SOKO Marburg-Biedenkopf

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Frau Loths Traum

CHRISTIANE DIECKERHOFF

Frau Loth hatte einen geheimen Traum: Nur einmal, nur ein einziges Mal wollte sie etwas wirklich Gro-ßes vollbringen. So groß und einzigartig, dass ein Bild von ihr auf der ersten Seite der Oberhessischen Presse erscheinen würde. Einmal Heldin. Mindestens für Marburg. Oder besser noch für die Welt.

Dabei ging es Frau Loth nicht um irgendeinen Ruhm. Sollte sie im Lotto gewinnen, würde sie das hübsch für sich behalten und sie würde auch niemanden umbringen, um in die Zeitung zu kommen. Obwohl? Damals, als Klaus die Neue hatte. Da hatte es sie schon in den Fingern gejuckt. Am liebsten hätte sie ihn von einer der Lahnbrücken, oder auf der Stadtautobahn aus dem Wagen geschubst. Sie hatte es dann doch nicht gemacht. Wer hätte sich dann um Jasmin gekümmert? Außerdem gab es auch nichts zu erben, keine Lebensversicherung, nichts. Und ein toter Klaus hätte keinen Unterhalt zahlen können. Das Geld reichte sowieso immer nur bis zum 20ten, in guten Monaten bis zum 25. Dann war spätestens Ultimo für Frau Loth. Also trug sie wie schon in den vergangenen neunzehn Jahren, vier Monaten und dreieinhalb Wochen frühmorgens zuverlässig Zeitungen aus und träumte in den dunklen Stunden zwischen Briefkasten und Fahrradtaschen ihren Traum vom großen Ruhm. Warum nicht mal bei der morgendlichen Runde einen überfall vereiteln, einen Mord verhindern oder zumindest ein Kätzchen retten? Es gab so viele Möglichkeiten. Irgendwann wäre sie zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Das wusste Frau Loth so sicher, wie sie wusste, in welche Briefkästen sie Zeitungen stecken musste. Ein Mal hätte es fast schon geklappt: Als die Mensabrücke einen neuen Namen bekommen hatte, war sie zufällig vorbeigekommen und hatte noch versucht, sich mit dem Fahrrad vor den Fotografen zu schieben. Vergeblich. Am nächsten Tag berichtete die Oberhessische Presse ausführlich, aber von Frau Loth sah man nur das Hinterrad und ihr Gesäß. Nicht gerade ihre Schokoladenseite.

An schlechten Tagen rang sie der Gedanke nieder, dass ihre einzige Chance, es noch zu Lebzeiten in die OP zu schaffen, die Jubilarehrung nach dem jährlichen Ausflug sein würde: Wenn der Chefredakteur zu Salzekuchen und Kassler einlud wurde nämlich immer ein Foto gemacht, und das kam dann auf die zweite Seite. Unter dem Bild stand dann, dass die Zusteller die Oberhessische Presse bei jedem Wetter pünktlich zu den Abonnementen brachten.

Schon wenn sie am Ausflugstag in der Druckerei an der Frauenbergstraße auf den Bus warteten, flogen die Geschichten nur so hin und her und Frau Loth knirschte vor Neid mit den Zähnen. Was da alles passierte. Man machte sich ja kein Bild. Selbst im so beschaulichen Kirchvers passierte mehr als im Südviertel. Elli aus Kirchhain hatte einen Betrunkenen vor dem Erfrieren gerettet. Im tiefsten Winter hatte sie ihn schlafend im Windfang vor seiner Haustür gefunden, den Schlüssel in der Hand. Zu betrunken, um das Loch zu finden, hatte Elli noch gedacht, aber dann hatte sie gemerkt, dass der Schlüssel nicht passte. Der Mann nuschelte nur unverständliches Zeug, als sie ihn nach seinem Namen fragte, also hatte sie in seinem Ausweis nachgeschaut und siehe da. Der Mann lag vor der falschen Haustür – kein Wunder, in diesen Neubausiedlungen sah doch ein Haus wie das andere aus – und war nicht einmal ein Abonnement. Trotzdem hatte Elli ihn an der richtigen Adresse abgeliefert. Oder Britta aus dem Südkreis. Die hatte mit ihrem Fahrrad eine Kuhherde auf die Weide zurückgetrieben. Einfach so. In Frohnhausen kannte eben jeder jeden. Nicht einmal die Zeitung war deshalb später gekommen.

