Sprachtherapie mit Kindern

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Aussprachestörungen

Von Annette Fox-Boyer und Sandra Neumann

1 Die ungestörte Entwicklung

Kinder erwerben das Lautsystem ihrer Muttersprache in der Regel ohne Schwierigkeiten während der ersten Lebensjahre. Ab dem Alter von drei Jahren hat ein monolingual deutschsprachiges Kind alle Grundlagen der Aussprache erworben. Es ist auch für Fremde verständlich und benötigt noch maximal zwei Jahre, um seine Aussprache zu perfektionieren.

1.1 Begriffsklärungen


Unter einem Phon versteht man laut Crystal (1997) das kleinste wahrnehmbare diskrete Laut- / Geräusch-Segment, das innerhalb des Sprechstroms wahrnehmbar ist.

Es ist also ein Sprachlaut, der unabhängig von seiner sprachlichen Umgebung, isoliert von einem Menschen gebildet werden kann. Ein Kind muss lernen, welche Laute von all denen, die es produzieren kann, seiner Sprache angehören (Phoninventar). Gleichzeitig muss es auch lernen, diese alle korrekt zu produzieren. Phone werden in eckigen Klammern notiert, z. B. [s].


Als Phonem wird eine bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheit definiert, die sich nicht weiter in bedeutungsunterscheidende Einheiten zerlegen lässt.

Es handelt sich um abstrakte, im phonologischen Lexikon gespeicherte Einheiten. Phoneme sind Phone, die von einem Kind im Sprechfluss an korrekter Stelle eingesetzt werden. Das Kind muss während des Ausspracheerwerbs lernen, wie Phone in seiner Muttersprache miteinander verbunden werden dürfen (Phonotaktik) und dass es von Bedeutung ist, den richtigen Laut an der vorgesehenen Stelle zu verwenden, da es sonst zu Bedeutungsveränderungen kommen kann (Erwerb des phonemischen Inventars). In den meisten Fällen wird ein Phonem im Deutschen durch ein Phon repräsentiert. In Ausnahmefällen kann ein Phonem auch durch verschiedene Phone repräsentiert werden, wie dies zum Beispiel bei den Phonen [ç] und [x] der Fall ist. Diese Phone teilen sich eine Bedeutung. Phoneme werden zwischen Schrägstrichen notiert, z. B. / f / .


Allophone sind unterschiedliche Realisationsmöglichkeiten eines Phonems, deren Realisation nicht zu einer Bedeutungsveränderung führt.

So verändert es im Deutschen nicht die Bedeutung eines Wortes, wenn ein Kind für ein / ʁ / ein [r] artikuliert.


Phonotaktik ist die Lehre von der Reihenfolge bzw. Kombinierbarkeit von Phonemen in einer Sprache.

phonotaktische Regeln Die Abfolge von Phonemen im Deutschen ist nicht beliebig, sondern ist phonotaktischen Regeln unterworfen. Typische Silbenstrukturen sind laut Wiese (1996) Konsonant-Vokal-Folgen (CV), CVC-Folgen oder CCVC-Folgen.


Das phonetische Inventar umfasst diejenigen Laute (Phone), die ein Kind artikulatorisch realisieren kann, unabhängig davon, ob sie (schon) korrekt im Wort verwendet werden. Das phonemische Inventar eines Kindes umfasst diejenigen Phoneme, die ein Kind an richtiger Stelle im Wort verwendet. Diese müssen nicht notwendigerweise phonetisch korrekt sein.

Laut Fox-Boyer (2016) kann ein Phonem als erworben angesehen werden, wenn ein Kind ein Phonem in mindestens zwei Drittel aller Auftretensfälle richtig im Wort einsetzt. Kinder erwerben ihre Muttersprache in den ersten Lebensjahren in der Regel ohne große Anstrengung, eher spielerisch. Dabei erscheinen die Lall-Äußerungen des Kindes für Eltern als erster Hinweis auf den beginnenden Spracherwerb. Zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr kommt es zu einem fließenden Übergang von nicht-lexikalischen und lexikalischen sprachlichen Äußerungen.

Zu den nicht-lexikalischen Äußerungen zählen alle Äußerungen des Lallens, die nicht mit einer Bedeutung unterlegt sind. Im Gegensatz dazu stehen die ersten Wörter, die in ihrer Form nicht notwendigerweise der Erwachsenensprache entsprechen. Scheinbar ohne Schwierigkeiten gelingt es den Kindern, die vielleicht zunächst rudimentären Wortformen immer mehr der Erwachsenensprache anzugleichen, bis sie in Bezug auf die Aussprache als erwachsenenartig zu beschreiben sind. Im Hinblick auf die expressive Sprachentwicklung geht die phonetische Entwicklung der phonologischen Entwicklung des Lautsystems voraus. Die Kinder produzieren also zunächst Phone und später erst beim Übergang in die lexikalischen Äußerungen Phoneme.

