Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania

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Eine frankokanadische Norm – Chancen und Grenzen

Edith Szlezák (Regensburg)

Aufgrund der historischen Gegebenheiten, die den Konflikt zwischen Frankophonen und Anglophonen bedingen, war die Situation der kanadischen Varietäten des Französischen schon immer sehr komplex. Doch nicht nur die Dominanz des Englischen in Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch die Diversität der nordamerikanischen Frankophonie sowie die in erster Linie auf dem colonial lag basierende mangelnde Akzeptanz durch das Mutterland Frankreich stellen den Status des Französischen in Nordamerika vor ständige Herausforderungen. Ohne eine eigene Norm scheinen die Frankophonen, deren Zahl in einigen Provinzen und Territorien Kanadas in den letzten Jahren merklich zurückgegangen ist, diesen auf Dauer kaum gewachsen. Welchen Hürden sich die Versuche der Etablierung einer solchen Norm gegenüber sehen, soll im Folgenden dargestellt werden.

1 Historischer Abriss der sprachlichen Situation im frankophonen Kanada

Nachdem sich die Frankophonie fast 200 Jahre lang in Nordamerika etablieren konnte – Jacques Cartier nahm die Nouvelle France 1534 für François I in Besitz –, kommt es im 18. Jahrhundert zur politischen und auch sprachlichen Abspaltung vom Mutterland. Zunächst verliert Frankreich mit dem Frieden von Utrecht 1713 nach dem Spanischen Erbfolgekrieg die Akadie an die Briten, 1763 auch den Rest der Nouvelle France. Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich Frankreich nach der Niederlage im Siebenjährigen Krieg wegen des Zuckerrohranbaus für die Kolonie Guadeloupe und gegen die Nouvelle France, und so wird denn auch der Vertrag von Paris „von den Quebeckern als ‚Verrat von Paris‘“ (Wolf 1992, 522) bezeichnet: „[La France] nous a cédé sans remords à l’Angleterre“ (Tardivel in Wolf 2009, 25). Das markiert den Beginn einer problembehafteten Beziehung zwischen ehemaliger Kolonie und Mutterland. Schon 1753 hatte Voltaire Kanada als „pays couvert de neiges et glaces huit mois de l’année, habitée par des barbares, des ours et des castors“ (Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, chapitre CLI) beschrieben. Während des Siebenjährigen Krieges beklagt er mehrfach den Einsatz Frankreichs: „On plaint ce pauvre genre humain qui s’égorge dans notre continent à propos de quelques arpents de glace en Canada“ (1757, Lettre à M. de Moncrif); „[…] j’aime mieux la paix que le Canada, et je crois que la France peut être heureuse sans Québec“ (1762, Lettre à Gabriel de Choiseul). Die Zuwanderung aus Frankreich reißt 1763 denn auch schlagartig ab, und die kanadische Frankophonie bleibt sich selbst überlassen. Nach dem Act of Union 1840, mit dem Englisch zur einigen offiziellen Sprache wurde, versuchen es die Quebecker zunächst mit der „revanche des berceaux“ – um die 10 Kinder pro Familie –, doch die (vorübergehende) zahlenmäßige Überlegenheit der Frankophonen kann gegen die wirtschaftliche und politische Dominanz der Anglophonen nur wenig ausrichten. Mit der Gründung des modernen Kanada 1867 wird die Zweisprachigkeit zwar offiziell anerkannt, die kanadische Frankophonie bleibt jedoch geprägt vom Kampf gegen die Anglophonen und vom Bruch mit dem Mutterland. Im kollektiven Gedächtnis ist man von Frankreich im Stich gelassen worden, allein gegen eine anglophone Übermacht, was explizit in „Je me souviens“ ausgedrückt ist, 1883 geprägt und seit 1939 offizielle Devise Quebecs. Sprachlich gesehen ist Quebec wie auch andere Regionen der Frankophonie von einem sprachlichen Minderwertigkeitskomplex geprägt, der im „Spannungsverhältnis zwischen dem als perfekt angesehenen Französisch Frankreichs und der eigenen, als mangelhaft empfundenen Sprachqualität“ (Wolf 1992, 523) begründet liegt. Die Wende bringt erst die Révolution tranquille der 60er und 70er Jahre, im Zuge derer sich Quebec auf seine eigene Geschichte, Kultur und Identität besinnt – „ein Emanzipationsprozess, der für das Selbstverständnis vieler Québécois einschneidend war“ (Neumann-Holzschuh 1995, 202), nicht zuletzt deshalb, weil er auch und gerade den sprachlichen Bereich betrifft:

