Buch lesen: «Qualitative Medienforschung»
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Die Herausgeber:
Prof. Dr. Lothar Mikos lehrt im Studiengang Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Er hatte Gastprofessuren in Aarhus, Barcelona, Glasgow, Göteborg, Klagenfurt, London und Tarragona. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Kindermedienstiftung Goldener Spatz. Er gründete die Television Studies Section der European Communication Research and Education Association (ECREA). Seine Arbeitsschwerpunkte: Fernsehen und Digitalisierung, Transnationale Medienkultur, Rezeptionstheorie und -forschung, Populärkultur, qualitative Methoden der Medienforschung, Film- und Fernsehanalyse, Film- und Fernsehtheorie, vergleichende Geschichte von Film und Fernsehen.
Seit 2007 lehrt Prof. Dr. Claudia Wegener in den Studiengängen Digitale Medienkultur und Medienwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Sie ist zweite Vorsitzende im Kuratorium des »Kinder- und Jugendfilmzentrums in Deutschland« (seit 2004) und Mitglied im Aufsichtsrat der Medienboard Berlin-Brandenburg GmbH (seit 2010). Ihre Arbeitsschwerpunkte: digitale Medienkultur, Mediensozialisation, Kinder- und Jugendmedienkultur, Kommunikationstheorie, qualitative Medienforschung.
Lothar Mikos Claudia Wegener (Hg.)
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
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1. Auflage 2005
2. Auflage 2017
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Einbandfoto: © Rashad Ashurov / Shutterstock.com
Satz und Layout: Klose Textmanagement, Berlin
Simone Neteler:Teillektorat
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UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz
Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98
UTB-Band Nr. 8314
ISBN 978-3-8463-8647-7 (Print)
ISBN 978-3-8463-8647-7 (EPUB)
Inhalt
Einleitung
1 Grundlagen qualitativer Medienforschung
Wissenschaftstheorie und das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung UWE FLICK
Gütekriterien qualitativer Sozialforschung JO REICHERTZ
Kohärenz und Validität UWE FLICK
Forschungsethik und Datenschutz MATTHIAS RATH
Medien RALF VOLLBRECHT
2.1 Theoretischer Hintergrund qualitativer Medienforschung
Wissenssoziologische Verfahren der Bildinterpretation JO REICHERTZ
Kommunikative Gattungen ANGELA KEPPLER
Cultural Studies RAINER WINTER
Handlungstheorien FRIEDRICH KROTZ
Habitus und Lebensstil MICHAEL MEYEN
Medienhandeln und Medienerleben: Agency und »Doing Media« 112 SUSANNE EICHNER
Strukturanalytische Rezeptionsforschung KLAUS NEUMANN-BRAUN / ANJA PELTZER
Diskursanalyse RAINER DIAZ-BONE
2.2 Medienforschung – Alltagsforschung
Alltagshandeln mit Medien LOTHAR MIKOS
Der Domestizierungsansatz JUTTA RÖSER / KATHRIN FRIEDERIKE MÜLLER
Kommunikative Figurationen UWE HASEBRINK / ANDREAS HEPP
Medienökologie SONJA GANGUIN / UWE SANDER
Der medienbiographische Ansatz EKKEHARD SANDER / ANDREAS LANGE
Mediensozialisation in semiotischen Kontexten unserer disparaten Kultur BEN BACHMAIR
Konvergierende Medienumgebungen CORINNA PEIL / LOTHAR MIKOS
3 Forschungsdesign
Wie lege ich eine Studie an? CLAUDIA WEGENER / LOTHAR MIKOS
Das Babelsberger Modell LOTHAR MIKOS / ELIZABETH PROMMER
