Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

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Aus der Reihe: Studien zur Pragmatik #4
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3.2 Markiertheit auf der Bildebene

Die Maxime der Art und Weise und das M-Prinzip beziehen sich auf den Sprachgebrauch. Im Rahmen der Bilderbuchanalyse ist es möglich, diese Prinzipien auch auf Bilder zu beziehen. Die fundamentale Annahme ist, dass es Erwartungen in Bezug auf „normale“ Bilder gibt, gegen die in der Bildkunst mit Absicht verstoßen wird, so dass neuartige Bildinterpretationen gewonnen werden können. Eine Adaption des M-Prinzips für Bilder könnte so aussehen wie in (10):


(10) M-Principle (adapted for pictures)
Author’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereotypical situation by using marked pictures that contrast with those you would use to represent the corresponding normal, stereotypical situation.
Recipient’s corollary: What is represented in an abnormal way indicates an abnormal situation, or marked pictures indicate marked situations (…).

Was kann man unter einem (für Kinder) „markierten“ Bild verstehen? Betrachtet man die Bilder von Äpfeln oder Bällen, die man in Frühe-Konzepte-Büchern findet (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2005), die sich an etwa 12 Monate alte Kinder richten, so stellt man eine erhebliche Variation fest: Es gibt Bilder in Schwarzweiß und in Farbe, es gibt Zeichnungen und Fotografien, die Abbildungen folgen dem Prinzip des Realismus, jedoch gibt es auch Bilder mit einem hohen Abstraktionsgrad. Dennoch, so kann man vermuten, wird es unter diesen Bildern Abbildungen geben, die einen prototypischen Charakter haben. Sie erleichtern optimal die Erkennung des Dargestellten und passen zu den Bildkenntnissen bzw. der Visual Literacy der Kinder. Markiert dürften dagegen (zumindest für heutige Kinder) die Schwarzweiß-Fotografien von Edward Steichen in The First Picture Book (1930) wirken. Diese Fotografien folgen den Prinzipien der Neuen Sachlichkeit und heben die Alltagsgegenstände durch die Perspektivwahl, das Arrangement im Raum und die Lichtregie bewusst hervor, so dass ihnen eine gewisse ‚Aura‘ verliehen wird. Auch die abstrakten Bilder von Dick Bruna in Erste Bilder (1987) dürften als „markiert“ wahrgenommen werden. Hierbei sind die jeweiligen Gegenstände in einer Weise abstrahiert, dass nur noch wesentliche Merkmale wie ihre Form bzw. Umriss wiedergegeben werden, bis hin dazu, dass eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Objekt nicht immer möglich ist.

In Bezug auf herausfordernde Bilderbücher möchten wir hier nur erstens die Collage und zweitens ungewöhnliche graphische Markierungen nennen.1 Verfahren der Collage, z. B. die Kombination von Zeichnung und Fotografie, finden wir in vielen herausfordernden Bilderbüchern, so etwa in den bereits genannten Bilderbüchern von Stian Hole und Karoline Kehr, aber auch in Neil Gaimans Die Wölfe in den Wänden (2005), mit Illustrationen von Dave McKean, oder Shaun Tans Die Fundsache (2009). Nach Elina Druker (2018: 49) ist die Collage „the process of assembling fragments of different materials to create a composite image“. So verwendet Stian Hole Fotografien und Zeichnungen, die mithilfe von Photoshop zusammengefügt werden, um hyperrealistische Effekte zu erzielen. Shaun Tan collagiert Zeichnungen mit Ausschnitten aus technischer Literatur und Textinserts, so dass eine technisch-nostalgische Welt assoziiert werden kann. Dave McKean kombiniert Zeichnungen, Fotoausschnitte und übereinander geklebte Teile aus Buntpapier, um darzustellen, dass die Welt der im Fokus stehenden Familie aus den Fugen gerät. Karoline Kehr baut dreidimensionale Modelle, die fotografiert werden, so dass die Fotografie mit kolorierten Zeichnungen von Figuren oder Gegenständen bemalt und eventuell am Computer bearbeitet werden kann. Aus Platzgründen können wir nicht auf die vielfältigen und komplexen Verfahren der Collagenerstellung eingehen. Hier genügt die Einsicht, dass auf diese Weise markierte Bilder entstehen.