Phonologieerwerb Der Phonologieerwerb kann aus klinischer Sicht in vier Stufen unterteilt werden:

■ die verschiedenen Phasen des Lallens,

■ die Einwortphase vom ersten Wort bis zum Wortschatzspurt,

■ die systematische Simplifizierungsphase und

■ die korrekte Wortrealisation (Stackhouse / Wells 1997).

Kinder müssen die phonologischen Regeln ihrer Muttersprache erwerben, d. h., sie müssen verstehen, welche Laute in welchem Silbenkontext angewendet werden dürfen. Des Weiteren müssen sie die komplexe Silbenstruktur des Deutschen (die Phonotaktik) erwerben.

1.2 Frühe rezeptive phonetisch-phonologische Entwicklung (0 bis 12 Monate)

Kinder zeigen bereits vor der Geburt wichtige phonetisch-phonologische Perzeptionsleistungen, die sich kontinuierlich weiterentwickeln und die spätere phonologische expressive Entwicklung entscheidend beeinflussen (Fox-Boyer / Schäfer 2015). In die Sprachperzeption und Analyse des Inputs spielen nicht-linguistische, allgemein kognitive Leistungen ebenfalls mit hinein (Kauschke 2012).

Um sich auf spezifisch muttersprachliche Signale fokussieren zu können und diese phonetisch-phonologisch zu erwerben, müssen Kinder nicht-sprachrelevante Informationen oder nicht-muttersprachlichen phonetischen Input ausblenden (Conboy et al. 2008). Da im fünften bis siebten Schwangerschaftsmonat die Hörentwicklung von Ungeborenen beginnt, können sie ab diesem Zeitpunkt schon auf Töne und Laute der Außenwelt reagieren, was Groome et al. (2000) anhand von Vokalwahrnehmungen belegen konnte. Die Ungeborenen erkennen dann auch schon rhythmische und prosodische Veränderungen am sprachliche Input.

Nach Byers-Heinlein et al. (2010) prägen sich durch diese pränatale Wahrnehmung der Umgebungssprache Perzeptionspräferenzen aus, die schon direkt beim Neugeborenen (z. B. mittels Saugfrequenzmessungen) zu beobachten sind. Bei bilingualen Kindern beginnt sich die Sprachperzeption bereits pränatal auf beide Muttersprachen auszurichten (Burns et al. 2007). Muttersprachliche Vokale können von Babys von prototypischen Vokalen einer Fremdsprache abgegrenzt werden. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass Kinder in den ersten Lebensmonaten auch phonetische Kontraste wahrnehmen können, die nicht in ihrer Muttersprache auftreten. Diese Fähigkeit verringert sich schon zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat wieder, da sich die Sprachperzeption zunehmend auf die Umgebungs- bzw. Muttersprache ausrichtet (Rivera-Gaxiola et al. 2012). Durch den ständigen Kontakt zur Muttersprache werden deren phonetische Merkmale und Kontraste zunehmend besser erkannt, selektiert und gespeichert (Fox-Boyer / Schäfer 2015). Anhand der Entwicklung allgemein kognitiver und auditiver Wahrnehmungsprozesse beim Kleinkind verbessert sich auch dessen Sprachperzeption ab dem sechsten Lebensmonat deutlich (Kuhl et al. 2006). Die ausschließliche Wahrnehmung von sprachspezifischen Vokalen aus der Umgebungssprache bildet sich um den sechsten Lebensmonat und die der Konsonanten um den elften Lebensmonat aus.

Neben der Wahrnehmung der sprachspezifischen Laute scheinen zur Bestimmung von Wortgrenzen metrischen (rhythmischen) Merkmalen in der Silbenbetonung eine besondere Bedeutung zuzukommen. Deutschsprachige Kinder konnten nach Herold et al. (2008) bereits mit vier Monaten zwischen jambischen und trochäischen Betonungsmustern differenzieren und bevorzugten ab ca. sechs Monaten das typisch deutsche trochäische Muster mit der Betonung der ersten Silbe (Kannengieser 2015). Mit dem achten Lebensmonat beginnt auch die zunehmende Wahrnehmung von Wortgrenzen, d. h. von Wortformen (Höhle / Weissenborn 2003).