Medienproduktion (Production Studies) HANS-DIETER KÜBLER
Rezeptionsforschung ELIZABETH PROMMER
Inhaltsanalyse CLAUDIA WEGENER
Triangulation KLAUS PETER TREUMANN
Forschung mit Kindern und Jugendlichen INGRID PAUS-HASEBRINK
Kulturvergleichende Studien MIRIAM STEHLING
Einzelfallanalyse NINA BAUR / SIEGFRIED LAMNEK
4 Erhebungsmethoden
Qualitatives Interview SUSANNE KEUNEKE
Experteninterview DAGMAR HOFFMANN
Das narrative Interview in der Biographieforschung FRIEDERIKE TILEMANN
Qualitative Onlinebefragungen ULF-DANIEL EHLERS
Die mobile Onlinebefragung ANDREAS FAHR / VERONIKA KARNOWSKI
Gruppendiskussion BURKHARD SCHAFFER
Teilnehmende Beobachtung LOTHAR MIKOS
Medientagebücher YULIA YURTAEVA
Kinderzeichnungen als Erhebungsmethode NORBERT NEUSS
Szenisches Spiel FRIEDERIKE TILEMANN
Experiment VOLKER GEHRAU / HELENA BILANDZIC
Lautes Denken HELENA BILANDZIC
5 Aufzeichnung qualitativer Daten
Protokollierung ELIZABETH PROMMER
Transkribieren RUTH AYASS
Sequenzprotokoll HELMUT KORTE
Datenbeschreibung MAREIKE HUGGER / CLAUDIA WEGENER
Codierung ELIZABETH PROMMER / CHRISTINE LINKE
6 Auswertung
Konversationsanalyse RUTH AYASS
Dokumentarische Methode RALF BOHNSACK / ALEXANDER GEIMER
Diskursanalyse und Filmanalyse THOMAS WIEDEMANN
Onlinediskurs-Analyse STEFAN MEIER
Qualitative Inhaltsanalyse PHILIPP MAYRING / ALFRED HURST
Computerunterstützte Inhaltsanalyse UDO KUCKARTZ
Film- und Fernsehanalyse LOTHAR MIKOS
Videospielanalyse SUSANNE EICHNER
Analyse von Filmmusik und Musikvideos CLAUDIA BULLERJAHN
Videographie und Videoanalysen ANJA SCHÜNZEL / HUBERT KNOBLAUCH
Webformat-Analyse MARTINA SCHUEGRAF / ANNA JANSSEN
Netzwerkanalyse und Onlineforschung CHRISTIAN NUERNBERGK
Typenbildung FLORIAN REITH / UDO KELLE
Objektive Hermeneutik JÖRG HAGEDORN
Interpretative Ethnographie RAINER WINTER
Grounded Theory CLAUDIA LAMPERT
Heuristische Sozialforschung ISABEL SCHLOTE / CHRISTINE LINKE
Anhang
Autorinnen und Autoren
Allgemeine Bibliographie
Index
Einleitung
LOTHAR MIKOS/CLAUDIA WEGENER
Qualitative Medienforschung versteht sich als qualitative Sozialforschung, die sich über ihren Gegenstand, die Medien, definiert. Allerdings geht es nicht ausschließlich um die Medien, sondern um ihre Nutzung und Aneignung in der Lebenswelt und um die Rolle, die sie im Alltag der Menschen spielen. Denn: »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/Prommer 2004, S. 148). Medien leisten einen wesentlichen Beitrag »zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit« (Peltzer/Keppler 2015, S. 14). Sie sind Teil der sozialen und kulturellen Praxis der Menschen. Qualitative Medienforschung folgt damit dem Anspruch, den Flick, von Kardorff und Steinke (2015, S. 14) generell für qualitative Forschung markiert haben: »Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten ›von innen heraus‹ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben. Damit will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen.« Die Offenheit für die Erfahrungen der Menschen ist ein wesentliches Merkmal dieser Forschung. Das unterscheidet sie von der quantitativen Forschung, die auf generalisierbare Merkmale Wert legt und nicht in die Tiefenstruktur sozialer Wirklichkeit eindringt.