Ungewöhnliche graphische Markierungen tragen ebenfalls zur Markierung von Bildern bei. Hiawyn Orams Angry Arthur (1984), mit Illustrationen von Satoshi Kitamura, ist hierfür ein gelungenes Beispiel. Das Bilderbuch thematisiert die Wut eines kleinen Jungen, der sich darüber ärgert, dass er abends nicht mehr fernsehen darf. In diesem Buch findet man Bilder, die von Zickzacklinien durchzogen sind. Diese stehen in einem Gegensatz zu den vorherigen Bildern ohne Zickzacklinien, die Arthur in einem normalen emotionalen Zustand zeigen. Markiert sind diese Zickzacklinien auch dadurch, dass sie in einem realistischen Setting, nämlich einem Kinderzimmer, verankert sind. Da sie nicht Bestandteil einer realistisch-fiktionalen Welt sind, fordern sie die Aufmerksamkeit des Betrachters heraus. Die Zickzacklinien signalisieren, zusammen mit der Textinformation „He got so angry that his anger became a stormcloud exploding thunder and lightning and hailstones“, den Zustand der sich steigernden Wut, unterstreichen aber auch die Wettermetapher von Blitz und Donner (Rau 2011: 148).

In Fuchs (2003) von Margaret Wild und Ron Brooks finden wir collagierte Texte, die statt in der Vertikalen (wie normalerweise erwartet werden kann), in der Horizontalen stehen. Zwischen diese Textblöcke sind die Illustrationen der Figuren und des Settings gestellt. Aufgrund der Textanordnung ist die Betrachterin also gezwungen, auf manchen Doppelseiten das Buch um 90 Grad zu drehen. Sie gewinnt auf diese Weise eine neue Perspektive auf das Bild. Eine solche atypische Anordnung der Textinformation kann wiederum gedeutet werden als Grenze oder Barriere zwischen den drei Protagonisten, einem Fuchs, einer Elster und einem Hund, zwischen denen ein spannungsgeladenes Dreiecksverhältnis existiert (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2015).

Wie diese Bilderbuchbeispiele zeigen, können auch Bilder markiert sein, indem sie gegen Normalerwartungen verstoßen.2 Sie laden daher zu besonderen Interpretationen ein. Dabei, so unsere Hypothese, könnten bildbezogene Versionen der Maxime der Art und Weise bzw. des M-Prinzips eine wichtige Rolle spielen, denn durch die Markiertheit der Bilder wird die Betrachterin darauf hingewiesen, dass diese offensichtlich ungewöhnliche, normalerweise nicht erwartbare Situationen, Settings und Konstellationen darstellen. Auch hier wird von der Betrachterin erwartet, dass sie ein Vorwissen über Standardsituationen und prototypische bildliche Darstellungen hat, um überhaupt in der Lage zu sein, die markierten Bilder zu erkennen und im Kontext der Narration zu deuten.

3.3 Markiertheit in Text-Bild-Kombinationen

Die Erforschung des Text-Bild-Verhältnisses steht im Zentrum der Bilderbuchtheorie (Kümmerling-Meibauer 2018). Normalerweise, so kann man annehmen, unterstützen und ergänzen sich Bilder und Texte in einem Bilderbuch gegenseitig. Man kann auch sagen, dass das Bild einen Kontext für den Text darstellt und der Text einen Kontext für das Bild. Die gelegentlich anzutreffende Meinung, dass bei Bilderbüchern die Bilder das „Entscheidende“ seien, ist unbegründet. Selbst bei textlosen Bilderbüchern muss es einen mentalen Text geben. Texte und Bilder können aber auch in einem konfliktären, markierten Verhältnis zueinander stehen. Die Betrachterin mag erkennen, dass beide nicht zueinander passen. Ihr Verhältnis zueinander ist folglich gestört.

Ironie und Metapher im Bilderbuch sind einschlägige Fälle. Beide Redefiguren werden im Grice’schen System zwar als Ausbeutungen der Maxime der Qualität betrachtet (Grice 1989). Aber die Beobachtung, dass wir ein markiertes Text-Bild-Verhältnis haben, könnte ihren Ursprung in der Maxime der Art und Weise bzw. dem M-Prinzip haben. Dieser Kontrast würde dann zur Ableitung einer ironischen oder metaphorischen Interpretation führen.

