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Aus der Reihe: ide-extra #14
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Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck, Elisabeth Stuck,

Sigrid Thielking, Werner Wintersteiner (Hrsg.)

Schnittstellen

Aspekte der Literaturlehr- und -lernforschung

ide-extra

Eine deutschdidaktische Publikationsreihe

Herausgegeben von

Annemarie Saxalber-Tetter und Werner Wintersteiner

Band 14

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck, Elisabeth Stuck,

Sigrid Thielking, Werner Wintersteiner (Hrsg.)

Schnittstellen

Aspekte der

Literaturlehr- und -lernforschung


Inhalt

Vorwort

SUSANNE HOCHREITER, URSULA KLINGENBÖCK, ELISABETH STUCK, SIGRID THIELKING, WERNER WINTERSTEINER: Schnittstellen literarischer Bildung

1. Konzepte von Literatur und literarischer Bildung

SIGRID THIELKING: Literaturbezogene Kulturvermittlung – Literaturlehrforschung an der Schnittstelle von Schulunterricht, Lebensspannenkonzept und »Öffentlicher Didaktik«

NICOLA MITTERER, WERNER WINTERSTEINER: »Einen Stein in den Teich werfen …«. Annäherungen an die Praxis der Transkulturellen Literaturdidaktik

SUSANNE HOCHREITER, STEFAN KRAMMER: Literatur als Wissensvermittlerin?

2. Lernen und Lehren

GABY GROSSEN: Didaktische Rechtfertigung für literarische Bildung im Deutschunterricht auf Sekundarstufe II – eine Notwendigkeit?

DIETER WROBEL: Literatur unterrichten: eine Herausforderung für die nicht-gymnasiale Sekundarstufe. Unterrichtspraxis durch Individualisierung des Lesens verändern

KARLHEINZ FINGERHUT: Produktive Aufgabenstellungen im kompetenzorientierten Literaturunterricht

CLAUDIA KUPFER-SCHREINER, ULF ABRAHAM: Lust auf Lesen, Schreiben, Land und Leute? Die »Lese- und Schreibreisen« der Bamberger Deutschdidaktik als Beitrag zur literarischen Kompetenz als hochschuldidaktische Aufgabe

SABINE ANSELM: Von Menschen, Märchen und Modellen. Mehrdimensionalität als Ziel literaturdidaktischer Lehre

3. Methoden und Institutionen

MICHAEL KÄMPER-VAN DEN BOOGAART: Empirische Messungen im Bereich anspruchsvolleren Lesens: Lernprozesse für die Literaturdidaktik im Kontakt mit der Psychometrik

ELISABETH STUCK, NIVES MLAKAR: Lehrmittel für den Literaturunterricht. Schwerpunkte der bisherigen Forschung und Zukunftsperspektiven

URSULA KLINGENBÖCK: »Nur in der Schule selbst ist die eigentliche Vorschule« oder: Erst wenn man mittendrin steckt, stellt sich heraus, was man braucht/gebraucht hätte. Überlegungen zu einer Propädeutik der (germanistischen) Literaturwissenschaft

IRENE PIEPER: Literarische Kompetenz: Zentrum oder Peripherie der Kompetenzdiskussion?

WIEBKE DANNECKER: LehrerInnenbildung in Zeiten gesellschaftlicher Globalisierung: Orientierung an Bildungsstandards und Output oder an pädagogischer Professionalität? Ein Einblick in die internationale Curriculumsforschung

Autorinnen und Autoren

Vorwort
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck, Elisabeth Stuck, Sigrid Thielking, Werner Wintersteiner
Schnittstellen literarischer Bildung
1. Literatur und die/in der europäische/n Bildungsdebatte