Qualitative und quantitative Medienforschung werden von uns jedoch nicht als Gegensätze begriffen, die sich ausschließen. Beide Verfahrensweisen haben ihre erkenntnistheoretischen und empirischen Möglichkeiten und Grenzen. Daher ergänzen sie sich (→ Flick, S. 18 ff.). Während die quantitative Forschung in der Lage ist, statistisch verwertbare Daten zu liefern, z. B. über den Medienkonsum in Form des Marktanteils von Fernsehen, Zeitungen oder Zeitschriften, kann die qualitative Forschung Auskunft über tieferliegende Motive und Strukturen der Mediennutzung liefern, da sie mit ihren Verfahren den Alltag und die Lebenswelt der Mediennutzer »von innen heraus« zu verstehen sucht. Sie hat ihren eigenen Stellenwert. Qualitative Forschung passt die Methoden ihren Fragestellungen und zu untersuchenden Gegenständen an. Bei ihr stehen nicht große Zahlen und Datenmengen im Mittelpunkt, sondern sie sieht ihre Aufgabe darin, kleinere Fallzahlen intensiv auszuwerten (→ Baur/Lamnek, S. 290 ff.). Die Reflexivität bezüglich der Methoden, der Subjektivität des Forschers, des Forschungsprozesses und der Darstellung der Ergebnisse zeichnet sie aus. Charakteristisch für die qualitative Medienforschung ist nicht nur ein häufig theoretisch interdisziplinärer Ansatz, sondern ebenso methodische Integration. Die Begrenztheit bzw. Reichweite ihres methodischen Ansatzes ist qualitativen Forschern bewusst, eine Kombination von quantitativen und qualitativen Verfahren schließen sie in ihren Untersuchungen von komplexen Kommunikations- und Medienphänomenen nur selten aus.
Die qualitative Medienforschung hat seit den 1980er Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Zwar werden qualitative Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung in zahlreichen Studien, die sich mit der Nutzung und Aneignung von Medien befassen, eingesetzt, doch können sie weder in der traditionellen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft noch in der sich weitgehend analytisch und theoretisch definierenden Medienwissenschaft als etabliert gelten. Ihr umfassender Einsatz findet eher in Disziplinen wie Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie statt, die auf eine längere Tradition qualitativer Forschung zurückblicken können. Erst in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts haben sich einige Vertreter der Kommunikationswissenschaft mit qualitativen Methoden auseinandergesetzt (vgl. Averbeck-Lietz/Meyen 2016; Meyen/ Löblich/Pfaff-Rüdiger/Riesmeyer 2011).
Wie sinnvoll qualitative Verfahren in der Medienforschung sind, zeigt sich beispielsweise im Rahmen medienpädagogischer Forschung, die sich mit der Untersuchung kindlicher Mediennutzung beschäftigt (→ Paus-Hasebrink, S. 276 ff.). Hier kommt man mit standardisierten Untersuchungen nicht weit, methodische Kreativität ist gefordert. Eine wichtige Methode bei der Untersuchung von kindlichem Medienumgang und kindlicher Mediennutzung sind neben teilnehmender Beobachtung und verschiedenen Spielformen, in denen Themen aus den Medien, insbesondere dem Fernsehen, zum Gegenstand gemacht werden, vor allem Kinderzeichnungen (→ Neuß, S. 380 ff.). Wenn Kinder ihre Medienerlebnisse und -erinnerungen bildlich darstellen, haben Forscher manchmal Schwierigkeiten, sie auf den ersten Blick zu verstehen. Denn für die Kinder sind an den Bildern auch Dinge wichtig, die dem Auge des erwachsenen Betrachters ohne Erklärung verborgen bleiben. Ist einmal mithilfe der Kinder ein Zugang gefunden, lassen sich zahlreiche Hinweise auf den Medienalltag der Kinder, ihre häusliche Umgebung sowie die Strukturen der Familien, in denen die Kinder aufwachsen, finden.