Wer gar nichts zu erzählen hatte, prahlte mit dem Wetter oder angriffswütigen Hofhunden. Im Südviertel gab es weder freilaufende Hunde, noch war das Wetter so schlecht wie auf dem Dammelsberg. Also konnte Frau Loth nur erzählen, dass sie Zustellerin in der zweiten Generation war. Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber das taten die wenigsten Geschichten. Sie hatte den Bezirk damals von ihrer Schwiegermutter übernommen und ihn – im Gegensatz zu Klaus – auch behalten.

Es war also kein Wunder, dass keine dieser Geschichten in der Zeitung landeten, auch wenn sie zwischen den riesigen Papierrollen erzählt wurden, die in der Druckerei lagerten. Wer interessierte sich schon für betrunkene Ehemänner, und von den freilaufenden Rindern hatte nicht einmal der Bauer etwas mitbekommen. Nur Karin aus der Oberstadt hatte es geschafft. Wenn auch nur auf die dritte Seite, aber immerhin mit Foto. Sie hatte im Gehrengässchen einen Einbrecher überwältigt. Zumindest hatte es so in der Zeitung gestanden und so erzählte sie es auch. Seit zehn Jahren. Aber eigentlich war der Mann nur über ihren blauen Trolley mit dem Schriftzug der Oberhessischen Presse gestolpert, als er die Biege machen wollte. Die Polizei musste ihn nur noch aufheben und ein wenig abstauben. Frau Loth wusste das, aber sie gönnte Karin die Geschichte. Die dritte Seite war nicht ihr Ziel. Sie wollte es auf die Titelseite schaffen. Dort gehörte sie hin. Frau Loth seufzte. Sie ahnte nicht, wie nah sie der Erfüllung ihres geheimen Traums war.

Es war ein vernieselter Morgen im November. Handschuhwetter. Oben auf dem Dammelsberg hatte es bereits geschneit. Fröstelnd zog Frau Loth den Kopf zwischen die Schultern. Wenn sie auf ihrem Rad unterwegs war, spürte sie die Kälte nicht, aber jetzt kroch sie ihr die Waden hoch.

»Baal humer aach Schneije«, sagte Karin, mit der sie auf die Zeitungen wartete.

»Hhm«, bestätigte Frau Loth. Morgens funktionierte ihr Kiefer nur eingeschränkt. Sie war Bauchschläfer und fühlte sich noch ganz zerknittert. »Wo er nur bleibt?«

»Vielleicht huhse ‘en Babaierriss«, nuschelte Karin. Auch sie klang etwas zerknautscht.

»Vielleicht«, bekräftigte Frau Loth. Es kam immer mal wieder vor, dass eine der großen Papierrollen riss. Das dauert dann immer, bis die Rotationsmaschinen gereinigt und wieder einsatzbereit waren. Hätte sie mal in der Druckerei angerufen, bevor sie losgeradelt war, dann säße sie jetzt noch bei einer schönen Tasse Tee in ihrer warmen Küche.

»Hoste gelearse?«

»Was?«, fragte Frau Loth.

»Sai wirrer Inbraecher innerwegs.«

»Wirklich?«

»Haal die Aae off.«

»Mach ich«, sagte Frau Loth. Unwillkürlich griff sie in ihre Jackentasche. Mist, dachte sie. Ihr Handy war noch im guten Mantel, den sie gestern getragen hatte, als sie sich in der Oberstadt auf einen Kaffee mit Jasmin getroffen hatte.

»Ich wette, dai laese die Duuresozäje.« Karin erwärmte sich für das Thema. Frau Loth hatte den Verdacht, dass auch Karin sich gerne wieder in der Zeitung sehen würde. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, und der Artikel, den sie in einer Klarsichthülle aufbewahrte und zu jedem Ausflug mitbrachte, war schon ganz gelbstichig.

Es war bereits halb vier, als der Fahrer mit quietschenden Reifen vor der Santander Bank hielt und ihnen die Packen vor die Füße warf.

Mit der Taschenlampe in der Hand suchte sich Frau Loth die Packen für ihren Bezirk heraus. Noch bevor sie ihre Zeitungen zusammen hatte, wendete der Transporter und verschwand in der Nacht. Er würde noch einige Abladestellen anfahren. Schließlich versorgte die Oberhessische Presse den gesamten Landkreis Marburg-Biedenkopf mit Nachrichten. Zuverlässig. Pünktlich. Meistens.

