffälligkeiten in der Spontansprache, beim Benennen von Bildern sowie im Verhalten der Kinder auf mögliche lexikalische Defizite hin.


Eine ausführliche Aufstellung möglicher Symptome findet sich im SemLexKrit von

Glück, C. W. (2011a): Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige: WWT 6-10. 2. Aufl. Elsevier, München und bei

Motsch, H.-J., Marks, D.-K., Ulrich, T. (2016): Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter. Ernst Reinhardt, München / Basel.

unspezifische Wörter So verwenden diese Kinder vielfach allgemeine, unspezifische Wörter wie „Dings, so was, so ein Teil“. Als Verben werden „machen, tun“ in vielfältigen Kontexten als semantisch unspezifizierte Passe-par-tout-Wörter gebraucht. Aus diesem Grund werden sie auch als GAP-Verben (general all purpose) bezeichnet (Conti-Ramsden / Jones 1997). Vielfach helfen lexikalisch gestörte Kinder sich auch mit Umschreibungen, wenn ihnen die Wortform zu einem bestimmten lexikalischen Eintrag nicht zur Verfügung steht.


Umschreibungen: „Ich hab auch mal so was geesst. Das hat hier so Blätter, die sind pieksig und in der Mitte ist das gelb und schmeckt so süß.“ (= Ananas)

Substitutionen Beim Benennen werden statt des korrekten Lexems oftmals semantisch oder phonologisch verwandte Ersetzungen (= Substitutionen) verwendet (McGregor 1997; Lahey / Edwards 1999).


Während bei der semantischen Substitution Ziel- und Ersatzwort semantisch verwandt sind, besteht bei der phonologischen Substitution eine lautliche Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ersatzwort.


Semantische Substitutionen:

■ Schmetterling > Fliege

■ Schmetterling > Tier

Phonologische Substitutionen:

■ Schmetterling > Schmetterlini

■ reparieren > patarieren

nonverbale Kommunikationsmittel Zur Kompensation von lexikalischen Lücken oder Abrufschwierigkeiten weichen einige wortschatzauffällige Kinder stärker auf nonverbale Kommunikationsmittel aus (z. B. Zeigen statt Benennen, vermehrter Einsatz von Mimik und Gestik). In Gesprächen versuchen sie, ihr Nicht-Verstehen durch bestimmte Kommunikationsstrategien zu verdecken (z. B. auf alle Fragen mit „Ja“ antworten, ganzheitliche Antworten nach dem Muster „Was hat dir besonders gut gefallen?“ – „Alles.“, Amorosa / Noterdame 2003).

Ausweichverhalten Einige Kinder versuchen, kommunikativen Anforderungen grundsätzlich aus dem Weg zu gehen, ziehen sich aus Gesprächen zurück oder versuchen, Themenwechsel zu initiieren. Letztere stellen vor allem für Kinder mit Abrufstörungen oftmals eine Möglichkeit dar, auf ein bestimmtes Thema, eine „Insel der Sicherheit“ auszuweichen, wo sie sich lexikalisch sicher fühlen (Glück / Spreer 2015).


Themenwechsel:

■ Therapeutin: „Ein Rhönrad – was ist denn das genau für ein Sportgerät?“

■ Noah: „Irgend so ein Teil. So ein ganz großes, so ein ein für so zu machen so zum Drehen ... ähm ... Soll ich mal was von Star Wars erzählen?“

Veränderungen der Äußerungsstruktur Wie in diesem Beispiel deutlich wird, finden sich in der Spontansprache von Kindern mit lexikalischen Defiziten häufiger Satzabbrüche, -umstellungen oder Wiederholungen. Schwierigkeiten beim Zugriff auf Wörter zeigen sich zudem über häufige Pausen, die oftmals mithilfe von Floskeln oder Füllwörtern (z. B. „ähm, warte mal, also“) überbrückt werden.


Floskeln und Füllwörter: „Das ähm das ist ein warte mal das ist ein also äh so ein zum Plantschen.“ (= Schwimmflügel)

Meta­Kommentare Besonders markante Kennzeichen einer Zugriffs- oder Abrufstörung (Kap. 2.2.2) sind die sogenannten Meta-Kommentare (Glück 2010), mit denen Kinder über ihre eigenen Schwierigkeiten reflektieren.