Qualitativer Medienforschung geht es vor allem darum, das Medienverhalten und den Umgang mit Medien in seiner ganzen Komplexität zu erfassen oder, wie es Dieter Baacke und Hans-Dieter Kübler einmal formuliert haben, »die Ganzheit einer Kommunikationssituation ins Auge zu fassen«, denn: »Nicht die präzise Isolation von Variablen zur methodisch sauberen Erfassung ist das primäre Ziel dieses Ansatzes, sondern eine möglichst angemessene Annäherung an die Wirklichkeit« (Baacke/Kübler 1989, S. 5). Dazu dürfen keine künstlichen Laborwelten geschaffen werden, sondern die Forscher gehen in den Alltag der Menschen, um die dort vorhandenen Muster und Strukturen zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären.
Qualitative Medienforschung ist nicht gleich qualitative Medienforschung. So unterscheiden sich in den entsprechenden Studien nicht nur der Bezug zu den Medien und die Methoden der Datenerhebung, die Arten der Datenaufzeichnung und die Strategien der Auswertung. Auch der Forschungskontext und die damit verbundene Absicht divergieren. Drei Arten können in diesem Sinne idealtypisch unterschieden werden:
Angewandte Medienforschung, die von zahlreichen Instituten im Auftrag von Fernsehsendern oder anderen Medieninstitutionen durchgeführt wird. Sie ist im Wesentlichen auf schnelle Verwertung angelegt, steht sie doch im Dienste der Programmplanung. Moderationsformen, Sendungskonzepte und Serien werden mit qualitativen Methoden getestet. Dabei bleibt selten Zeit, sich grundlegenderen Forschungsfragen zu widmen.
Grundlagenforschung, die sich im Wesentlichen auf grundsätzliche Fragen der Mediennutzung konzentriert und von Universitäten und Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel dem Deutschen Jugendinstitut oder dem Hans-Bredow-Institut geleistet wird.
Angewandte medienpädagogische Forschung, die von einigen Instituten wie zum Beispiel dem Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) in München sowie von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Auftrag vor allem der Landesmedienanstalten durchgeführt wird. Daher konzentriert sich das Forschungsinteresse hier auf medienpädagogische Probleme und Fragen des Jugendschutzes.
In der Medienforschung haben qualitative Verfahren ihren eigenen Stellenwert, der sich nicht aus der Konkurrenz zur quantitativen Forschung ergibt, sondern aus den ihnen zugrunde liegenden Forschungsfragen und den je spezifischen Forschungsabsichten, die lebensweltliche Einbindung und sinnhafte Deutung zu entdecken versuchen. Und sie haben ihre eigenen Gesetze von Repräsentativität, die sich weniger an großen Fallzahlen orientieren als vielmehr an der Intensität des Forschungsprozesses und der Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Qualitative Medienforschung erschöpft sich nicht allein in der Anwendung so genannter qualitativer Forschungsmethoden. Dahinter steht vielmehr eine grundsätzlich andere Haltung dem Forschungsprozess und den erforschten Menschen gegenüber. Denn es geht in erster Linie darum, das Medienhandeln der Menschen in alltäglichen Strukturen zu verstehen und seine Bedeutung in lebensweltlichen Zusammenhängen nachzuzeichnen (→ Sander/Lange, S. 183 ff.; → Eichner, S. 112 ff.; → Hasebrink/Hepp, S. 164 ff.; → Mikos, S. 146 ff.; → Röser/Müller, S. 156 ff.). Dazu gehört, dass man die Zuschauer, auch die kindlichen und jugendlichen Zuschauer, in ihrem alltäglichen Verhalten ernst nimmt und sich auf sie einlässt. Denn in der qualitativen Forschung können Ergebnisse nur gemeinsam mit den Untersuchten erzielt werden.