Related to the linguistic nationalism that accompanied the Quiet Revolution of the 60s, Standard Québécois Français (a prestige variety) began to entrench itself. This movement was related to the parallel emergence of a young Québécois middle class which emerged from its traditional domination by the Catholic Church, became a confident, outward-looking society and began to compete with its Anglophone peers for control of the province’s commercial and industrial sectors. It was felt that a standard French would aid in this enterprise […] (Conrick/Regan 2007, 144).

Die Bewegung in Quebec erfasst auch andere frankophone Regionen Kanadas, insbesondere die Akadie. 1963 wird die französische Université de Moncton in Nouveau-Brunswick gegründet, 1968 in Neuschottland die FANE, die Fédération acadienne de la Nouvelle-Écosse, „dans le but de relier entre elles les régions acadiennes dispersées de la Nouvelle-Écosse et de leur donner une organisation au niveau provincial“ (Hennemann 2014,105). 1969 erfolgt mit der Loi sur les langues officielles die Anerkennung des Französischen durch die kanadische Regierung, New Brunswick setzt die Zweisprachigkeit im selben Jahr auch auf Provinzebene durch (wobei die vollständige Umsetzung des Gesetzes erst innerhalb der folgenden acht Jahre erfolgt; vgl. Boudreau/Dubois 2001, 42), und 1977 erreicht die Parti québécois unter René Levesque mit der Loi 101, der Charte de la langue francaise, die französische Einsprachigkeit für Quebec, allerdings mit bisweilen etwas seltsam anmutenden Auswüchsen. Nicht nur müssen innerhalb von 10 Jahren alle Verkehrsschilder einsprachig französisch sein – das berühmteste Beispiel ist wohl der Ersatz von „Stop“ durch „Arrêt“ ungeachtet der Tatsache, dass es das Wort „stop“ im Französischen gibt und es von Linguisten als „französischer“ als „arrêt“ eingestuft wird –, auch in der Arbeitswelt kommt es zu massiven Konflikten. So klagt beispielsweise die Familie einer verstorbenen Patientin 1983 gegen ein Krankenhaus, weil die Patientin dort nicht zu 100 % auf Französisch betreut worden sei. Sie habe nicht „auf französisch sterben“ können. Künftig werden Arbeitnehmer im öffentlichen und halböffentlichen Bereich einem Französischtest unterzogen, was nicht zuletzt zu einem Exodus der Anglophonen führt: in nur fünf Jahren verlassen 113.000 von ihnen Quebec.1 1984 modifiziert der Oberste Gerichtshof das Gesetz zwar, die Fronten scheinen jedoch verhärtet, denn es ist abgesehen von der wirtschaftlichen Dominanz des anglophonen Teils Kanadas eben in erster Linie der englische Einfluss auf die französische Sprache und Kultur, der als Bedrohung empfunden wird (vgl. Maurais 1993, 84ff.). Und so werden die Unabhängigkeitsbestrebungen immer konkreter: 1980 kommt es zum ersten, 1995 dann zum zweiten Unabhängigkeitsreferendum. Beide scheitern zwar (knapp), es wächst sich aber ungeachtet dessen in Quebec zunehmend ein solides Selbstbewusstsein im Hinblick auf die Sonderstellung der frankophonen Minderheit in Nordamerika aus, die auch vom anglophonen Kanada als solche wahrgenommen und 2006 durch die konservative Harper-Regierung offiziell bestätigt wird: „This House recognizes that the Québécois form a nation within a united Canada“.2 Darauf basierend werden die Bestrebungen, eine genuin frankokanadische Norm zu fixieren, die dem Monozentrismus Frankreichs etwas entgegenzusetzen hat, verstärkt vorangetrieben. Die Quebecker wollen endlich wie von Levesque propagiert „maîtres chez eux“ sein, wenn schon politisch als Provinz nur eingeschränkt, dann wenigstens in sprachlicher und kultureller Hinsicht.