Native Language Magnet Model Nach dem Native Language Magnet Model (NLM, Kuhl et al. 2008) sind die folgenden fünf Grundannahmen entscheidend für die Entwicklung der frühen Sprachperzeption:

 

■ Kinder richten ihre Sprachperzeption an der Umgebungssprache aus, da sie die Fähigkeit besitzen, sich zu merken, welche Laute in ihrem Umfeld in welchem Ausmaß produziert werden. Dies wird durch motherese (kindgerechte Sprechweise der Menschen, die das Kind umgeben) verstärkt, indem für die kindliche Sprachperzeption relevante phonetische Unterschiede vom Erwachsenen beim Sprechen hervorgehoben werden (z. B. durch Betonung einzelner Laute).

■ Durch das stetige Hören und Wahrnehmen von Sprache werden beim Kleinkind neuronale Netzwerke ausgebildet, die auf die Wahrnehmung der Muttersprache spezialisiert sind und das spätere Sprachlernen mitbestimmen, da sie die Basis für das Erkennen größerer Spracheinheiten (z. B. lexikalische bzw. morphologische Einheiten) bilden (Fox-Boyer / Schäfer 2015).

■ Eine direkte soziale Interaktion nimmt bereits auf der Ebene der Lautdifferenzierung entscheidenden Einfluss auf die Sprachentwicklung. So wird nach Kuhl et al. (2003) das Lernen von phonetischen Kontrasten durch soziale Interaktionen positiv beeinflusst, aber nicht mittels Präsentation durch Audio- oder Filmaufnahmen.

■ Die Sprachperzeption geht der gezielten Sprechproduktion voraus. Rezeptiv wahrgenommene Sprechmuster werden vom Kleinkind abgespeichert und als Grundlage des Aufbaus eigener motorischer Artikulationsmuster genutzt. Durch deren Abgleich mit den abgespeicherten Mustern geht dann eine Verbesserung der kindlichen motorischen Artikulationsprogramme einher.

■ Die Sprachperzeption stellt einen wichtigen Prädiktor für die Sprachentwicklung dar (Stackhouse / Wells 1997; Kap. 2.3, Abb. 4). So konnten Kuhl et al. (2005) nachweisen, dass Kinder, die im Alter von sieben Monaten muttersprachliche phonetische Kontraste besser differenzierten, auch bessere Sprachleistungen im Alter von 14 bis 30 Monaten zeigten.

1.3 Rezeptive phonologische Entwicklung (> 1 Jahr)

In der kindlichen Entwicklung findet ein fließender Übergang von der rein phonetischen zur phonologischen Wahrnehmung des Kindes statt. Die Kleinkinder nutzen ihre perzeptiven Fähigkeiten und phonetischen Kenntnisse, um bedeutungsunterscheidende Einheiten (Phoneme) und größere lexikalische Einheiten (Wörter) zu identifizieren. Das Erwerben neuer Wörter stellt hierbei einen wichtigen Prozess dar, der durch diese Differenzierung angestoßen wird. Phonetisch-phonologisches Wissen und semantisch-lexikalische Kenntnisse beeinflussen sich daher wechselseitig (Fox-Boyer / Schäfer 2015).

phonematische Differenzierungsfähigkeit Ein Kind kann schon zwischen dem 14. und 20. Monat phonetisch sehr unterschiedliche Pseudowörter unterscheiden, z. B. [wif] vs. [gan]. Wenn die Kinder die präsentierten Wörter bereits kennen, sind sie auch schon in der Lage, Wörter, die sich nur in einem Phonem unterscheiden (Minimalpaare), zu differenzieren. Mit zunehmendem Alter lernen die Kinder, immer feinere Unterschiede innerhalb von Wörtern zu identifizieren. Hierbei spielt auch die Erkennung sprachspezifischer prosodischer Merkmale eine Rolle, wodurch Wortgrenzen erkannt und phonetische Informationen erworben werden können (Höhle et al. 2009). Kinder erwerben gerade in den ersten drei Lebensjahren wichtige sprachperzeptive Fähigkeiten, die sich auf die kontinuierliche weitere Entwicklung phonologischer, metaphonologischer und (schrift)sprachlicher Fähigkeiten auswirken (Beitrag 5).