Qualitative Medien- und Kommunikationsforschung ist nicht der »Königsweg«. In Zeiten pluraler Lebenswelten kann es den auch nicht geben – sie bietet aber verschiedene Möglichkeiten und Wege, sich der Wirklichkeit gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse und dem alltäglichen Medienumgang zu nähern. Qualitative Forschung ist grundsätzlich im Zusammenhang mit hermeneutischen und ethnographischen Verfahren (→ Hagedorn, S. 580 ff., → Winter, S. 588 ff.) sowie mit einem Selbstverständnis der Forscher zu sehen, die davon geleitet werden, den Gegenstand ihrer Forschung, die handelnden Subjekte in ihren alltäglichen Lebensäußerungen zu verstehen. Denn der Gegenstand der Forschung ist die subjektive Deutung von medialen Kommunikationsverhältnissen und kulturellen Praktiken, die in ihrem Sinn für die Zuschauer, Nutzer bzw. das Publikum sinnhaft zu verstehen sind. Da generalisierte Medien der Lebenswelt verhaftet bleiben und kulturelle Praktiken nur im Rahmen von Sozialwelten denkbar sind, muss sowohl der Kultur als auch der Alltagsund Lebenswelt der handelnden Subjekte in der qualitativen Medienforschung große Bedeutung beigemessen werden. Qualitative Forschung ist eine Form kommunikativer Praxis.
Die Geschichte qualitativer Medien- und Kommunikationsforschung in Deutschland zeigt, dass sie – sind diese Prämissen erfüllt – auch eine gewisse Bedeutung erlangt. Noch trifft das kaum auf die klassische Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zu, auch wenn sich dort im Jahr 2016 ein Netzwerk Qualitative Methoden gegründet hat. Größere Bedeutung hat sie in der medienpädagogischen Forschung, der sprachwissenschaftlichen und linguistischen Medienforschung sowie der wissenssoziologischen Medien- und Kulturforschung erlangt. Die Rezeption der so genannten »British Cultural Studies« in der Medienwissenschaft hat einen wesentlichen Beitrag zur qualitativen Wende der Medienforschung geliefert, da ethnographische Verfahren in den Cultural Studies eine wesentliche Rolle spielen. Zugleich gehen die Cultural Studies (→ Winter, S. 86 ff.) von einem theoretischen Selbstverständnis aus, das ähnlich wie in der Handlungs- bzw. Aktionsforschung Partei für die handelnden Subjekte ergreift. Arbeiten der Cultural Studies zielen darauf ab, die kulturellen und sozialen Praktiken der handelnden Subjekte nicht nur sinnhaft zu verstehen und deutend zu interpretieren, sondern diese Praktiken zugleich zu kontextualisieren, d.h. sie in den Zusammenhang von ökonomischen, sozialen, politischen und anderen Strukturen zu stellen. Grundlage ist dabei aber immer, dass es die Forschenden mit symbolischen Äußerungen und Handlungen der Subjekte zu tun haben, mit einem von den Subjekten selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe, das es nicht zu entschlüsseln gilt, wie häufig fälschlich angenommen wird, sondern das es sinnhaft zu verstehen gilt. Der Anthropologe Clifford Geertz hat deshalb für den Prozess der ethnographischen Forschung gefordert, die Bedeutungsstrukturen, in die Menschen verstrickt sind, herauszuarbeiten und anschließend eine »dichte Beschreibung« dieser Strukturen zu liefern (Geertz 1987). Dabei geht es nicht allein darum, die beobachteten kulturellen und sozialen Praktiken in eine konsistente Interpretation und kohärente, ethnographische Erzählung (→ Winter, S. 588 ff.) zu verwandeln, sondern auch die Inkonsistenzen anzuerkennen. In seinem Grundlagenwerk zur interpretativen Soziologie, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Projekt der Cultural Studies aufweist, hat Anthony Giddens (1984, S. 181; H. i. O.) auf diesen Aspekt besonders hingewiesen: »Was aber für Konsistenzen innerhalb von Bedeutungsrahmen gilt, trifft auch auf Inkonsistenzen und auf strittige oder umkämpfte Bedeutungen zu, d.h. diese müssen ebenfalls hermeneutisch verstanden werden.«
Gerade deshalb hat Lawrence Grossberg (1994) für die Cultural Studies auch gefordert, sich durch Theorien nicht den Blick auf die alltäglichen Praktiken der Subjekte verstellen zu lassen, sondern die alltäglichen Praktiken als Anregung für die Theorieentwicklung zu begreifen. Für die qualitative Medienforschung heißt dies, ihre Methoden dem Gegenstand anzupassen, offen für die Erfahrungen der untersuchten Menschen zu sein, um so Anregungen für die Theorieentwicklung zu erhalten und weitere empirische Forschungen zu generieren.