Meta-Kommentare:

■ „Das müsste ich doch eigentlich wissen, weil ich das schon ganz oft gesehen habe.“

■ „Ach, das wusste ich doch mal.“

■ „Oh Mann, ich habs schon wieder vergessen.“

■ „Immer vergess ich alles.“

2.2.2 Störungsschwerpunkte und Subgruppen lexikalischer Störungen

Während Störungen des Wortschatzerwerbs längere Zeit pauschal als „eingeschränkter Wortschatzumfang“ bezeichnet wurden, gibt es seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen, das sehr heterogene Erscheinungsbild lexikalisch gestörter Kinder differenzierter zu beschreiben und verschiedene Störungsschwerpunkte oder Subgruppen zu differenzieren (z. B. Kolfenbach 2002; Rupp 2008, 2013; Siegmüller / Kauschke 2006; Kauschke / Rothweiler 2007; Glück 2011a; Motsch et al. 2016). Die Grundannahme ist, dass die Identifizierung des zugrundeliegenden Störungsschwerpunktes die Ableitung von spezifischen Therapiezielen und -methoden ermöglicht, die wiederum notwendige Grundlage für effektive Interventionsmaßnahmen seien (Rupp 2008, 2013). Auch wenn der empirische Nachweis eines klaren Vorteils von modellorientiertem, störungsspezifischem therapeutischen Vorgehen nach wie vor aussteht (Kap. 4), erscheint es sinnvoll, bei der Beschreibung lexikalisch gestörter Kinder so präzise wie möglich die zugrundeliegende Schwierigkeit zu charakterisieren. Bedauerlicherweise haben sich sämtliche soeben genannte Autoren für unterschiedliche Einteilungen entschieden, was zu einer verwirrenden Vielfalt an Terminologien geführt hat.


Eine ausfiührliche Beschreibung verschiedener Klassifikationen und Einteilungen findet sich bei

Rupp, S. (2013): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern. Sprachentwicklung: Blickrichtung Wortschatz. Springer, Berlin / Heidelberg.

Im Folgenden werden die auf den modellorientierten Vorschlägen von Rupp (2008, 2013) basierenden Subgruppen nach Motsch et al. (2016) vorgestellt.

quantitative lexikalische Störungen Bei quantitativen Störungen ist die Anzahl der lexikalischen Einträge eingeschränkt: Das Kind hat bisher zu wenige Wörter gelernt, also zu wenige Mappings zwischen Wortform und Referenten hergestellt. Quantitative Störungen stellen also das Störungsbild des „eingeschränkten Wortschatzes“ im eigentlichen Sinne dar. Sie zeigen sich in Schwierigkeiten sowohl beim Benennen als auch beim Verstehen von Wörtern (Kap. 3). Betroffene Kinder verwenden häufig unspezifische Wörter, Umschreibungen oder weichen auf nonverbale Kommunikationsstrategien aus (Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016).

qualitative lexikalische Störungen Bei qualitativen Störungen ist eine ausreichende Anzahl lexikalischer Einträge vorhanden – jedoch ist die Qualität der Repräsentationen im mentalen Lexikon unzureichend.

qualitative Störung auf Wortbedeutungsebene Dies kann sich zum einen auf die Wortbedeutungen (semantische Repräsentationen, Lemmata) beziehen: Es sind möglicherweise nur unspezifische semantische Merkmale gespeichert, so dass semantisch ähnliche Vertreter häufig mit aktiviert und schlecht vom Zielwort abgegrenzt werden können. Auch fehlende Vernetzungen und Verbindungen zu semantisch ähnlichen bzw. Abgrenzungen zu unterschiedlichen Vertretern führen zu diesem Bild der qualitativen lexikalischen Störung auf Wortbedeutungsebene. Betroffene Kinder verwenden häufig semantisch verwandte Ersetzungen für die Zielwörter oder greifen zu Umschreibungen (Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016).

qualitative Störung auf Wortformebene Kinder mit qualitativen lexikalischen Störungen auf Wortformebene weisen demgegenüber unzureichend differenzierte phonologische Repräsentationen (oder Wortform- oder Lexem-Repräsentationen) auf. Die phonologischen Wortformen sind unzureichend durchgliedert oder die Kinder haben nur grobe, fragmentarische Informationen über die Klanggestalt der Wörter abgespeichert. Häufige phonologische Substitutionen deuten auf derartige Schwierigkeiten bei der Speicherung und Ausdifferenzierung des Wortformwissens hin. Jedoch ist aufgrund der möglichen Rück-Aktivierungen innerhalb des Netzwerks (Kap. 1) auch denkbar, dass sich defizitäre phonologische Repräsentationen ebenso in semantischen Ersetzungen äußern könnten (McGregor 1997; McGregor et al. 2007).