Die Auffassung von Literatur als Selbstzweck oder als unumstrittener Wert eines humanistischen Bildungsideals scheint längst passé zu sein. Bildung und Ausbildung sind entlang politischer und ökonomischer Entwicklungen spätestens seit den 1980er Jahren Teil eines Leistungs- und Qualifizierungsdiskurses geworden, der deutlich anders akzentuiert ist als zuvor: Die Funktionalisierung von Information, die Verwertbarkeit von Kenntnissen und Fertigkeiten für einen zunehmend komplexen und internationalen Arbeitsmarkt unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen stehen im Zentrum. »Bildung« muss sich gefallen lassen, befragt, gemessen, kritisiert, modifiziert zu werden. Da geht es um Inhalte, Fächer, Methoden der Vermittlung, Kompetenz- und damit Output-Orientierung sowie um Verfahren ihrer Messung und Sicherung. Literatur ist angesichts dieser Ansprüche in einer besonderen Position: Sie ist zunächst Vermittlungs-Tool, wenn es etwa um den Erwerb von Schreib- und Lesekompetenzen geht (also gleichsam Sekundärphänomen), sie ist aber auch Gegenstand/Medium der Vermittlung (literar)historischen und ästhetischen Wissens, und sie ist schließlich Handlungsfeld von individueller, sozialer und kultureller Bedeutsamkeit.

Für die Bedeutung, die Literatur als Gegenstand von Bildung hat bzw. haben soll, stellen sich dringende Fragen: Von welchem Literaturbegriff wird jeweils ausgegangen? Welche gesellschaftlichen Funktionen hat »Literatur«? Welchen Stellenwert soll sie – in unterschiedlichen Lehr- und Lernsituationen sowie in verschiedenen institutionellen Kontexten (Schulen, Hochschulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen) – haben? Welche Aufgaben kommen Literatur in der Vermittlung von Wissen zu und wie kann Literatur vermittelt werden? Welche Relevanz hat Literatur für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche und verschiedene Personengruppen? Wie kann die Notwendigkeit der Beschäftigung mit Literatur in einem utilitaristischen und ökonomistischen Diskurs verortet werden?

Es sind mehrere Dimensionen, die den Diskurs über literarische Bildung gegenwärtig verändern und erweitern:

– Die Entwicklung des europäischen Bildungssystems: Die so genannte Lissabon-Strategie, die 2000 beschlossen wurde, ist die ehrgeizige Entscheidung der EUMitgliedsländer, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Diese Strategie wurde 2005 neu aufgelegt und noch stärker auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet.1 Die EU-Politik wertet somit Bildung auf, um sie gleichzeitig auf die Ziele der Union zu funktionalisieren. Ein weiterer Widerspruch ist die Tatsache, dass trotz der zugestandenen großen Bedeutung von Bildung als ökonomische Ressource die öffentliche Hand dennoch kaum bereit ist, mehr Geld in den Bereich staatlicher Bildung zu investieren.2 Wissensgesellschaft und lebenslanges Lernen sind im Bildungsbereich die zentralen Eckpfeiler der Aktivitäten. Zu den entscheidenden Benchmarks gehört eine Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten der Gruppe der 15-Jährigen ebenso wie das Ziel höherer AbsolventInnenzahlen in naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern bzw. generell die Erhöhung der AkademikerInnen-Quote.

– Die Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzen: Empirische Studien (PISA, PIRLS u.a.) haben Mängel im Bildungssystem u.a. in Deutschland, Österreich und der Schweiz sichtbar gemacht und eine deutliche Intensivierung der Debatte um Bildungsziele und -wege mit sich gebracht. Dringende Reformen scheinen nötig; zum Teil sind sie schon eingeleitet, zum Teil wird noch diskutiert, wie die EU-weit formulierten Ziele und die je nationalen Interessen in diesen Fragen am besten erreicht werden können. Als Ziel der Reformen wird u.a. angegeben, soziale Asymmetrien auszugleichen, geschlechtsbedingten Diskriminierungen entgegenzuwirken und MigrantInnen zu integrieren (Sprache, Zugang zu Bildung, Förderungsmaßnahmen).

– Die Veränderung von Lebensläufen: Nicht ohne Grund ist lebenslanges Lernen Teil der Lissabon-Strategie. Arbeits- und Lernbiografien, wie sie früher beschrieben wurden, entsprechen nicht den heutigen Anforderungen einer flexibilisierten Arbeitswelt, in der Mobilität gefragt ist und Sicherheiten kaum gegeben sind. Das Versprechen, das dem »flexiblen Menschen« (Sennett)3 gegeben wird, lautet: Wer genug kann und weiß, wird Arbeit finden. Der Druck auf jede/n Einzelne/n steigt, und heutige Lebensläufe sind erstaunliche Akkumulationen von Zusatzqualifikationen als Folge unterschiedlicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen wie Praktika, Nebenjobs und außerberuflicher Aktivitäten, die grundsätzlich Engagement zeigen sollen. Zugleich leben die Menschen heute einfach länger und haben den Wunsch nach einem erfüllten dritten und vierten Lebensabschnitt, in dem Bildung eine wichtige Rolle spielt. Die Basiskategorie »Alter« wird neu zu definieren sein, und damit verbunden stellen sich neue Bildungsfragen und -aufgaben auch in Sachen Literatur(vermittlung).