2 Die heutige sprachliche Situation

Die kanadische Frankophonie stellt sich laut Conférence ministerielle sur la francophonie canadienne, einem „organisme intergouvernemental fondé en 1994, [qui] regroupe les ministres fédéral, provinciaux et territoriaux responsables de la francophonie canadienne“3 auf der Jahrestagung 2015 basierend auf den Daten des Zensus von 2006 (!) folgendermaßen dar:


Tab. 1: cf. Statistics Canada: http://www.cmfc-mccf.ca/statistical-profiles, 2006 Census.

Dabei sind vor allem die Angaben zu „French as a first language“ interessant, da die Daten im Zensus auf Eigenauskunft basieren und Sprechfertigkeit als solche sowohl überschätzt werden kann als auch keine Auskunft über die Sprechfrequenz gibt. Ist eine Sprache Muttersprache, sind das Niveau der Sprachbeherrschung sowie die Gebrauchshäufigkeit zumindest höher einzuschätzen. Die wichtigsten Provinzen in Bezug auf die Frankophonie sind Quebec, wo 87 % der Bevölkerung Französisch als Muttersprache angeben, was 86 % der kanadischen Frankophonen ausmacht, Nouveau-Brunswick, wo fast 33 % der Bevölkerung französische Muttersprachler sind, was dann allerdings im gesamtkanadischen Kontext nur etwas mehr als 3 % ausmacht, und Ontario mit fast 5 % französischen Muttersprachlern, immerhin 7,7 % der muttersprachlichen Frankophonen Kanadas. Aus den obigen Zahlen geht also eine klare Konzentration der kanadischen Frankophonie auf die Provinz Quebec hervor, gefolgt von Ontario und Nouveau-Brunswick. Gruppiert man diese Daten nach Varietätengebieten, so ergibt sich für die Varietäten des français acadien unter Zusammenzählung aller provinces maritimes (le Nouveau-Brunswick, la Nouvelle-Écosse, l’Île-du-Prince-Édouard) und Terre-Neuve-et-Labrador ein Prozentsatz von knapp 4, für das français québécois dagegen einer von ca. 96 (wobei in diesem Kontext aufgrund der niedrigen Sprecherzahlen vernachlässigt werden soll, dass es auch in Quebec Sprecher des français acadien gibt und ebenso, dass die sprachliche Situation im (Nord-)Westen Spezifika aufweist und nicht unbedingt generalisiert unter français québécois verbucht werden kann; vgl. hierzu Papen/Marchand 2006). Auch in Bezug auf die Anzahl der Muttersprachler in den Provinzen selbst dominiert Quebec klar mit mehr als 87 %, gefolgt von Nouveau-Brunswick mit nur knapp 33 %, während es in Ontario nicht einmal 5 % sind. Aus dieser Dominanzposition ergibt sich auch der Anspruch Quebecs, eine frankokanadische Norm zu definieren, was ungeachtet der Sprecherzahlenverteilung für die Frankophonie Nordamerikas nicht unproblematisch sein dürfte: „Le Québec et ses voisins francophones auront besoin les uns des autres pour promouvoir l’avenir du français sur le continent américain“ (Sanders in Schafroth 2009a, 232).

 

3 Aspekte der Normproblematik im frankophonen Kanada

Nicht nur haben sich die kanadischen Varietäten des Französischen nach der „Conquête anglaise“ unabhängig von denen im Mutterland entwickelt, auch blieb die kanadische Frankophonie unberührt von jeglichen dort erfolgten sprachpolitischen und sprachnormierenden Maßnahmen. Obwohl diese frühe Loslösung von Frankreich und seiner normativen Instanz, der 1635 gegründeten Académie française, sowie die geographische Distanz die Ausbildung einer eigenen Norm begünstigen hätten können, sehen sich die Normierungsbemühungen seit Langem mannigfaltigen Problemen gegenüber.