1.4 Expressive phonetische Entwicklung (Lallentwicklung)

Säuglinge beginnen schon kurz nach der Geburt, die phonetisch-phonologischen Charakteristika ihrer Umgebungssprache zu erwerben (Kap. 1.3). Dabei unterliegt ihre phonetisch-phonologische Entwicklung einer komplexen Interaktion aus perzeptiven und produktiven Fertigkeiten. Im ersten Lebensjahr entdeckt das Kind seine Fähigkeit zur Realisation von Sprachlauten und es beginnt, seine Vokalisationen stetig der phonetischen Struktur der Zielsprache anzunähern (Kauschke 2012).

SAEVD­R Nathani et al. (2006) entwickelten das Stark Assessment of Early Vocal Development (SAEVD-R) zur Darstellung von fünf Ebenen der vorsprachlichen Entwicklung bei Kindern zwischen 0 und 20 Monaten (ausführlicher s. Lang et al. 2009). Das SAEVD-R umfasst insgesamt 23 Vokalisationstypen, um die Lautäußerungen von Säuglingen und Kleinkindern zu charakterisieren und zu klassifizieren. Vokalisationstypen können beim individuellen Kind jedoch auch früher oder vereinzelt auch später auftreten. Im Folgenden wird daran angelehnt die expressive phonetische Entwicklung von Kindern im ersten Lebensjahr kurz dargestellt.

■ Reflexartige Lautäußerungen (Geburt bis zweiter Monat): In der Phase der reflexartigen Lautäußerungen der Lautentwicklung geben Kinder vegetative Laute von sich (z. B. Schmatzen, Niesen oder Husten) oder sie schreien und drücken durch Laute ein Unbehagen aus (Nathani et al. 2006). Weiterhin lassen sich Protophone (Gurrlaute, Lalllaute) finden, die einzeln oder in einer Serie vorkommen (Fox-Boyer / Schäfer 2015).

■ Phase der Kontrolle der Phonation (erster bis vierter Monat): In dieser zweiten Phase stehen weiterhin Protophone im Vordergrund der Produktion. Auf dieser Ebene sind es aber isolierte oder in Serie produzierte voll-resonante Lautkerne wie vokalartige Laute mit Variation in ihrer Tonhöhe / Frequenz. Die Lautäußerungen des Kindes erscheinen nun im Rahmen einer beginnenden, willentlichen Kontrolle über den Vokalisationstrakt. In dieser Phase treten auch erstmals Verschlüsse, Konsonanten wie [m, n], Glucksen und tönendes Lachen auf, wobei Letzteres mit ca. vier Monaten beginnt.

■ Phase der Expansion (dritter bis achter Monat): In diesem Alter produzieren die Kinder nun isolierte Vokale und Vokale in Serie, die vergleichbar mit den Vokalproduktionen Erwachsener sind. Es erfolgt ein Experimentieren mit Tönen, z. B. Quietschen, vokalische Gleitlaute mit Veränderung der Vokalqualität, inspiratorische Lautbildung (bei Einatmung) und Variationen in der Lautstärke. Es können erste marginale Lallversuche verzeichnet werden (Nathani et al. 2006).

■ Phase des kanonischen Lallens (fünfter bis zehnter Monat): Es ist davon auszugehen, dass diese Phase als Prädiktor für spätere Aussprache- bzw. Sprachentwicklungsstörungen angesehen werden kann (Fox-Boyer / Schäfer 2015). Bei der Entwicklung von einfachen kanonischen Silbenrealisationen kommt es zu Einsilbern, Zweisilbern und kanonischen Silbenketten. Das kanonische Lallen kann durch die Aneinanderreihung gleicher oder unterschiedlicher CV-Silben charakterisiert sein.

■ Phase der weiterentwickelten Formen (neunter bis 18. Monat): In der Phase der weiterentwickelten Formen treten nun vermehrt Diphthonge, wie [ai, oi, au], sowie komplexe Silben auf. Als drittes Merkmal treten multisyllabische Ketten mit gleichbleibenden Intonations- und Betonungsmustern (VCVCV, VCVCCVCV) auf (kanonischer Jargon). Nachweislich besteht ein Zusammenhang zwischen dem motorischen Training des Lallens und der Fähigkeit, Wörter zu produzieren.

1.5 Expressive phonetisch-phonologische Entwicklung (> 1 Jahr)

Das Kind hat in den ersten Monaten seines Lebens seine Phonation und frühe Artikulation ausprobiert und mehr und mehr verfeinert. Jetzt, in der Phase der sprachlichen Entwicklung, muss es diese Einheiten in einem übergeordneten System organisieren, um Bedeutungen auszudrücken und zu differenzieren. Die einsetzende phonologische Entwicklung hängt demnach untrennbar mit der semantisch-lexikalischen Entwicklung zusammen. Es besteht eine direkte Verbindung zwischen dem Phonologieerwerb und dem Erwerb von Wortformen als Teil des Lexikonerwerbs (Fox-Boyer et al. 2014a). Diese Phase der sprachlichen Entwicklung beginnt mit dem Stadium der ersten Wortproduktionen im Alter von neun bis 15 Monaten.