 

2. Literaturlehr- und -lernforschung

Die angesprochenen bildungspolitischen Veränderungen bedeuten eine zumindest dreifache Herausforderung für literarische Bildung und damit für die Literaturlehrund -lernforschung:

– Sie muss die Frage nach dem Wozu von Literatur(vermittlung) neu und wohl auch differenzierter beantworten, was nicht nur Anpassung, sondern auch Widerstand bedeuten kann.

– Sie muss die Frage nach den Inhalten der Literaturvermittlung neu beantworten (Stichworte: Intermedialität und Transkulturalität).

– Sie muss sich auf den Diskurs der Effizienz und der Output-Orientierung einlassen, zugleich aber sicherstellen, dass eine adäquate Zweck-Mittel-Relation erhalten bleibt.

Dies wird der Literaturlehr- und -lernforschung umso besser gelingen, wenn sie die Schnittstellen zwischen Bezugswissenschaft (Literaturwissenschaft, hier: insbesondere die germanistische Literaturwissenschaft), Fachdidaktik, Hochschuldidaktik und den Anforderungen schulischer und außerschulischer Didaktik betont. Bisher war die (Fach)Didaktik als Vermittlungswissenschaft hauptsächlich mit dem Profil des Lehramtsstudiums, dem Berufsbild der Lehrerin/des Lehrers und der Institution Schule verbunden. Sie bedarf daher einerseits einer Konturierung für die genannten Bereiche und andererseits einer Expansion in Richtung einer »öffentlichen Didaktik«.

Literaturlehr- und -lernforschung folgt einem kulturwissenschaftlichen Ansatz, demzufolge Didaktik für alle Bereiche des Lebens wichtig und nicht ausschließlich an »klassische« Bildungseinrichtungen wie Schule, (Fach)Hochschule und Universität gebunden ist. Sie berücksichtigt daher unterschiedliche institutionelle Kontexte:

– die Schule: insbesondere die Sekundarstufen I und II sowie die Grundschule(n). Sie orientiert sich an einem integrativen Deutschunterricht (d.h., dass Literatur unter sprach-, medien- und literaturdidaktischen Gesichtspunkten vermittelt wird) und bezieht auch fächerübergreifende Überlegungen mit ein;

– die Universität/Hochschule: insbesondere jene Studiengänge, die sich mit deutschsprachiger Literatur befassen (eine Ausweitung in Richtung einer allgemeinen/vergleichenden Literaturwissenschaft scheint insbesondere auch im Kontext der »neuen« BA- und MA-Studiengänge – zum Beispiel »Literaturwissenschaft« – naheliegend). Literaturlehr- und -lernforschung ist im Unterschied zu einer »Fachdidaktik« im engeren Sinn für/in sämtliche/n philologische/n Studien (Magister-, Diplom- und Lehramtsstudiengänge, BA, MA) verankert bzw. erst zu etablieren.

Der Vielfalt an Bildungsbiografien entsprechend und im Kontext lebenslangen Lernens bezieht Literaturlehr- und -lernforschung auch den vor- (Elternhaus, Kindergärten, Vorschulen) und außerschulischen Bereich (Peer Groups; Bibliotheken u.a. kulturelle und öffentliche Einrichtungen) sowie die Erwachsenenbildung (Volkshochschulen) mit ein. Literaturlehr- und -lernforschung hat sich damit auch auf unterschiedliche bildungspolitische Kontexte (für die Universitäten: Studienreform, Europäischer Hochschulraum) zu beziehen.