So beklagt sich ein auf der Bordsteinkante sitzender Junge in Ellen Raskins Nothing Ever Happens on My Block (1966) darüber, dass in seiner Nachbarschaft nichts passiert. Während er gelangweilt in Richtung des Betrachters schaut, passieren hinter seinem Rücken aufregende Dinge, wie ein Banküberfall, ein Hausbrand, ein Unfall, usw. Das Setting ist in Schwarzweiß gehalten, aber die neuen Ereignisse sind farblich markiert (Rot, Blau, Grün und Gelb). Der Junge geht in seinem Lamento überhaupt nicht auf die Veränderungen in seiner Umgebung ein, selbst als diese sich nicht nur hinter seinem Rücken, sondern sogar vor seinen Augen abspielen. Dieser Gegensatz könnte nun einer ironischen Interpretation Auftrieb geben, wie Kümmerling-Meibauer (1999) argumentiert hat. Vor lauter empfundener Langeweile und Selbstbedauern hat der Junge verlernt, seine Umgebung genau zu beobachten.

Noch komplizierter ist das Text-Bild-Verhältnis in Karoline Kehrs Schwi-schwa-Schweinehund. Der Schweinehund ist offenbar ein Charakter, der eine schädliche Neigung verkörpert. Als Hintergrundwissen sollte man den Phraseologismus den inneren Schweinehund überwinden heranziehen. Der Witz dieses Bilderbuchs besteht nun darin, den Schweinehund als eine Mischung aus Hund und Schwein zu visualisieren. Er hat auch eine eigene Stimme (er spricht in der 1. Person), er kann sein Verhältnis zu dem Mädchen artikulieren, dessen schlechtes Benehmen er beeinflusst. Als das Mädchen sich gegen den Schweinehund zu wehren beginnt, ist dieser beleidigt und sinnt auf Rache. Zum Schluss des Buches hat sich die Protagonistin wieder mit dem Schweinehund versöhnt. Die antiautoritäre, liberale Botschaft ist, dass die allzu strenge Bekämpfung des Schweinehunds nicht weiterhilft. Aber ist der Schweinehund in der Welt der Geschichte eine reale Figur? Oder ist er eine bloße Projektion, eine visuelle Metapher der kindlichen Gefühlswelt? Dies bleibt letzten Endes offen.

 

Ähnlich komplex stellt sich das Text-Bild-Verhältnis in Stian Holes Annas Himmel dar. Anna und ihr Vater sind in Trauer und müssen eigentlich zur Beerdigung von Annas Mutter. Anna hängt kopfüber an einer Schaukel im Garten und denkt über den Tod nach, ob Gott eine Bibliothek hat, ob sich ihre Mutter im Himmel um den Garten kümmert, ob es hinter dem Spiegel eine andere Seite gibt, usw. Auf ihre Fragen und Ideen antwortet ihr Vater zunächst eher verhalten, aber im Verlauf des Gesprächs öffnet er sich für die phantasievollen Vorstellungen Annas. Die begleitenden Bilder greifen die Motive ihrer Unterhaltung auf, allerdings in einer eher freien Weise. Wenn Anna z. B. fragt, ob Gott alles, was auf der Erde geschieht, im Auge behalten kann, zeigt die Doppelseite einen Pfau, auf dessen Rad hunderte von Augen (von Menschen und von Tieren) zu sehen sind. Die collagierten Bilder evozieren eine Traum- und Phantasiewelt, die gleichsam als Metapher für die im Text angesprochenen offenen Fragen zu deuten sind. Hier haben wir den Fall, dass ein Bilderbuch auf der Textebene und auf der Bildebene markiert ist und dass sich erst durch das Zusammenspiel von Text und Bild die komplexe Bedeutung der Narration enthüllt. Die vielfachen Markierungen tragen dazu bei, den Lese- und Betrachtungsprozess zu verlangsamen.

4 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur
4.1 Der Erwerb der Maximen

Wir haben angenommen, dass das Konzept der Markiertheit bei der Lektüre und Interpretation herausfordernder Bilderbücher eine zentrale Rolle spielt. Aber weiß man etwas darüber, wann und wie Kinder so etwas wie das M-Prinzip erwerben? Oder wie herausfordernde Bilderbücher den Erwerb des M-Prinzips beeinflussen können?