Zunächst einmal besteht einerseits nach wie vor die Dominanz Frankreichs auf sprachlicher und kultureller Ebene, andererseits die des Englischen aufgrund seiner internationalen Bedeutung sowie seiner medialen Omnipräsenz: „[…] the relationships of Quebec to France, Québécois français (pejoratively called joual, choual) to French français, and francophone Canadians to their anglophone neighbors (from Canada and the United States) have been historically vexed“ (Braziel 2001, 367). Insbesondere die Akadie hat ein schwieriges Verhältnis zu den Anglophonen, was sich immer wieder in der Einschätzung der Acadiens in Bezug auf ihre Rechte und ihre Position gegenüber den Anglophonen zeigt, wie in folgendem Beispiel:

[…] la misère avec les Anglais […] disons, la misère qu’ils nous donnent, surtout puis c’…puis. depuis que les Acadiens existent, je pense, qu'ils ont toujours eu des problèmes avec les Anglais, puis ils en ont encore aujourd’hui, puis c’est pas sur la veille de finir malheureusement, j’ai pas l’impression du moins en vivant dans une province, comme le Nouveau-Brunswick, puis les autres Acadiens qui viennent de la Nouvelle-Écosse, de l’Île-du-Prince-Édouard, ils ont encore moins de droits que nous-autres je pense. Ca fait que…c’est ça qui est le plus dur (Acadienne, 26; Maury/Tessier 1991, 160).

Entsprechend belastet zeigt sich auch das Verhältnis zum Englischen, „langue de prestige et de pouvoir et, en même temps, langue qui symbolise la domination“ (Boudreau/Dubois 2001, 44). Im Fall Frankreichs bleibt einerseits das historische „Im Stich gelassen werden“ des „Verrats von Paris“ (1763) unvergessen, und andererseits die Ressentiments gegen Frankreichs historisch begründete sprachliche wie auch kulturelle Überlegenheit, der Académie française als Normierungsinstitution und dem bon usage-Begriff des Pariser Französisch, dessen internationale Bedeutung außer Frage steht:

La variété […] qui, dans l’état actuel des choses, sert de référence à toute la francophonie et que l’on appelle pour cette raison français de référence […] est parlée par les Parisiens instruits et est considérée comme l’exemple à suivre. Elle est le résultat d’une codification des usages selon l’appréciation de locuteurs appartenant à la bourgeoisie parisienne, appuyée en cela par les élites des autres pays francophones. Cette variété construite a rayonné partout et c’est à son aune qu’on a traditionnellement mesuré la compétence des locuteurs du français, en France et dans le monde (Poirier 2003, 115f.; Hervorhebung durch Autorin).

Die bisher immer noch unangefochtene Stellung des Standardfranzösischen manifestiert sich auch in Kanada selbst: „It is normal that a Francophone Canadian who has learnt English will speak Canadian English, both in terms of accent and vocabulary. But because both the Americans and the British tend to learn what is often called ‘Parisian’ French, there is a certain amount of pressure on the English Canadian to learn ‘Parisian’ French in like fashion” (Hewson 2000, 5). Trotz – oder gerade wegen – dieser Dominanz lehnen viele Quebecker eine Unterordnung unter die aufoktroyierte Norm des als verachtungsvoll empfundenen Mutterlandes ab, und das schon im auslaufenden 19. Jahrhundert: „Si nous sommes restés français, c’est malgré la France encore plus que malgré l’Angleterre“ (Tardivel in Wolf 2009, 25). In den 1930er Jahren unternimmt Frankreich Refranzösisierungskampagnen in Quebec, die aber scheitern und aus denen das insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren sehr häufig gebrauchte Schimpfwort des „maudit Français“ übrig bleibt (cf. Wolf 1992, 523), das immer noch präsent ist, auch in der frankophonen kanadischen Presse (vgl. Meney 2010, 212). Es basiert maßgeblich auf dem sprachlichen Aspekt:

Si les ‚maudits Français’ nous ont toujours fait ‚chier‘, […] c’est que face à notre sentiment d’infériorité par rapport à la langue française, ils avaient beau jeu de nous écraser de grands mots […] qui nous sont complètement étrangers, mais que nous nous sentons obligés de faire nôtres par atavisme […] (Meney 2010, 215).