3. »Schnittstellen« – Ziele, Profil und Aufbau des Bandes

Der vorliegende Band verfolgt drei Ziele: Er soll eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Literaturlehr- und -lernforschung (ihrer Inhalte, ihrer Methoden) in ihren jeweiligen institutionellen Kontexten sein. Damit verbunden und darüber hinaus soll das Buch auch eine Bedarfserhebung sein, Desiderate formulieren und die Perspektiven künftiger literaturdidaktischen Forschung ausloten. Nicht zuletzt soll durch den Band ein internationaler Diskussionsraum (hier zunächst für Deutschland, Österreich und die Schweiz – mit dem Wunsch nach Erweiterung) eröffnet werden. Dieser Raum soll dazu dienen, die gemeinsamen Themen und Fragen und deren je unterschiedliche Perspektivierung zu erörtern, und zwar so, dass die Differenzen nicht als Grenzen festgeschrieben werden, sondern Impulse für neue Sichtweisen, Forschungsarbeiten und Praxismodelle geben.

Das Profil des Bandes ergibt sich daher einerseits durch die unterschiedlichen Hochschul-Standorte mit ihren je spezifischen historischen, politischen, strukturellen, organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen bzw. Traditionen und andererseits durch die unterschiedlichen Forschungs- und Praxisfelder der BeiträgerInnen (LiteraturwissenschaftlerInnen, DidaktikerInnen, FachdidaktikerInnen, PädagogInnen, Lehrende) und ihre inhaltlichen und methodischen Profile. Den Schwerpunkt des Bandes bildet die literaturdidaktische Forschung (Literaturdidaktik als Wissenschaft) bezogen auf die Institutionen Schule, Hochschule u. a. Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus sollen auch Empirie und literaturdidaktische Praxis berücksichtigt werden, wobei es aber weniger um konkrete, anwendungsbezogene Fragestellungen und ihre Lösung (etwa: Curriculumsentwicklung und Unterrichtsmodelle) gehen soll, als um ihre theoretische und methodische Grundlegung und deren Erforschung.

Der Band umfasst drei Teile: Im ersten – Konzepte von Literatur und literarischer Bildung – geht es um Probleme literarischer Bildung im Hinblick auf unterschiedliche Zielgruppen (lebenslanges Lernen und Lebensspannen-Didaktik), neue Inhalte und Perspektiven (transkultureller Literaturunterricht) bzw. im gesamtpädagogischen Kontext (Literatur als Wissensvermittlerin).

Lernen und Lehren diskutiert zunächst die Notwendigkeit einer Rechtfertigung für literarische Bildung im Deutschunterricht und stellt dann verschiedene Modelle für die Unterrichtspraxis (Individualisierung des Lesens, produktive Aufgabenstellungen in einem kompetenzorientierten Literaturunterricht, Lese- und Schreibreisen als hochschuldidaktische Aufgabe) vor und betont die Mehrdimensionalität als Ziel literaturdidaktischer Lehre. Die BeiträgerInnen präsentieren hier auch sehr konkrete Vorschläge für einen Unterricht, der versucht, nicht nur den SchülerInnen und den bildungspolitischen Anforderungen, sondern auch der Literatur selbst besser gerecht zu werden.

Im abschließenden Teil – Methoden und Institutionen – wird literarische Kompetenz in der Diskussion um Kompetenzen und Bildungsstandards verortet, es werden die Möglichkeiten und Probleme von Leistungsmessungen reflektiert und die Anforderungen an die LehrerInnenbildung in Zeiten gesellschaftlicher Globalisierung konkretisiert. Im Zentrum des Interesses stehen u.a. empirische Messungen im Bereich des Lesens, Lehrmittel für den Literaturunterricht und die Schnittstelle zwischen Schule und Universität am Beispiel einer (literatur)wissenschaftlichen Propädeutik.