Wortproduktion Nach Mogharbel / Deutsch (2007) kann eine kindliche Vokalisation erst dann als Wort bezeichnet werden, wenn sie „eine relativ stabile phonetische Form [aufweist], die einem Modellwort einigermaßen ähnlich ist und die wiederholt in einem bestimmten Situationskontext geäußert wird“ (Mogharbel / Deutsch 2007, 24). Die phonologischen Strukturen dieser ersten Wörter entsprechen in ihrer Form sowohl im Hinblick auf die bevorzugten Laute als auch auf die Strukturen (CV, CVCV oder CVC) den vorherigen kanonischen Lalläußerungen (Fox-Boyer / Schäfer 2015).

Zum normalen Erwerb des phonologischen Systems im Deutschen existiert bisher nur eine überschaubare Anzahl von Untersuchungen, die teilweise aufgrund unterschiedlicher Studiendesigns, Beschreibungskategorien und Interpretationskriterien nur bedingt vergleichbar sind. Tabelle 1 stellt die publizierten deutschsprachigen Studien (N > 20) dar.

Tab. 1: Überblick der deutschsprachigen Studien zur phonetisch-phonologischen Entwicklung von Kindern im Deutschen (N > 20)


AutorNAlterUntersuchte Strukturen
2102Ø 7;6Phon- und Phonem-Inventar
Grohnfeldt (1980)3123;0 bis 6;0Phonem-Inventar
Fongaro-Leverin (1992)242;1 bis 5;0Phonologische Prozesse
Romonath (1991)345;4 bis 6;7Phonologische Prozesse
1771;6 bis 5;11Phon- und Phonem-Inventar PCC, PCI Konsonantenverbindungen: Erwerbsalter und Reduktionsmuster Phonologische Prozesse
Fox-Boyer (2005)4232;0 bis 5;11Phonologische Prozesse
302;0 bis 2;11Inkonsequenzrate
7172;0 bis 5;11Phonologische Prozesse
2462;6 bis 3;11Anzahl phonologischer Prozesse und Einzelabweichungen
Kubaschk/Fox (2015)772;5 bis 3;11Stimulierbarkeit von Phonen
1452;0 bis 2;11Initiale Konsonantenverbindungen PCCCa, PCCCp, Erwerbsalter, Reduktionsmuster
Fox-Boyer/Neumann, C. (2016)4272;0 bis 4;11Initiale Konsonantenverbindungen PCCCa,p, Erwerbsalter, Reduktionsmuster

1.5.1 Phon-Erwerb

Im Rahmen des phonetisch-phonologischen Erwerbs müssen Kinder, die mit deutscher Muttersprache aufwachsen, insgesamt 24 Konsonanten [p b m f v t d s z n l r ʃ ç j k g x ŋ ʁ h? pf ts] und 16 Vokale [a e i o u y ø æ ɛ ɪ ɔ ʊ ʏ au aɪ ɔɪ] (bezogen auf das Hochdeutsche nach Grassegger 2015) erwerben. Das Kind durchläuft motorische Reifungsprozesse, die ihm immer differenziertere Artikulationsbewegungen ermöglichen (Fox-Boyer et al. 2014a). Im Folgenden sollen Daten zur Fähigkeit, einen Laut isoliert artikulatorisch korrekt zu bilden (phonetische Ebene), dargestellt werden.

 

Konsonanten In der Studie von Fox / Dodd (1999) wurden dazu zwei alternative Kriterien verwendet. Es wurde betrachtet, wann einzelne Laute / Phone von 75 % der Kinder einer Altersgruppe mindestens zweimal korrekt produziert wurden und das Phon somit als erworben galt (unabhängig davon, ob der Laut an korrekter Stelle gebildet wurde). Das zweite Kriterium setzt die gleichen Bedingungen voraus, aber zu 90 %. Fox / Dodd (1999) konnten deutlich zeigen, dass die Mehrzahl der Konsonanten schon sehr früh erworben wird und demnach im kindlichen phonetischen Inventar enthalten ist. Ein signifikanter Unterschied zwischen Jungen und Mädchen wurde nicht festgestellt.