Das Ziel, kulturelle und soziale Praktiken zu verstehen, oder anders ausgedrückt: das Alltagsleben und die Sozialwelt in ihrem sinnhaften Aufbau für die handelnden Subjekte – und damit die verschiedenen Medienpublika – zu verstehen, bedeutet für die qualitative Forschung eine eigenständige Etablierung und einen gleichberechtigten Platz neben der quantitativen Forschung. Für die Medienforschung heißt dies insbesondere, dass qualitative Forschung nicht nur als methodisches Vorgehen, sondern als sozial- und kulturwissenschaftliches Verfahren der Erkenntnisgewinnung und als theoretisches Selbstverständnis einen besonderen Stellenwert erhält. Dies gilt umso mehr, als Medien und Medienprodukte ihre Bedeutung erst im alltäglichen Handeln und der sozialen und kulturellen Praxis der Menschen entfalten (→ Eichner, S. 112 ff.; → Ganguin/Sander, S. 175 ff.; → Hasebrink/ Hepp, S. 164 ff.; → Keppler, S. 77 ff.; → Krotz, S. 94 ff.; → Meyen, S. 104 ff.; → Mikos, S. 146 ff.; → Röser/Müller, S. 156 ff.).
Qualitative Medienforschung ist weitgehend mit qualitativer Rezeptionsforschung gleichgesetzt worden (→ Peltzer/Neumann-Braun, S. 122 ff., → Prommer, S. 249 ff.). Die Analyse der Produktion (→ Kübler, S. 237 ff.) sowie von Produkten, Texten und Diskursen erlebt in der Medienforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung. Das mag damit zusammenhängen, dass insbesondere die strukturalistische Variante der qualitativen Forschung ganz im Sinne quantitativer, aber auch qualitativer Inhaltsanalyse bemüht ist, einen manifesten oder latenten Sinn in medialen Produkten oder Texten ausfindig zu machen (→ Mayring/Hurst, S. 494 ff. und Wegener, S. 200 ff.). In der Folge poststrukturalistischer Debatten und als Konsequenz interaktionistischer Konzepte hat sich in Teilen der Medienwissenschaft und in den Cultural Studies ein anderer Textbegriff durchgesetzt, der davon ausgeht, dass Texte keine freizulegende Bedeutung haben, sondern dass sie erst im Rahmen sozialer und kultureller Diskurse Sinn machen. Daher bedarf die Medienanalyse auch der Erweiterung in eine Diskursanalyse (→ Diaz-Bone, S. 131 ff.).