4. Zu den einzelnen Beiträgen

Literaturlehrforschung an der Schnittstelle von Schulunterricht, Lebensspannenkonzept und ›Öffentlicher Didaktik‹ untersucht SIGRID THIELKING. Der Beitrag rückt fachdidaktisch relevante Aufgabenfelder und Domänen abseits von Regelschulen und Einrichtungen des engeren Berufslebens und damit ein erweitertes Zielpublikum in den Blick und plädiert für eine Öffnung der Literaturdidaktik auf kulturwissenschaftliche und lebenswissenschaftliche Zusammenhänge. Für eine Profilbildung einer ›Öffentlichen Didaktik‹ gewinnen u.a. Konzepte von Local knowledge, Area Studies und Varianten von Lernen vor Ort von Bedeutung. Anregungen und Erkenntnisse für eine Vermittlungswissenschaft für unterschiedliche Altersgruppen (lifespan didactics) liefert die Lebensspannenpsychologie. Für die Entwicklung didaktischer Konzepte und für ein breiteres Spektrum an Lehr- und Lernhandlungen braucht es eine Engführung von literaturdidaktischer Lehre und Forschung und eine Reflexion, die Lesen und Lernen als Life science in fachdidaktisches Denken und Handeln mit einbezieht.

NICOLA MITTERER und WERNER WINTERSTEINER widmen sich mit der Transkulturellen Literaturdidaktik einem neuen theoretischen Feld und einem in der Schulpraxis noch wenig erprobten Arbeitsgebiet. Der erste Teil skizziert Transkulturelle Literaturdidaktik als Teil eines Bildungskonzepts, das auf Differenz gründet und auf verschiedenen Ebenen stattfindet: auf pragmatischer (reale Lebensbedingungen der SchülerInnen), ästhetischer (subversives Moment literarischer Sprache) und psychologischer Ebene (Entwicklung der Ich-Identität). Der zweite und umfangreichere Abschnitt untersucht am Beispiel von gemischtsprachigen Schulen (Sekundarstufe I) in Kärnten transkulturellen Literaturunterricht in der Praxis. Die Beobachtungen zeigen u.a., dass Identifikationsangebote literarischer Texte abgelehnt werden (Fremdabwehr als Abwehr des Eigenen), dass die Chancen einer positiven Besetzung von sprachlicher, kultureller und individueller Vielfalt im Literaturunterricht vielfach nicht oder zu wenig genutzt werden (Instrumentalisierung von Literatur, Ausblendung des Fremden, auf die eigene Lebenssituation bezogene, egozentrische Lesart) und forcieren eine Neudiskussion der Grundfrage nach dem Wozu des Literaturunterrichts.

Mit dem Thema der Wissensvermittlung in und durch Literatur beschäftigen sich SUSANNE HOCHREITER und STEFAN KRAMMER in ihrem Essay. Ausgehend von der Frage danach, was Literatur, was Vermittlung ist und wie »Wissen« definiert werden kann, plädieren sie für ein Modell, wonach Literatur Wissen nicht nur abbildet oder reproduziert, sondern in spezifischer Weise generiert. Die Vorstellung von einem ›objektiven‹ Wissen wird durch die Historisierung von Wissensformationen relativiert. Anhand von Elfriede Jelineks Text Die Liebhaberinnen beschreiben die AutorInnen das Modell eines literarischen ›Experiments‹ als mögliches Paradigma literarischer Wissensproduktion und -vermittlung. Die Performativität von Sprache ist dabei ein Reflexionshorizont, die ZeugInnenschaft von LeserInnen ein anderer: Das Wissen, das ein Text sowohl hat als auch herstellt, liegt – so die These – in der Reflexion der Entstehung von Wissen und dem Inter-Agieren, das der Text mit den LeserInnen als ZeugInnen provoziert.

In GABY GROSSENS Beitrag wird gezeigt, dass literarische Bildung weit mehr umfasst als Leseförderung. Die literaturdidaktische Forschung zur literarischen Bildung bewegt sich auf fünf großen Forschungsfeldern. Zumindest in der Schweiz gerät literarische Bildung im bildungspolitischen Diskurs über die Sekundarstufe II unter Rechtfertigungsdruck. Didaktische Rechtfertigung für literarische Bildung darf sich nicht auf die Bildungspolitik beschränken, sondern muss auch nach ›innen‹, gegenüber den Lehrenden und Lernenden, geführt werden, um Nachhaltigkeit zu bewirken. Es geht nicht nur um die Bewahrung des kulturellen Erbes, sondern auch darum, Jugendliche in ihrer »Identitätsbildung« (Spinner 2001) zu unterstützen, ihnen den Weg ihrer Sozialisation und Enkulturation zu ebnen, sie ästhetische Bildung erfahren zu lassen. So gesehen weitet sich das fachdidaktische Feld der literarischen Bildung hin zur Kulturdidaktik aus.