Mit ihrem Schweizer Messer, das mit der Taschenlampe zur Grundausstattung eines Zeitungszustellers gehörte, durchtrennte Frau Loth die Plastikbinder und verteilte die druckfrischen Exemplare in den Satteltaschen. Karin war fast schon auf dem Weg in die Oberstadt, als sie ihre Zeitungen verstaut hatte und mit der Taschenlampe in der Hand die Veränderungsliste studierte, die sie jeden Morgen von der Abonnementverwaltung bekam.

»Hoste gelaese?« Karin wickelte sich den Schal fester um die Ohren. »De aale Meermann ias aach hie. Gott huen seelig.«

»Ich weiß«, sagte Frau Lot. »Schade um ihn. Das war ein wirklich feiner Herr.« Aber das sagte sie schon zu sich selbst, weil Karin bereits unterwegs war. Und auch Frau Loth beeilte sich. Während sie die Zeitungen zustellte, musste sie immerzu an den alten Herrn denken. Seit seine Frau gestorben war, hatte er allein in dem spitzgiebeligen Haus gelebt. Frau Loth kannte ihn so gut, wie Zusteller Abonnenten kannten. Immer wenn sie vor Weihnachten anklingelte, um den Jahreskalender abzugeben, bat er sie ins Wohnzimmer und nahm einen vorbereiteten Umschlag vom Sekretär. In den ersten Jahren waren immer zehn Mark in dem Umschlag gewesen, danach zehn Euro. Und immer eine hübsche Karte dabei. Er war immer sehr umständlich gewesen, deshalb hatte Frau Loth Zeit gehabt, sich umzuschauen. Auf dem Sekretär standen Familienfotos. Trotz der Goldrahmen waren sie so vergilbt wie Karins Zeitungsausschnitt. Eins der Bilder gefiel Frau Loth besonders. Herr Meermann war darauf zu sehen. Umrahmt von seiner Frau und einem Mädchen mit dunklen Haaren, die sie sich aus dem Gesicht strich. Dabei spreizte sie den kleinen Finger ab, als hielte sie eine Teetasse. Im Hintergrund umkreisten Möwen einen Leuchtturm. Frau Loth mochte Leuchttürme und das Meer und den Wind, der einem die trüben Gedanken aus dem Schädel blies.

Sie seien immer nach Büsum gefahren, hatte der alte Herr erzählt, als Frau Loth ihre Vorliebe erwähnte. Wo denn seine Tochter jetzt sei, hatte sie ihn gefragt. Nicht mal zur Beerdigung war sie gekommen. Das wusste Frau Loth, weil sie hingegangen war. Im Ausland hatte er geantwortet und dabei so traurig ausgesehen, dass sie gleich einen Kloß im Hals gehabt hatte. Und nun war er tot. Der arme alte Mann.

Gerührt wischte sich Frau Loth die Nase und schob die Veränderungsliste in ihre Jackentasche. So nach und nach starben die Abonnenten weg. Die jungen Leute lasen ihre OP auf ihren Tablets. Schlechte Zeiten für Zusteller. Gut, dass ihre Jasmin Lehrerin geworden war. Sie würde nicht in dritter Generation Zeitungsbotin werden müssen. Frau Loth schob ihr Fahrrad auf die Straße und radelte los. Vielleicht, dachte sie. Vielleicht werde ich ja bald Oma. Jasmin hatte nichts gesagt, aber sie hatte Früchtetee getrunken und nicht, wie sonst, einen doppelten Espresso. Frau Loth wurde warm bei dem Gedanken. Bei jeder Zeitung, die sie in die Briefkästen und Zeitungsboxen stopfte, stellte sie sich vor, wie sie am Bett des kleinen Würmchens sitzen würde und der Kleinen – irgendwie wusste sie, dass es ein Mädchen werden würde – von dieser besonderen Nacht erzählen würde. Mit weit aufgerissenen Augen würde die Kleine ihrer Oma zuhören, die mit ihrem Rad einen bösen Mann über den Haufen gefahren und ihn mit ihrer Taschenlampe niedergeschlagen hatte. Nur das mit dem vergessenen Handy würde blöd rüberkommen, dachte Frau Loth. Das würde die Kleine nicht verstehen. Ihre Jasmin verstand auch nie, dass sie es immer wieder vergaß.