Quebec und Frankreich scheinen „divisés par une même langue“ (Simard in Wolf 2009, 33), nicht zuletzt basierend auf Mentalitätsdiskrepanzen und unterschiedlichen soziokulturellen Realitäten. Mit der Révolution tranquille und De Gaulles unterstützendem „Vive le Québec libre!“ 1967 schien sich die Situation entspannter darzustellen, wie tief aber der ideologische Graben ist, zeigt Sarkozys unsensibler Auftritt in Quebec 2008, der in der Presse mehrheitlich als Schlag ins Gesicht Quebecs reflektiert wird. Die Libération fasst es unter dem Titel „Sarkozy, du ‚Québec libre‘ au ‚Canada uni‘“ zusammen:

«Le problème pour les souverainistes (indépendantistes)… c’est qu’en un discours on est passé du célèbre "Vive le Québec libre" à "Vive le Canada uni"», notait pour sa part un chroniqueur du quotidien La Presse. Jamais, ajoute le journal, un président français n’aura été aussi clair quant à la place de l’Hexagone dans le «délicat triangle France-Canada-Québec», depuis le «Vive le Québec libre» lancé en 1967 par le général de Gaulle, qui avait donné une impulsion au mouvement indépendantiste québécois et ulcéré le Canada anglais.4

So erstaunt es auch nicht, dass sich im kulturellen und universitären Bereich die Stimmen zugunsten der Bemühungen um eine genuin frankokanadische Norm immer stärker gegen die Befürworter der hexagonalen behaupten können. Interessanterweise bestätigen Ergebnisse von Umfragen zu Sprache und Norm diese Tendenz nicht unbedingt: 2005 sahen fast 80 % der befragten Quebecker eklatante Unterschiede zwischen gesprochenem québécois und dem français de France, eine Mehrheit war aber überzeugt, dass „depuis vingt ans, le français parlé par les Québécois s’est rapproché de celui parlé par les Français“ (Meney 2010, 190). Die Divergenzen im Schriftgebrauch wurden als „minimal“ eingestuft. Entspräche das der Realität, so würde einer Unterordnung unter die hexagonale Norm eigentlich wenig entgegenstehen. Andererseits antworteten über 80 % auf die Frage, ob sie „québécois“ oder „français“ (!) sprächen, mit „québécois“ (vgl. Meney 2010, 189), was im Übrigen für die Mehrheit auch die Präferenzvarietät für eine vereinheitlichte Unterrichtssprache im Schulsystem Quebecs wäre (vgl. Meney 2010, 193). Diese teils paradoxen Umfrageergebnisse scheinen die allgemeine Desorientierung in der Sprachenfrage widerzuspiegeln.

Nun gibt es im Rahmen der Akzeptanz der hexagonalen Norm noch die Option von regionalisierten Normen unter dem Schirm der hexagonalen, Schafroth spricht hierbei von sektoriellen Normen (vgl. 2009b, 56):

[…] la norme du français international (ou plutôt la norme du français de France) serait la norme exogène, ou la supranorme, que les Québécois francophones tentent d‘utiliser dans leurs communications avec les autres communautés francophones. Les locuteurs québécois lui attribueraient consciemment ou inconsciemment un certain prestige et, en conséquence, chercheraient à s’en approcher, sans pourtant réussir complètement. Pour ce qui est du français québécois standard […], il correspond à la norme endogène, ou l’infranorme, entendue comme l’usage réel du standard sur un territoire limité, […], dans une situation bien définie, qui se distingue du non-standard, et qui se montre plus tolérant et plus riche en variantes que le standard exogène, et qui s’observe davantage dans la langue parlée (Reinke/Ostiguy 2005, 198).