Interpretation semantischer Substitutionen: „Anne benennt ein Bild von einer Libelle mit ‚Biene’. Die erste mögliche Erklärung dafür wäre, dass es sich um eine semantisch motivierte Ersetzung handelt: Anne hat bisher zu wenig differenzierende semantische Merkmale gelernt, um die Bedeutungen dieser beiden nebengeordneten Einträge voneinander abzugrenzen. Alternativ könnte diese Fehlbenennung jedoch auch durch unzureichendes Wissen auf der Wortformebene entstanden sein: Die phonologische Wortform ‚Libelle’ […] ist nur als grobes Klangfragment im Wortformlexion gespeichert. Für die Produktion ist dieser Eintrag zu ungenau. Daher wird stattdessen ein Eintrag ausgewählt, der eine semantische Ähnlichkeit mit dem Zielwort hat (daher wurde auch bereits eine Vielzahl seiner semantischen Merkmale aktiviert) und dessen phonologische Wortform leichter zugänglich ist“ (Motsch et al. 2016, 30).

Charakteristischerweise reichen defizitär gespeicherte lexikalische Einträge oftmals für das Verstehen bzw. Wiedererkennen eines Wortes aus. Aus diesem Grund erreichen Kinder mit qualitativen lexikalischen Defiziten in der Regel bessere Normwerte bei der Überprüfung des Wortverstehens (rezeptiver / passiver Wortschatz) gegenüber der Wortproduktion (expressiver / aktiver Wortschatz, Kap. 3; Nash / Donaldson 2005; Rupp 2008, 2013; Motsch et al. 2016).

Wortfindungsstörungen Eine besondere Stellung kommt den lexikalischen Zugriffs- oder Abrufstörungen (auch: kindliche Wortfindungsstörungen) zu.


„Wortabrufstörungen betreffen die Aktivierung von vorhandenen lexikalischen Einträgen für die Sprachproduktion. Das Kind verfügt über einen lexikalischen Eintrag, kann diesen für die Sprachproduktion aber nicht, nur ungenau oder nach längerem Suchen (Pause) abrufen“ (Motsch et al. 2016, 31).

Gemäß der sogenannten „Speicherhypothese“ sind Wortfindungsstörungen als Oberflächensymptom einer zugrundeliegenden, qualitativen lexikalischen Störung zu interpretieren (Rothweiler 2001; Glück 2010; Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012).

In der Spontansprache des Kindes sehen wir somit die Symptome einer Wortfindungsstörung, diese kommen zustande durch die „unter der Oberfläche liegenden“ undifferenzierten semantischen oder phonologischen Repräsentationen. Gemäß dieses Ansatzes können qualitative lexikalische Störungen somit Abrufstörungen nach sich ziehen; liegen Abrufstörungen vor, ist aber in jedem Fall von defizitär gespeicherten lexikalischen Einträgen auszugehen.

Eine Gegenposition wird im Rahmen der sogenannten „Abrufhypothese“ vertreten: Hier sei die Speicherqualität der lexikalischen Einträge intakt, allein der Zugriff auf diese gelinge nicht (Beier / Siegmüller 2013). Empirische Evidenz für diese Hypothese gibt es bisher nicht, was sicherlich der sehr engen Verwobenheit von Speicher- und Abrufprozessen geschuldet ist (bzw. in Netzwerkmodellen gar keine Trennung von Speicherung und Abruf angenommen wird, Kap. 1). Zudem führt die Diskussion um Speicher- oder Abrufhypothese nur bedingt zu unterschiedlichen Implikationen hinsichtlich Diagnostik und Therapie. In dieser Hinsicht wesentlich lohnenswerter erscheint die Frage danach, ob die Schwierigkeiten des Kindes primär den Zugriff auf die Wortbedeutungs- oder auf die Wortforminformation betreffen. Eine Reihe von Studien deutet darauf hin, dass die Defizite wortfindungsgestörter Kinder schwerpunktmäßig subsemantisch, also in der Aktivierung und dem Abruf der Wortforminformation liegen dürften (Constable et al. 1997; German / Newman 2004; Siegmüller 2005).