 

Und wenn dir was passiert?, fragte sie. Und was sollte man dazu sagen. Schließlich hatte sie ja recht. Schließlich wünschte sich Frau Loth nichts sehnlicher, als dass endlich etwas in ihrem Leben passieren würden. Und wie sollte sie dann die Polizei rufen? Ich schrei einfach, dachte Frau Loth, als sie in der Haspelstraße die Rollläden hochschob, um der alten Frau Willkamp, die nicht mehr die paar Stufen zu ihrem Postkasten schaffte, die Zeitung vors Fenster zu legen. So laut ich kann. Ne, dachte sie. Besser Feuer. Im Fernsehen hatten sie gesagt, dass die Menschen dann eher reagierten, weil sie sich selbst bedroht fühlten. Gut, dachte Frau Loth. Dann rufen die Leute die Polizei. Aber wie kam der Reporter an den Tatort? Das war ein Problem. Gab’s eigentlich noch den Polizeifunk? Oder würde sie in der Druckerei anrufen müssen. Oder in der Aboverwaltung? Frau Loth war so in ihren Fantastereien versunken, dass sie ganz automatisch eine OP in den blauen Zeitungskasten in der Wilhelmstraße schob. Erst im Weggehen fiel ihr auf, dass es der Kasten von Herrn Meermann war. Sie ging zurück, um die Zeitung wieder aus dem Kasten zu ziehen und da sah sie den Schatten zwischen Haustür und Türschloss. Frau Loths Nackenhaare sträubten sich und ihre Knie zitterten, als sei sie die Treppen zum Schloss hochgerannt. Sie streckte die Hand aus und drückte sie gegen die Haustür, die knarrend aufschwang.

An und für sich war es nicht ungewöhnlich, dass diese alten Türen mal offen standen. Holz arbeitete eben. Aber dieses Haus stand leer. Das wusste sie, schließlich war sie bei der Beerdigung gewesen.

Was hatte Karin gesagt? Ich wette, dai laese die Duuresozäje. Natürlich. Frau Loth hielt die Luft an und schob die Tür weiter auf. Alles still. Sie tastete nach ihrer Taschenlampe, wog sie in der Hand. Damit würde sie nicht einmal ihren Kanarienvogel niederschlagen können. Was dachte sie sich nur? Sie sollte die Tür schließen und die Polizei benachrichtigen. Das sollte sie tun. Aber dann dachte sie an ihre ungeborene Enkeltochter und die Schlagzeile auf der ersten Seite. Zustellerin überwältigt Einbrecher. Sie straffte die Schultern. Dies war ihre Gelegenheit und sie hatte ja auch nicht nur diese Taschenlampe, sie hatte schließlich auch ihr Messer. Wo konnte der Dieb sein? Frau Loth wischte Hand und Messergriff an ihrer Jacke ab. Folge der Spur des Geldes. Das hatte mal ein Ermittler in einer ihrer Lieblingsserien gesagt. Wo würde ein feiner Mann wie Herr Meermann sein Geld aufbewahren? Bei ihr lagen ein paar Scheinchen zusammen mit den Sparbüchern im Küchenschrank in einer alten Mehldose, in der schon ihre Mutter ihren Notgroschen aufbewahrt hatte. Aber irgendwie wusste Frau Loth, dass Herr Meermann Gotthabihnselig sein Geld wahrscheinlich nicht im Küchenschrank versteckte. Sie dachte an den Sekretär im Wohnzimmer. Das Messer fest im Griff schlich sie auf Zehenspitzen durch den Flur. Was in gefütterten Winterboots gar nicht so einfach war. Jedes Knarren der Bodendielen dröhnte in ihren Ohren. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Im schwachen Licht der Straßenlaterne erfasste Frau Loth mit einem Blick die Bescherung. Sie war zu spät gekommen. Der Sekretär stand offen, die Fotos mit den Goldrahmen waren verschwunden und über dem Esstisch verteilt lagen Papiere. Selbst auf dem Fußboden lagen Stapel. Frau Loth wusste aus ihren Fernsehserien, dass sie nicht einfach so in den Raum hineinplatzen konnte. Vielleicht lauerte der Einbrecher im Schatten der Standuhr? Oder hinter dem Biedermeiersofa. Schritt für Schritt tastete sie sich in Richtung Telefon vor. Ein Fehler, wie sie schneller feststellte, als ihr lieb war.