Abb. 1: Erwerb des phonetischen Inventars entsprechend 75 %-Kriterium und 90 %-Kriterium (nach Fox / Dodd 1999, N = 177)

Bei Betrachtung des 90 %-Kriteriums können mit 2;11 Jahren alle Phone bis auf / j / , / ŋ / , / ʃ / und / ç / als erworben gelten (Abb. 1).

25 bis 40 % der Kinder zeigten einen Sigmatismus interdentalis oder Sigmatismus addentalis als eine phonetische Variation der Phoneme / s / , / z / und / ts / durch konstante Realisation als [θ, ð, tθ] (Fox-Boyer / Schäfer 2015).

Zu beachten ist allerdings, dass es sich hier um eine kleine Stichprobe pro Altersgruppe handelt, so dass diese Daten nicht als verlässlich gelten können. Des Weiteren wurden diese aus der spontanen Wortproduktion abgeleitet. Die Studie von Kubaschk et al. (2015) konnte zeigen, dass bereits im Alter von 2;5 bis 3;11 Jahren alle Phone des Deutschen bei fast allen untersuchten Kindern (N = 77) stimulierbar waren, so dass davon auszugehen ist, dass die phonetische Produktionskompetenz bereits früher vorhanden ist als sich das auf Wortebene zeigt.

Vokale Das hochdeutsche Vokalsystem umfasst 17 Monophthonge und drei Diphthonge, wobei vier zusätzliche Diphthonge durch die postvokalische Realisierung [ɐ] des / ʁ / entstehen: / ɛɐ / , / ɔɐ / , / ɶɐ / , / oɐ / .

Fox / Dodd (1999) untersuchten in ihrer Studie Vokalfehler der deutschsprachigen Kinder (N = 117). Sie belegten in der Altersgruppe von 1;6 bis 2;11 Jahren eine Vokalfehlerrate von 3 %, während diese in der Altersgruppe 3;0 bis 4;11 Jahre auf eine Fehlerrate von 1 % absank. Hierbei waren weniger Monophthonge als Diphthonge betroffen. Diese wurden zu mehr als zwei Drittel auf ihr erstes Element reduziert. Nach Lleó et al. (2003) erwerben Kinder (1;3 bis 2;6 Jahre) erst spät den Schwa-Laut / ə / , was auf dessen reduzierte Merkmalsspezifikation und auf sein gehäuftes Auftreten in unbetonten Silben, die nicht so gut wahrgenommen und verarbeitet werden können, zurückzuführen sei (Stoel-Gammon / Pollock 2008).

1.5.2 Phonem-Erwerb

Fox-Boyer (2016a) definiert ein konsonantisches Phonem als erworben, wenn es von einem Kind mindestens in zwei Drittel aller Auftretensmöglichkeiten (z. B. in einem Benenntest wie PLAKSS-II, Fox-Boyer 2014a) korrekt realisiert wird.

Abbildung 2 zeigt, welche Phoneme bis zum Alter von 4;11 Jahren dem in Kapitel 1.5.1 erklärten 75 %- und 90 %-Kriterium entsprechend erworben sind. Es konnte, wie beim phonetischen Inventar, erneut kein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen konstatiert werden (Fox-Boyer 2016a).


Abb. 2: Erwerb des phonemischen Inventars entsprechend 75 %-Kriterium und 90 %-Kriterium (nach Fox / Dodd 1999, N = 177)

Die Ergebnisse der Studie von Fox / Dodd (1999) bestätigen die allgemeine Erwerbsreihenfolge:

■ Plosive und Nasale werden vor Frikativen erworben.

■ Stimmlose Phoneme werden vor stimmhaften Phonemen erworben.

■ Anteriore Phoneme (Labiale und Coronale) werden vor velarer Einzelkonsonanz erworben.

■ Einzelkonsonanz wird vor Mehrfachkonsonanz erworben.

phonetisches vs. phonemisches Inventar Wenn man den Erwerb des phonetischen Inventars mit dem phonemischen Inventar (auf der 75 %-Ebene) vergleicht, fällt auf, dass es Laute [m n p b t d] gibt, die sehr früh im Alter von 1;6 bis 2;5 Jahren gleichzeitig phonetisch und phonemisch erworben werden. Dieser gleichzeitige Erwerbseffekt gilt ab dem Alter von 2;6 Jahren auch für die Laute [j ŋ ʁ x ʃ]. Weiterhin können Laute zusammengefasst werden, die zwei bis drei Altersgruppen vor dem phonemischen Erwerb phonetisch erworben werden, wie [v f l g k h ç pf]. Eine letzte Gruppe bilden Laute, die phonemisch bis zum Alter von 6;0 Jahren erworben werden, jedoch nicht phonetisch: [s z ts] (Fox-Boyer 2016a).