Ein Problem ist dabei nach wie vor, dass es die Analyse von medialen und populärkulturellen Texten nicht nur mit diskursiven, sondern auch mit präsentativen Symbolen zu tun hat (→ Bullerjahn, S. 534 ff., Eichner, S. 524 ff., Korte, S. 432 ff.). Es gilt also nicht nur Sprache und Schrift zu analysieren (→ Ayaß, S. 421 ff.), sondern vor allem die Bilder in ihrem Zusammenspiel mit Tönen, Sound, Sprache, Schrift und Musik. Im Ansatz der »struktur-funktionalen Film- und Fernsehanalyse« wird dies miteinander verbunden (→ Mikos, S. 516 ff.). Im Mittelpunkt der Analyse steht nicht die Frage, welche Bedeutung der Inhalt von Filmen oder Fernsehsendungen hat, sondern in welcher Weise sich Inhalt, Narration und formale Gestaltung von medialen Produkten mit dem Wissen der Zuschauer und den sozialen und kulturellen Diskursen verbinden, um so audiovisuelle Produkte auch wirklich als Material symbolischer Kommunikation im Rahmen des Alltags und der Lebenswelt der als Zuschauer handelnden Subjekte sinnhaft verstehen zu können (vgl. Mikos 2015).
Patentrezepte und einfache Lösungen gibt es sicher nicht: Die qualitative Medien- und Kommunikationsforschung muss anhand ihrer Gegenstände ihr innovatives und kreatives Potenzial entfalten, um neue methodische Wege einzuschlagen. Dann kann sie ihre Ergebnisse verfeinern, weil sie noch näher am Alltag ist, ihre Untersuchungsobjekte noch ernster nimmt und mit ihnen in einen intensiven kommunikativen Prozess tritt. Qualitative Medienforschung richtet den genauen Blick auf die alltäglichen Bemühungen der Menschen, ihrem Leben einen Sinn zu geben – auch mit Medien. Darin liegt ihre große Stärke. Sie zeigt, wie das Leben wirklich ist. Und dieses Leben gehorcht keinen einfachen Wirkungsmechanismen. Es ist erheblich komplexer und widerständiger als mitunter angenommen wird. Die qualitative Medienforschung ist bemüht, diese Komplexität und Widerständigkeit zu beschreiben und zu erklären. Sie überzeugt durch Plausibilität, Reflexivität und Validität → Reichertz, S. 27 ff., → Flick, S. 36 ff.). Das macht ihre Ergebnisse nicht nur für den Diskurs der Medien- und Kommunikationswissenschaft attraktiv, sondern auch für Medienmacher und -Produzenten, denn in den Äußerungen von Zuschauern scheint alltägliche Medienkompetenz im Umgang mit Medienprodukten deutlicher hervor als in Angaben zu Marktanteilen.
Die zunehmende Bedeutung der qualitativen Medienforschung hängt auch mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusammen. Der für die Gesellschaft konstatierten Pluralisierung von Lebenswelten und Lebensstilen, die als Ausdruck der Individualisierung gesehen wird, entspricht die Aufsplitterung des Publikums in vielfältige Zielgruppen. Die Fernseh- und Kinoprogramme, die verschiedenen Zeitungs- und Zeitschriftentitel haben kein beliebiges Publikum mehr im Visier, sondern spezifische Zielgruppen. Mit der Digitalisierung haben diese Praktiken einen neuen Schub bekommen. Algorithmen passen die Inhalte an die Nutzungsmuster von Konsumenten an, und mit Big-Data-Analysen kann man deren Verhalten bis in kleinste Verästelungen aufspüren. Diese quantifizierenden Methoden können aber eins nicht, den subjektiven Sinn verstehen, den die Konsumenten ihrer Mediennutzung geben. Dazu bedarf es dann der qualitativen Forschung, denn deren besondere Stärke liegt darin, die Vielfältigkeit der Medien im Lebensalltag des einzelnen Rezipienten zu berücksichtigen, ihre je spezifische Bedeutung im Kontext von individuellem Umgang und Aneignung erfassen zu können und gleichzeitig auch Aspekte von Globalisierung sowie deren Sinndeutung im Medienalltag des Individuums nachzuzeichnen (→ Stehling S. 283 ff.).