Eine Bestandsaufnahme eines unter Druck geratenen Literaturunterrichts gibt DIETER WROBEL zu Anfang seines Beitrags. Probleme des Literaturunterrichts insbesondere auf der nicht-gymnasialen Sekundarstufe ortet er in den bildungspolitischen Vorgaben und im Schulsystem, in der Heterogenität der Lese- und Lernvoraussetzungen, in der tradierten Methodik, die einer veränderten SchülerInnenschaft nicht mehr gerecht wird, sowie in der soziologischen Bedeutung der Peer-group und ihrem Missverstehen durch die Fachdidaktik. Eine Möglichkeit zu einer veränderten Unterrichtspraxis sieht Wrobel im Entwurf des individualisierten Lesens (Hattinger Modell), das u.a. eine Öffnung des Unterrichts (Schwerpunkt: Leseförderung), eine Öffnung des Textkorpus (z.B. in Richtung Sachtexte, Comics), eine Kontextualisierung des Lesens mit Schreiben und Sprechen im Sinne einer hand-lungs- und produktorientierten Didaktik (Lesetagebuch, Folgekommunikation) vorsieht. Ein dahingehend individualisierter Unterricht erfordert bzw. ermöglicht auch veränderte Rollen und Kompetenzen (Leseberatung, Vier-Augen-Gespräch) sowie andere Formen der Leistungsbeurteilung (Leseförderung statt Noten). Evaluierungen des Hattinger Modells haben gezeigt, dass SchülerInnen ihr Leseverhalten und ihre Einstellung zum Lesen verändert haben, dass aber auch Lesekompetenz, Lese- und Textverständnis zugenommen haben.

KARLHEINZ FINGERHUT diskutiert in seinem Beitrag Literaturdidaktik als Vermittlungswissenschaft im Spannungsfeld von Kompetenz-, Prozess- und Produktionsorientierung. Probleme produktiver Aufgabenstellungen in einem kompetenzorientierten Literaturunterricht, die den Brückenschlag zwischen dem aktuellen Mainstream der Didaktik (Kompetenzorientierung) und dem handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht, der sich einer kompetenzorientierten Bewertung bislang weitgehend entzogen hat, versuchen, lokalisiert er u.a. in der Umsetzung komplexer Leseleistungen in produktive Schreibleistungen innerhalb einer linear gedachten Lernprogression, in der mangelnden Kontextualisierung der produktionsorientierten Teilaufgaben, in der ungenügenden Erfassbarkeit von Formbotschaften literarischer Texte sowie in der Instrumentalisierung der emotionalen Beteiligung der Lesenden (Empathie, Identifikation, Perspektivübernahme, Identitätsbildung) beim Schreiben, das nicht mehr eine ästhetisch kodierte Expression, sondern eine Aufgaben- oder Problemlösung darstellt. Fingerhuts kritische Zusammenstellung macht die Notwendigkeit deutlich, die Begriffe Kompetenz und Kompetenzmodell, das Verhältnis von kreativen Aufgabenstellungen und Kompetenzbegriff, die Beziehung von prozessorientiertem Schreiben und Kompetenzbegriff sowie die didaktische Reichweite des Kompetenzbegriffs zu klären.

 

Der Beitrag von CLAUDIA KUPFER-SCHREINER und ULF ABRAHAM begreift Studierende der Fachdidaktik Deutsch – mehrheitlich angehende LehrerInnen – als Lernende und thematisiert damit eine spezifische »Schnittstelle« zwischen Literaturdidaktik, Literaturwissenschaft, Lernforschung und Hochschulunterricht. Der Beitrag definiert die Vermittlung literarischer Kompetenz als hochschuldidaktische Aufgabe; als konkretes Beispiel stellt er Lese- und Schreibreisen vor, wie sie vom Lehrstuhl für Deutschdidaktik der Universität Bamberg durchgeführt wurden. Das Rahmenkonzept des Situierten Lernens bietet offene und komplexe Lernumgebungen an, die zur selbstständigen Auseinandersetzung mit der Situation anregen (»Anschlussmöglichkeiten«), es ermöglicht die Betrachtung eines Lerngegenstandes aus mehreren, unterschiedlichen Perspektiven und ein neues Maß an Authentizität, indem Lerninhalt, Lernort und LernerInnen soweit wie möglich »zusammenfallen«. Medium der Artikulation und Reflexion ist einerseits das Reisejournal, andererseits findet das Lernen im sozialen Austausch statt.