1.5.3 Erwerb der Konsonantenverbindungen

Konsonantenverbindungen im phonologischen System von Kindern sind aufgrund ihrer Komplexität wesentlich anfälliger für Realisationsabweichungen als einzelne Konsonanten. McLeod et al. (2001) beschreiben als universell zu betrachtende Entwicklungstrends beim Erwerb von Konsonantenverbindungen auf der Grundlage eines Literaturreviews. Der Erwerb der Konsonantenverbindungen erfolge nach einer bestimmten Entwicklungssequenz und scheine sich graduell zu vollziehen. Es treten hierbei Reduktionen und Vereinfachungen von Konsonantenverbindungen auf. Es bestehe trotzdem die Annahme einer Kombination universeller Trends und individueller Variabilität als Kernmerkmal phonologischer Entwicklung. Kinder würden in der Regel Konsonantenverbindungen zunächst auf ein Element reduzieren (McLeod et al. 2001).

Konsonantenverbindungen mit Plosiven (z. B. / pl, bl, kʁ / ) würden tendenziell vor Konsonantenverbindungen mit Frikativen (z. B. / fl, fʁ, ʃm / ) erworben.

Bernhardt / Stemberger (1998) postulieren wortinitiale Obstruent-Liquid-Verbindungen als erste Konsonantenverbindungen bei Kindern.

Für den Erwerb der Konsonantenverbindungen im Deutschen führt Fox-Boyer (2016a) aus, dass Konsonantenverbindungen bestehend aus einem Plosiv oder / f / + 2. Element in der Regel vor Konsonantenverbindungen bestehend aus / ʃ / + Kontinuum / Plosiv / Nasal erworben werden. Die erhobenen Langzeitdaten von Schäfer / Fox-Boyer (2016a) an sechs Kindern zeigen, dass alle Kinder am Ende des dritten Lebensjahres fast 100 % aller deutschen Konsonantenverbindungen in ihrer Struktur und auch mit der korrekten Lautproduktion erworben hatten. Hierbei wurden jedoch Vor- und Rückverlagerungen von / ʃ / innerhalb eines / ʃ / -Clusters (z. B. [sl]) auch als korrekt gewertet. Aktuelle Daten aus einer deutschen Studienanalyse von Fox-Boyer (2016a) von 701 Kindern im Alter von 2;0 bis 5;11 Jahren belegen ein jüngeres Erwerbsalter von Konsonantenverbindungen im Vergleich zu den älteren Daten von 1999 (Fox / Dodd 1999). Konsonantencluster allgemein können nun gegen Ende des dritten Lebensjahres als hochgradig stabil erworben angesehen werden (Schäfer / Fox-Boyer 2016).

initiale Konsonantenverbindungen Im kindlichen Wortschatz des Deutschen gibt es 23 initiale Konsonantenverbindungen bestehend aus zwei Konsonanten (CC) und zwei initiale Verbindungen aus drei Konsonanten (CCC): [ʃtʁ, ʃpʁ] (Wiese 1996). Für den Erwerb dieser initialen Konsonantencluster im Deutschen liegen aktuelle Daten vor (Fox-Boyer / Neumann 2016, Schäfer / Fox-Boyer 2016). Fox-Boyer / Neumann (2016) untersuchten 427 Kinder im Alter von 2;0 bis 4;11 Jahren bezüglich dem Erwerbsalter. Abbildung 3 stellt diese Ergebnisse dar. Es zeigte sich, dass die Kombination von C+ / l / zuerst erworben wird, gefolgt von allen weiteren Konsonantenkombinationen, während die Verbindungen von / ʃ / +C und / ʃ / +CC am spätesten erworben werden.