Ein solcher Ansatz scheint aus mehreren Gründen fragwürdig. Zunächst einmal würde eine solche Doppelkonzeption nichts an der Dominanz der hexagonalen Norm ändern, es würde nur bedeuten, dass die Frankophonen in Kanada zwei Normen erlernen müssten oder zumindest konsultieren können sollten: „Du fait même d’une double norme à respecter, ce modèle est hautement générateur d’insécurité linguistique“ (Pöll 2001, 147). Zudem wird eine Norm, die „toleranter“ ist und v.a. in der Mündlichkeit Anwendung finden soll, schwerlich der Supranorm des hexagonalen Französisch standhalten können, ein solcher Ansatz hätte also wohl zweifelhafte Erfolgsaussichten und wäre den Bedürfnissen Quebecs auch nicht angemessen wie Maurais schon 1993 formulierte: „Il est grand temps que l’on cesse de considérer le français québécois uniquement comme une variété orale typique d’un milieu sociale donné“ (Maurais 1993, 93).

Eine andere Möglichkeit ist ein plurizentrisches Modell nach anglophonem (oder auch hispanophonem) Vorbild, wobei das Französische Frankreichs zunächst zwar als français de référence fungiert, sich aber auf lange Sicht den multiplen fixierten Normen verschiedenster Gebiete der Frankophonie gegenüber sähe. Im Hinblick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts scheint es für das langfristige Überleben der kanadischen Frankophonie unabdingbar, sich eine genuine Norm zu geben:

La fonction identitaire du français devra dorénavant s‘allier à une fonction utilitaire, la première que retient le locuteur d'une autre langue, et plus particulièrement dans une société comme le Québec qui doit compter sur l‘immigration pour assurer son développement. C‘est là aussi l‘un des thèmes des XVIIe Assises de la Conférence des peuples de langue française […] : « […] pour mieux résister face à l‘anglais, le français doit être plus fort donc mieux soutenu de l‘intérieur. En fait, le français doit être regardé comme une langue d'avenir à condition d‘être considéré comme une langue internationalement utile. Il doit dès lors inscrire son combat dans la réalité sociale, économique et culturelle. Il ne suffit plus d‘apprendre le français pour le simple plaisir de le parler, non, la motivation doit être plus concrète. » (Ouellon 2008).

Mit einem plurizentrischen Ansatz würde ‚Französisch‘ vergleichbar mit ‚Englisch‘ zu einem „type de langue“ (vgl. Pöll 2001, 147). Diesbezüglich unterscheiden aber einige Aspekte die anglophone von der frankophonen Situation. Anders als die Quebecker leiden z.B. die US-Amerikaner „unter keinem sprachlichen Minderwertigkeitskomplex und sind nicht durch sprachliche Unsicherheit geprägt“ (Schafroth 2009b, 58). Im Gegensatz zur Anglophonie und auch zur Hispanophonie entspricht innerhalb der Frankophonie immer noch die Norm des Mutterlandes der internationalen Norm, denn auch wenn die Office de la langue française diese als eine definiert, die mit der übereinstimmen sollte, welche „prévaut à Paris, Genève, Bruxelles, Dakar et dans toutes les grandes villes d’expression française“ steht es (immer noch) außer Frage, dass es sich dabei um die hexagonale Norm des français parisien handelt (vgl. Bigot 2010, 10ff.). Das Problem liegt abgesehen von der bereits erwähnten historischen Komponente maßgeblich darin begründet, dass sich im Gegensatz zum anglophonen und hispanophonen Raum die Mehrheit oder zumindest ein erheblicher Anteil der Französischsprecher (je nach Auslegung des Begriffs „frankophon“) in Frankreich konzentriert.5 Auch wenn beispielsweise Afrika ein Kontinent ist, auf dem Französisch im Hinblick auf Verbreitung und Sprecherzahlen eine bedeutende Rolle spielt, so findet man dort (der geographischen entsprechende) linguistische Diversität vor – situativ also nicht vergleichbar mit den „Blöcken“ des anglophonen Raums, wo eine amerikanische Norm klar einer britischen und einer australischen etc. gegenübersteht. Mit einer Abwendung von der hexagonalen Norm würde man sich somit also klar „regionalisieren“ – die Frage, die sich dabei stellt, ist: wie vereint man die kanadische Frankophonie unter einem normativen Dach der dominierenden Varietät des français québécois oder schafft man – im Sinne eines „echten“ Plurizentrismus – mehrere Normen entsprechend der sprachlichen Varietätensituation, also zumindest eine Norm des français québécois und eine des français acadien?