Literarische Lernprozesse zu initiieren und zu fokussieren, didaktische Theorien zu rezipieren und zu adaptieren sowie die Aussagen von SchülerInnen angemessen bewerten zu können, formuliert SABINE ANSELM als zentrale Herausforderungen literaturdidaktischen Lehrens. Um das Gelingen von Bildungsprozessen zu sichern, plädiert sie dafür, literarische Kompetenz als Verbindung von Wissen, Emotionen und Können, in der DeutschlehrerInnenausbildung zu forcieren. Die inhaltlichen Aspekte literarisch-rezeptiver Kompetenz bestimmt Anselm im Anschluss an Terhart durch kognitive, ästhetisch-ethische und pragmatische Dimensionen. Für die Ausbildung eines professionellen Habitus im Bereich der DeutschlehrerInnenausbildung gelten demnach drei Ziele: Verstehensprozesse offen und individuell zu gestalten, didaktische Konzeptionen zu kennen und flexibel mit ihnen umgehen zu können, SchülerInnen als LeserInnen ernst zu nehmen. Die Dreidimensionalität von literarischer Kompetenz und literaturdidaktischer Lehre konkretisiert Anselm am Beispiel der Lektüre eines Märchens von Wolf Biermann: Das ästhetische Erleben von Bild und Text wird zum Anlass mehrdimensionaler Textlektüre, das Märchen dient als Modell literarischen Lesens, schriftliche Interpretationen machen literarische Kompetenz sichtbar. Abschließend votiert Anselm für ein integratives Konzept, das fachliche, fachdidaktische und ästhetisch-ethische Kompetenzen vereinigt.

Im Alltag von Lehrenden, Lernenden und SchulbuchmacherInnen nehmen das Testen von (Lese)Kompetenzen und damit die Qualitätserwartungen der Psychometrik großen Raum ein. MICHAEL KÄMPER-VAN DEN BOOGAART weist einerseits auf die Problematik von zentralen Leistungsmessungen hin, die den Hauptgütekriterien Objektivität, Validität (Messgenauigkeit) und Reliabilität (Gültigkeit) möglichst weitgehend entsprechen sollen; andererseits sieht er in der Kooperation mit empirischen Sozialwissenschaften, in der Modellierung eines poetischen Textes auf messbare Kompetenzen und in der Generierung entsprechender Aufgaben eine Chance für die Literaturdidaktik: zunächst müsse sie sich über die textverstehenden Operationen verständigen, die zu einer literaturaffinen Verarbeitung der Textinformationen führen, und dann klären, welche genuin literarischen Kompetenzen dabei zum Tragen kommen. Textverstehende Operationen erläutert Kämper-van den Boogaart exemplarisch, u.a. an der literarisch-rezeptiven Teilkompetenz des Symbolverstehens.

Der Beitrag von ELISABETH STUCK und NIVES MLAKAR fasst den Forschungsstand im Gebiet der Lehr- und Lernmittel für den Literaturunterricht zusammen. Die literaturdidaktische Lehrmittelforschung konzentriert sich vor allem auf Studien zu Lehrprozessen. Studien, welche den Schwerpunkt auf Fragen der Unterstützung der Lernprozesse legen, sind hingegen rar. Fokussierend auf die Funktionen, welche den Lehrmitteln zugeschrieben werden, finden sich Forschungsbestrebungen besonders im Bereich der Steuerung und Planung des Unterrichts. Im Zentrum der bisherigen Forschung von literarischen Lehrmitteln steht das Lesebuch; bei anderen Untersuchungsgegenständen klaffen noch größere Lücken. Forschungslücken finden sich auch, wenn die Stufe einbezogen wird: Lehrmittelstudien auf der Sekundarstufe II finden sich kaum. Ein großes Desiderat der Lehrmittelforschung ist die Untersuchung der fachdidaktischen Wirksamkeit von Unterrichtsmitteln.