Abb. 3: Erwerb der Konsonantenverbindungen (Fox-Boyer / Neumann 2016)

Schäfer / Fox-Boyer (2016) stellten bei 145 monolingual-deutsch sprechenden Kindern (2;0 bis 2;11 Jahre) fest, dass Drei-Element-Cluster (CCC) parallel zu Zwei-Element-Clustern (CC) erworben werden, was McLeod‘s et al. (2001) publizierten Trends widerspricht und bedeutet, dass phonotaktische Komplexität nicht unbedingt Einfluss auf den Erwerb der Konsonantenverbindungen hat. Schäfer / Fox-Boyer (2016) konnten als typische CC-Reduktionsmuster folgende ausmachen: Wenn der erste Konsonant eines CC ein Plosiv oder ein / f / gefolgt von einem / l / war, reduzierten die Kinder das Konsonantencluster entweder auf den ersten oder zweiten Konsonanten. Bei Clustern, die mit einem Plosiv begannen oder einem / f / , gefolgt von einem / ʁ / , reduzierten fast alle 2;0- bis 2;6-jährigen Kinder das Cluster auf den ersten Konsonanten, während die ältere Gruppe bis 2;11 Jahre auch manchmal auf C2 reduzierte. Die Cluster / kv / und / kn / wurden von den Zweijährigen überwiegend auf den zweiten Konsonanten reduziert. / ʃ / -Cluster wurden generell auf den ersten Konsonanten reduziert. Beim Cluster / ʃl / kamen jedoch sowohl Reduktionen auf C1 und C2 vor. Die Konsonantenverbindung / ʃʁ / zeigt eine Reduktionspräferenz auf C1 bei den jüngeren Zweijährigen, während die ältere Gruppe keinerlei Präferenz aufwies.

Die Ergebnisse der Studie von Fox-Boyer / Neumann (2016) bestätigen, dass Verbindungen mit drei Konsonanten zu den am spätesten erworbenen gehören. In Abbildung 3 wird deutlich, dass 90 % der untersuchten Kinder erst im Alter zwischen 4;0 und 4;5 Jahren dreigliedrige initiale Konsonantenverbindungen der Zielform entsprechend verwendeten.

Wortfinale Konsonantenverbindungen werden von Kindern schon bereits mit 2;5 Jahren beherrscht. Nur vereinzelt kommt es noch zu Auslassungen des / t / nach Sibilanten (Fox-Boyer 2016a).

1.5.4 Physiologische phonologische Prozesse und Realisationskonsequenz

Das phonologische System des Deutschen wird von monolingual-deutsch aufwachsenden Kindern in einem hierarchischen Prozess während der ersten fünf Lebensjahre erworben (Fox-Boyer 2016a).

Vereinfachungen in Laut- und Silbenstruktur Bevor Kinder alle Phoneme ihrer Muttersprache vollständig erworben haben, zeigen sie Vereinfachungen der Laut- und Silbenstruktur. Diese Veränderungen werden phonologische Prozesse genannt.


Ein phonologischer Prozess (Kauschke 2012, 35) wird definiert als ein „Mittel der Beschreibung“, mit dem es möglich ist, „die beobachtbaren, regelhaften Unterschiede zwischen kindlichen und zielsprachgemäßen Wortformen“ benennen, klassifizieren und systematisieren zu können.

Inter-linguistische Studien konnten zeigen, dass sich für jede Sprache ein spezifisches Set an physiologischen phonologischen Prozessen nachweisen lässt. Des Weiteren zeigte sich, dass jeder Prozess zu einem sprachspezifischen Zeitpunkt überwunden wird.

Während der sehr frühen phonologischen Entwicklung, noch in der Einwortphase, entwickelt das Kleinkind nach und nach unbewusste (Wort-)Segmentierungsfähigkeiten, was die ganzheitliche Erfassung und Speicherung von Wörtern immer mehr ablöst (Stackhouse / Wells 1997). Da der Input nun immer genauer reflektiert und präziser abgespeichert wird, passt sich der kindliche Output daran an, was aber noch sehr variabel (inkonsequent) und nicht „erwachsenengemäß“ auftritt (< 2;0 bis 2;5 Jahre). Diese universellen Muster der Vereinfachung lassen eine gewisse Systematik erkennen, sollten auf dieser Entwicklungsstufe aber eher als phonologische Phänomene anstatt als phonologische Prozesse bezeichnet werden (Fox-Boyer et al. 2014a).

Realisationsinkonsequenzrate Schäfer / Fox (2006) belegten bei deutschsprachigen Kindern zwischen 2;0 und 2;5 Jahren einen Abfall der Inkonsequenzrate in der Phonemrealisation unter 40 %. Es lag aber immer noch eine große Variabilität vor (14 bis 54 %). Nach Stackhouse / Wells (1997) kommen die Kinder zu diesem Zeitpunkt in die systematische Simplifizierungsphase, in der regelmäßige phonologische Muster auftreten. Diese phonologischen Prozesse sind wie beschrieben frühestens ab dem Alter von zwei Jahren, definitiv ab dem Alter von 2;6 Jahren beobachtbar.