»Was machen Sie denn hier?«

Der Kronleuchter flammte auf und das plötzliche Licht blendete Frau Loth. Sie fuhr herum. Im Türrahmen stand ein Mann und versperrte den Durchgang zum Flur. übrigens ein sehr großer Mann, wie Frau Loth fand. Unwillkürlich hob sie das Messer, das auf seinen Schritt zielte. Schließlich wollte sie ihn nicht kastrieren. Jung war er, dachte Frau Loth. Und wie die Einbrecher im Fernsehen ganz in schwarz gekleidet. Und er trug eine ebenso schwarze Tasche in der Hand. Frau Loth wusste sofort Bescheid. Diebesgut. In der Tasche waren natürlich die Fotos mit den Goldrahmen und alles, was er noch so gefunden hatte! Sie hatte ihn tatsächlich auf frischer Tat ertappt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wenn er nur nicht so groß wäre. Ein kleinerer Einbrecher wäre ihr lieber gewesen.

»Hände über den Kopf«, sagte Frau Loth mit zitternder Stimme. Irgendwie musste es ja weitergehen.

»Was soll das?« Der Mann hob nicht mal ansatzweise die Hände und seine Stimme klang weit weniger ängstlich, als Frau Loth sich das gewünscht hätte. Er benahm sich, als ob sie nicht mit einem Messer in der Hand vor ihm stehen würde. Obwohl das Wohnzimmer nicht geheizt war, perlten Schweißtropfen aus Frau Loths Haaransatz und versickerten in ihrem Schal. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, dass ein Messer ausreichen würde, diesen Mann in Schach zu halten, bis die …. Mist, dachte Frau Loth. Die Polizei kommt in hundert Jahren nicht, wenn ich nicht anrufe. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hier, der Kerl da. Sie mit dem Messer, das in ihrer Hand zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen schien. Er mit der Tasche, die es ihm zu entreißen galt. Frau Loth hatte keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen sollte. Sie musste etwas sagen, so viel war ihr klar, aber ihr Hals fühlte sich an, wie zugeschnürt. Frau Loth kannte diesen Zustand. Wenn sie jetzt etwas sagte, würde es sich anhören wie ein abgestochenes Ferkel. Abstechen? Für einen Moment spielte Frau Loth mit dem Gedanken. Das Messer fühlte sich rutschig an in ihrer Hand. Rutschig und heiß. Und dann spürte Frau Loth Hitze in sich aufsteigen, ihr Herz raste los, als würde sie zur Rushhour die Stadtautobahn queren. Auch das noch. Wie sollte der Einbrecher sie ernst nehmen, wenn sie vor seinen Augen in einer Hitzewelle zerfloss? Scheißwechseljahre. Wie stand sie denn nun da? Frau Loth wedelte mit dem Messer. Auch wenn diese Bewegung der hilflose Versuch war, sich Luft zuzufächeln, wich der junge Mann zurück. Ein Nerv zuckte in seinem rechten Augenwinkel. Die Erkenntnis, dass er sie als Gegner ernst nahm, gab Frau Roth einiges von dem Selbstbewusstsein zurück, das die Hitzewelle fortgespült hatte.

Sie räusperte sich. »Dreh’n Sie sich um. Gesicht zur Wand.« Das klang recht gut, wie Frau Loth fand. Ihre Stimme kiekste nur an den Rändern ein bisschen. »Und Hände hoch«, fügte sie hinzu. Das hätte sie besser nicht getan, obwohl der junge Mann diesmal tat, was sie sagte, aber so schnell und mit so viel Schwung, dass Frau Loth die schwere Tasche an der Schläfe traf. Ihr Kopf wurde herumgerissen, sie strauchelte, stolperte über die Teppichkante und knallte mit dem Hinterkopf auf den Sekretär. Frau Loth hörte noch das Klappern, mit dem das Messer zu Boden fiel. Aber das Geräusch war schon ganz weit weg, so, als ginge sie es nichts mehr an. Ihr wurde schwarz vor Augen.