Die Schnittstelle von Schule und Universität steht im Zentrum von URSULA KLINGENBÖCKS Überlegungen zu einer Propädeutik der (germanistischen) Literaturwissenschaft. Empirische Daten zu studienfachspezifischen Schwierigkeiten von StudienanfängerInnen liegen kaum vor. Die Profilierung der gegenwärtigen (literaturwissenschaftlichen) Propädeutik erfolgt daher am Beispiel literaturwissenschaftlicher Einführungsliteratur und universitärer Lehre im Kontext aktueller fachwissenschaftlicher, didaktischer und bildungspolitischer Diskurse. Für eine dringend notwendige Neubestimmung der Propädeutik lanciert der Beitrag ein studienfächerübergreifendes Konzept unter kulturwissenschaftlicher Perspektivierung. Als Diskussionsgrundlage stellt Klingenböck ein integriertes Modell vor, das allgemeinphilosophische, wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Aspekte mit fachnahen und -spezifischen Inhalten eng führt und, in einem weiteren Schritt, über die Konfrontation des eigenen Faches/der eigenen Perspektive mit anderen eine kritische Reflexion ermöglicht.

Im Zentrum von IRENE PIEPERS Beitrag steht die literarische Kompetenz und ihre Positionierung in der aktuellen Kompetenzdiskussion. Vom kognitionspsychologischen Ansatz des Lesens differenziert der Beitrag unter Rückgriff auf die strukturalistische Modellierung Jakobsons ein spezifisch literarisches Lesen, das die besondere Qualität literarischer Texte wie Autofunktionalität, Mehrdeutigkeit, Text-LeserInnen-Interaktion auf Basis des Fiktionsvertrags (Eco), Textverständnis als Konkretisation (Herstellung lokaler und globaler Kohärenz) und Interpretation (Konstruktion einer Textintention) berücksichtigt. Besondere Bedeutung kommt beim literarischen Lesen den Bereichen der Motivation und der subjektiven Beteiligung zu, die Sozialisations- und Enkulturationsfunktion literarischen Lesens wird in der privilegierten Stellung der Kommunikation vor, während und nach der Lektüre deutlich. Am Beispiel eines Unterrichtsgesprächs zu Rose Ausländers Zirkuskind beleuchtet Pieper ausgewählte Aspekte literarischen Lesens/literarischer Kommunikation (z. B. »metaphorische und symbolische Ausdrucksweise« oder »Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses«) genauer. Eines ihrer Ergebnisse: Polyvalenzverstehen im Sinne der Kunsthermeneutik bleibt Entwicklungsaufgabe.

WIEBKE DANNECKER diskutiert in ihrem Beitrag LehrerInnenbildung zwischen der Orientierung an Bildungsstandards und Output auf der einen und pädagogischer Professionalität auf der anderen Seite. »LehrerInnenbildung in Zeiten gesellschaftlicher Globalisierung« geht insbesondere der Frage nach, wie die Aneignung pädagogischer Professionalität – verstanden als Fähigkeit, die LehrerInnenrolle zu reflektieren, den eigenen Fachunterricht wissenschaftlich-empirisch zu überprüfen und sich mit den Ergebnissen lernpsychologischer Forschung auseinander zu setzen – vonstatten gehen kann. Dannecker fokussiert Qualitätssicherung in der LehrerInnenbildung aus hochschuldidaktischer Perspektive und vor dem bildungspolitischen Hintergrund eines gerade im Entstehen begriffenen europäischen Hochschulraumes. Wertvolle Hinweise gewinnt sie aus der Curricula-Forschung, aus einem internationalen Vergleich der Organisation der Schulbildung (u.a. Deutschland/Finnland) sowie der LehrerInnenbildung zwischen pädagogischer Professionalisierung und Performanzkontrolle. Anselm plädiert für eine Vernetzung der LehrerInnenbildung in Deutschland (u. a. Kontinuität statt Fragmentierung, Verbindung von Theorie und Praxis) und formuliert schließlich erste Implikationen für die Neugestaltung des Curriculums für das Lehramt an Gymnasien in den Philologien. Als Zielperspektive der LehrerInnenbildung sieht Dannecker forschendes Interesse an Lehr- und Lernprozessen.