Die qualitative Untersuchung von Medienprodukten sowie deren Verwendung im Alltag und der Lebenswelt der Menschen leistet einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis sozialer Wirklichkeit. Ihre Stärke liegt in ihrem offenen Charakter und ihrer Zielsetzung als eine »entdeckende Wissenschaft« (Flick/von Kardorff/Steinke 2015), die nicht theoretische Vorannahmen zu bestätigen sucht, sondern sich gerade von der Nähe zur sozialen und kulturellen Praxis der Menschen zu neuen theoretischen Einsichten inspirieren lässt.
Das Handbuch ist als fundierte Einführung gedacht, die nicht nur theoretische Grundlagen bietet und einen Einblick in die zentralen Anwendungsfelder qualitativer Medienforschung gibt, sondern darüber hinaus als detaillierte Anleitung zum qualitativen Forschen verstanden werden kann. Das kreative Potenzial qualitativer Methoden, sowohl in ihrer singulären Anwendung als auch im methodischen Verbund herauszustellen, dabei auch den Stellenwert neuer Medien im Forschungsund Auswertungsprozess aufzuzeigen und klassische Erhebungsmethoden ebenso wie innovative und außergewöhnliche Vorgehensweisen im qualitativen Forschungsprozess darzulegen, ist ein wesentliches Anliegen des Buches.
Es soll Forschenden und Studierenden verschiedener Disziplinen, die Medienforschung betreiben, ein Hilfsmittel sein, um Studien zu planen und die ihrem Gegenstand angemessenen Methoden zu finden. Es ist als Bestandsaufnahme, Überblick und Positionsbestimmung der qualitativen Medienforschung gedacht.
Das Handbuch gliedert sich in sieben Bereiche. Im ersten Teil werden die Grundlagen qualitativer Forschung dargestellt, von der wissenschaftstheoretischen Verortung über Gütekriterien und Kohärenz bis hin zum Begriff der Medien und Fragen der Forschungsethik und des Datenschutzes. Der zweite Bereich widmet sich den theoretischen Hintergründen der qualitativen Medienforschung, der noch einmal unterteilt ist: Im ersten Teil werden theoretische Ansätze vorgestellt, die für die qualitative Medienforschung wichtig sind; im zweiten Teil werden Aspekte der alltagsnahen Medienforschung dargestellt – von der Mediensozialisation bis hin zur Mediennutzung in konvergierenden Medienumgebungen. Der dritte Teil widmet sich der Konzeption, Planung und dem Design von qualitativen Medienforschungsprojekten und berücksichtigt dabei die klassischen Bereiche der Medienforschung ebenso wie einzelne spezifische Themenfelder. Im vierten Teil werden verschiedene Erhebungsmethoden beschrieben, die zahlreiche Möglichkeiten der Generierung von Aussagen darstellen. Der fünfte Teil stellt Verfahren zur Aufzeichnung und Dokumentation qualitativer Daten vor. Der sechste Teil setzt sich mit den verschiedenen Auswertungsmethoden auseinander. Im siebten Teil schließlich, dem Anhang, werden neben dem Autorenverzeichnis, einer allgemeinen Bibliographie, welche Bücher zur qualitativen Medien- und Sozialforschung enthält, auch Fachzeitschriften und Websites aufgelistet, die sich der qualitativen Forschung widmen. Ein umfangreiches Register erleichtert die Arbeit mit dem Handbuch. Verweise auf Beiträge innerhalb des Handbuchs sind mit Pfeilen gekennzeichnet.
Seit der ersten Auflage dieses Handbuchs sind zwölf Jahre vergangen, in denen sich die Medienlandschaft teilweise rasant gewandelt hat. Daher wurden in die Neuauflage zahlreiche neue Beiträge aufgenommen, die einerseits theoretische Entwicklungen reflektieren und andererseits auf neue methodische Herausforderungen eingehen, die auf Grund der Digitalisierung entstanden sind.