»Köööööööööööaaan Sieeeeee mii1eee höööööööööannnnnn?«, eine Stimme drang durch die träge schwappende Schwärze. Stöhnend öffnete Frau Loth die Augen. Ein Gesicht schwebte über ihr: silbergrauer Bart, gerunzelte Augenbrauen.

»Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«, fragte der Mund, der zu dem Gesicht gehörte. Der Mann, der zu Mund und Gesicht gehörte, schob sich die weiße Schirmmütze aus der Stirn. »Können Sie mich verstehen?«

Frau Loth nickte, sofort fuhr ihr ein stechender Schmerz vom Hinterkopf zum Steiß. Tränen trübten ihren Blick. Wo war der Einbrecher? Und wer war der Mann. Etwa jemand von der Zeitung? Und sie lag hier auf dem Boden. Hoffentlich hatte er noch kein Foto gemacht. Sie war wirklich nicht mehr in dem Alter, in dem man liegend gut aussah.

»Ich bin Polizeiobermeister Wernicke.« Der Mann sprach sehr langsam und tippte sich mit dem Finger gegen die Brust.

Frau Loth blinzelte. Polizei? Wie konnte das denn sein. Hatte sie etwa doch angerufen? Sie versuchte sich zu erinnern. Sie hatte Hände hoch gesagt und dann …

»Die ist hier einfach rein und hat mich mit einem Messer bedroht.«

Frau Loth schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der Einbrecher saß am Esszimmertisch und schaute ebenfalls auf sie herab. Freundlich sah er nicht aus. Und Handfesseln trug er auch nicht. Das war doch gefährlich.

»Glauben Sie dem Kerl kein Wort.« Frau Loth versuchte sich aufzurichten, sofort drehte sich der Raum wie ein Karussell. Kraftlos sank sie zurück auf das Sofakissen, das unter ihrem Kopf lag. »Er ist ein Einbrecher«, fügte sie hinzu. »Ich hab ihn auf frischer Tat ertappt.« Der Satz gab ihr Kraft. Sie hob die Hand. »Schau’n Sie in seiner Tasche nach.«

Sie starrte den Mann an, der entgeistert den Kopf schüttelte. »Das glaub ich jetzt nicht«, sagte er.

Ja, dachte Frau Loth. Spiel du nur den Unschuldigen, aber wenn sie erst einmal die goldenen Bilderrahmen und die Sparbücher in deiner Tasche finden, bist du dran.

»Wie sind Sie eigentlich reingekommen?«, fragte der Polizist. »Die Tür stand offen«, murmelte Frau Loth. Warum schaute er nicht in die Tasche. Sie an seiner Stelle hätte es schon längst getan.

»Und das haben Sie von der Straße aus gesehen?«

»Nein.« Frau Loth ärgerte sich über die Begriffsstutzigkeit des Polizisten. Warum quälte er sie mit seinen Fragen, anstatt seine Pflicht zu tun? Vielleicht war er überhaupt kein Polizist. Frau Loth musterte ihn kritisch. Nein, entschied sie. Echt ist der bestimmt. »Ich hab’s gesehen, als ich die Zeitung in den Kasten gesteckt hab.«

»Da sehen Sie, dass die Frau lügt.« Der Einbrecher strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Dabei spreizte er den kleinen Finger ab, als hielte er eine Teetasse. Und plötzlich wurde es Frau Loth warm und kalt zugleich: Das Bild mit dem Leuchtturm. Genau die gleiche Geste. Oh Gott, was hatte sie getan?

»Abbestellt hab ich sie.« Der Mann öffnete die schwarze Tasche. »Warten Sie. Hier hab ich’s. Da!« Triumphierend streckte er dem Polizisten einen Zettel entgegen. »Die Alte ist verrückt!«

»Hhm.« Der Polizist streckte die Hand aus, um Frau Loth auf die Beine zu helfen. »Dann muss ich Sie wohl mitnehmen.«

Von seinem festen Griff gestützt, verließ Frau Loth das Haus. Blaulicht. Menschen, die sie anstarrten. Ein Mann stellte sich ihnen in den Weg. Frau Loth erkannte ihn sofort. Er hatte auch die Fotos auf der Brücke gemacht. Sie drehte den Kopf weg. Zu spät.

»Verrückte Alte bedroht Erben!«, hörte sie ihn sagen, als der Polizist ihr in den Streifenwagen half. »Wenn das mal keine Headline ist.«