 

In Quebec spricht man sich aus mehreren Gründen klar für eine, und zwar die Quebecker Norm aus. Zunächst einmal ist es sicher die nordamerikanische Varietät des Französischen, die am besten untersucht und dokumentiert ist, womit eine gute Grundlage zur normierenden Fixierung gegeben ist. Beschreibungen der akadischen Varietäten betonen dagegen häufig die sprachliche Diversität der provinces maritimes und gehen – ausgehend von der Minderheitensituation der akadischen Frankophonen – überwiegend soziolinguistisch vor, was weder zu einem positiveren Image der Sprache beiträgt noch eine brauchbare Grundlage für Normierungsbestrebungen darstellt: „Pour la situation acadienne, il existe une déconnexion qu’il n’est pas exagéré de qualifier de profonde entre pratiques et représentations. Cette déconnexion est patente dans les discours de bien des Acadiens […]. Le français en usage dans la communauté est en général jugé mauvais, anglicisé, morcelé…“ (Arrighi 2014, 5; vgl. hierzu auch Boudreau/Dubois 2001). Darüber hinaus birgt eine einzige (Quebecker) Norm die Chance, die Frankophonie Nordamerikas endlich zu einen und somit gegenüber der Anglophonie zu stärken, denn „les francophones sont majoritaires [au Québec] […] et beaucoup plus assurés de pouvoir vivre pleinement en français que [les Acadiens]“ (Boudreau/LeBLanc 2000, 231).

Die Akadie steht einem solchen Vorhaben dagegen ebenfalls aus mehreren Gründen kritisch wenn auch nicht notwendigerweise ablehnend gegenüber. Zum einen sind die Beziehungen zwischen Quebec und der Akadie historisch belastet. Vergleichbar mit dem Verhältnis Quebec – Frankreich fühlen sich viele Acadiens von den Quebeckern nicht als gleichwertig akzeptiert, sprachlich wie kulturell:

Si certains Québécois vitupèrent les ‚maudits Français‘, d’autres communautés emploient l’expression ‚maudits Québécois‘, et même ‚maudits Français‘, pour désigner les…Québécois. Les Acadiens […] l’emploient dans un sens similaire à celui que les Québécois réservent aux Français. […] Les Acadiens considèrent souvent que les ‚maudits Québécois‘ se conduisent vis-à-vis d’eux comme les ‚maudits Français‘ vis-à-vis des Québécois. Ils ne tiennent pas compte d’eux, se moquent de leur accent, ont une attitude impérialiste vis-à-vis de leur langue. […] [Ils ont tendance] à „folkloriser“ les Acadiens (Meney 2010, 220f.).

Diese „Folklorisierung“ zeigt sich sogar an offizieller Stelle: die Conférence ministerielle sur la francophonie canadienne spricht auf ihrem Kongress im Juni 2015 von „la vitalité des communautés francophones et acadiennes“.6 Mit differenzierter Wahrnehmung der Akadie als eigenständige Region hat das nicht mehr viel zu tun (denn dann hätte man zwischen „québécoises“ und „acadiennes“ unterscheiden können); vielmehr bedeuten Formulierungen dieser Art den Entzug jedes Mitspracherechts der Acadiens in Fragen der Sprachnormierung und Sprachgestaltung der kanadischen Frankophonie. Und ein Beitrag zur Beseitigung der (gegenseitigen) Vorurteile sind sie auch nicht. Animositäten lassen sich denn im Übrigen sogar in der Diaspora der frankophonen Einwanderergemeinden in Neuengland registrieren: „C’est beaucoup différent, puis eux-aut‘ c’est pareil, le [sic!] nourriture est différente que la not‘, puis la vie qu’i vivent c’est différent eux-aut‘“ sagt eine Akadierin über die Quebecker; eine Quebeckerin wiederum über die Akadier: „Il y a une grosse différence, la mentalité est pas pareille non plus, le Nouveau-Brunswick […] n’ont rien [!] qui nous appartient“ (Szlezák 2010, 174). Außerdem ist die Akadie durch die geographische Isolation einiger Teile der provinces maritimes schon sehr früh – und eben früher als Quebec – vom Kontakt mit dem français de référence isoliert, was häufig zu einer diglossischen Situation geführt hat: Englisch als high variety und die Varietäten des akadischen Französisch als low varieties (cf. Hennemann 2014, 72ff.). In Neuschottland beispielsweise stellt sich die Situation folgendermaßen dar:

En Nouvelle-Écosse, l’emploi du français est souvent ressenti comme une entrave à la réussite professionnelle, alors qu’au Nouveau-Brunswick, le bilinguisme est largement valorisé et présente un avantage sur le marché du travail. Le statut minoritaire et le peu de prestige accordé au français en Nouvelle-Écosse s’expriment souvent par l’autodépréciation de la compétence de cette langue par ses locuteurs („C’est broken French; c’est du français brisé“) (Wiesmath 2006, 47).

Es ist sicher richtig, dass der Status des Französischen in Nouveau-Brunswick aufgrund des höheren frankophonen Anteils der Bevölkerung ein anderer ist als in Neuschottland, dennoch sind die sprachlichen Situationen insofern vergleichbar als in beiden Fällen dem Standardfranzösischen Frankreichs, und nicht etwa den Varietäten des akadischen Französisch hohe Bedeutung beigemessen wird. Schon 1991 stellt Flikeid für Neuschottland fest: „Certaines régions acadiennes deviennent de plus en plus anglicisées, d’autres se rapprochent de la norme prescriptive française“. In Nouveau-Brunswick gilt weitgehend immer noch, was schon in den 1970ern postuliert wurde: „Nous ne croyons pas qu’il serait avantageux pour nous de cultiver un parler qui nous couperait de la francophonie universelle et nous isolerait à nos dépens. Il est évident qu’il faut s’appliquer à parler le bon français moderne à nos enfants et inciter ceux-ci à le parler correctement” (Boudreau/Dubois 2001, 47). Vergleichbar mit Quebecs joual steht das chiac der Akadie für die Rückbesinnung auf die französische Sprache, auf die kulturelle Identität. Nur hat sich die Situation nicht vergleichbar entwickelt. Das joual ist als Normbasis weitgehend aus der Diskussion in Quebec verschwunden (vgl. Boudreau/LeBlanc 2000, 218), entspricht innerhalb der soziolinguistischen Hierarchie des français québécois einem Register des „niveau populaire“. Es wird mit der „notion d’identification collective québécoise“ (Cajolet-Laganière/Martel 22004, 68) assoziiert. Das chiac dagegen stellt in manchen Gebieten die einzige gebrauchte französische Varietät dar, was die Frage aufwirft, ob es sich dabei wie in Quebec um eine Übergangssituation hin zu stabiler(er) Frankophonie handelt, oder ob der Gebrauch des chiac ein „glissement progressif […] vers l’anglais“ (Chiasson zitiert in Boudreau/LeBlanc 2000, 233) bedeutet. Wie dem auch sei: „Si, comme symbole, le chiac réussit à donner une identité francophone aux Acadiens, qui, auparavant, en raison du stigmate qui frappait leur langue, préféraient parler anglais, il ne réussit pas toujours à servir d’instrument véhiculaire francophone pour nommer les choses” (Boudreau/LeBlanc 2000, 233). Die akadischen Varietäten des Französischen fassen zunehmend Fuß in den Bereichen Musik, Literatur und Regionalkultur, was ihnen den Status von Identitätsmarkern im Sinne einer „covert prestige language“ (vgl. Trudgill 1972) gibt; ob sie als Basis für eine Norm dienen können, ist aber nach wie vor fraglich. Dennoch können sich nach einer Umfrage von Schafroth fast 60 % einen akadischen Standard vorstellen – etwas mehr als 40 % allerdings auch einen Quebecker Standard für die gesamte kanadische Frankophonie (vgl. 2009a, 222). Wenn man unter den gegebenen Umständen nun also davon ausgeht, dass eine solche Quebecker Norm die Lösung für das langfristige Überleben und die vollständige Autonomie der kanadischen Frankophonie wäre, so bleibt noch zu klären, worauf diese Norm basieren soll bzw. wie sie beschrieben werden soll.