Dazu scheint es wenig Forschung zu geben (vgl. Schulze/Grosser/Spreer 2018). In ihrem Überblick zum Pragmatikerwerb geht Zufferey (2015) nur auf den Erwerb von Metapher und Ironie ein, die beide mit der Maxime der Qualität in Verbindung gebracht werden können. Zur spezifischen Submaxime der Art und Weise „Be brief (avoid unnecessary prolixity)“ können wir uns auf Clark/Kurumada (2013) stützen, die eine Entwicklung von der Notwendigkeit zur Wahlfreiheit („from necessity to choice“) sehen: „When children begin to talk, brevity of form is not a matter of choice: it is the only option“ (241). Normalerweise misst man die Komplexität kindlicher Äußerungen über die durchschnittliche Äußerungslänge (MLU). Nach Clark und Kurumada haben 2- bis 3-Jährige einen MLU-Wert von 2.5 und 4-Jährige einen MLU-Wert von 3.3, während 5-Jährige einen MLU von 2.73 haben. Wie kann man diesen Unterschied erklären? Clark/Kurumada deuten ihn folgendermaßen:

[…] when pragmatic contexts and the topic of interaction are controlled, as was done in the current dataset, we see that children’s utterances become more compact between age four and five. This, we suggest, reflects increasing ability of five-year-olds to attend to both brevity and relevance in their contributions. (245)

Diese Beobachtung könnte eventuell darauf hinweisen, dass Kinder ab dem Alter von fünf Jahren, wenn sie die Möglichkeit haben, zwischen kurzen und langen Äußerungen abzuwägen und dabei auch schon die Maxime der Art und Weise zu berücksichtigen, erkennen, dass markierte Äußerungen und Texte auf bewussten Entscheidungen beruhen und infolgedessen vom Rezipienten entdeckt und gedeutet werden sollen.

Man könnte auch vermuten, dass die Entdeckung von Markiertheit einen Vorläufer im Kontrastprinzip hat (Clark 1993: 67–83; 90–102). Dieses pragmatische Prinzip „captures the insight that when speakers choose an expression, they do so because they mean something that they would not mean by choosing an alternative expression“ (Clark 1993: 70). Diese Annahme treibt den lexikalischen Erwerb von früh auf voran. In Verbindung mit dem Prinzip der Konventionalität, d.h. der Annahme, dass Wörter konventionelle Bedeutung haben, hält es Kinder davon ab, neue Wörter zu bilden, die synonym mit den alten sind und zwingt sie, Annahmen über eine speziellere Bedeutung zu machen, wenn sie anscheinend vollständig synonymen Wörtern begegnen (Clark 1993: 82). Diese Prinzipien werden von früh auf, d.h. ab ca. 12 Monaten, beachtet, wie man aus eigenen Wortschöpfungen sehen kann und spielen im weiteren frühen Wortbildungserwerb bis zum Alter von 24 Monaten eine bedeutende Rolle.

Diese empirischen Studien sind vielversprechend, auch wenn sie keine konkreten Aussagen zum Erwerb des M-Prinzips ermöglichen. Sie deuten aber an, dass pragmatische Prinzipien ebenso erworben werden müssen wie andere sprachliche Konzepte und Prinzipien. Empirische Studien zur Bedeutung von Bilderbüchern für den kindlichen Spracherwerb fokussieren bislang den Wortschatzerwerb und den Erwerb grammatischer Strukturen (vgl. Kümmerling-Meibauer et al. 2015). Dass das Bilderbuch auch einen wesentlichen Input zum Bilderwerb (Visual Literacy) und zum Verständnis narrativer Strukturen, die ohne die Kenntnis pragmatischer Prinzipien nicht vollständig erfasst werden können, leistet, ist unbestritten; deshalb wären weitere empirische Studien hierzu wünschenswert.

4.2 Externe Pragmatik, interne Pragmatik und Geschicklichkeit

Wir haben angenommen, dass Kinder aus herausfordernden Bilderbüchern etwas lernen können, insbesondere im Hinblick auf pragmatische Phänomene. In Bezug auf diese haben wir konversationelle Implikaturen betrachtet und hier vor allem solche, die sich auf die Maxime der Art und Weise bzw. das M-Prinzip zurückführen lassen. Als Quellen des Lernens bei der gemeinsamen Betrachtung von Bilderbüchern kann man die externe Pragmatik von der internen Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Externe Pragmatik bezieht sich auf Situationen und Kontexte, in denen Kinderliteratur wahrgenommen wird. Dies wird typischerweise im Rahmen der Early Literacy-Forschung analysiert. Wir wissen, dass Erwachsene nicht nur mechanisch vorlesen, sondern dem Kind diesen Inhalt vermitteln, zum Beispiel indem sie Kinder nach dem Verstehen oder Bewerten des Vorgelesen fragen. Es gibt Belege dafür, dass Mütter ihren Interaktionsstil an situative Bedürfnisse des Kindes anpassen; so gibt es Unterschiede in der Feinanpassung beim Bilderbuchbetrachten im Vergleich zum Spielen mit Spielzeug (Yont et al. 2003). Wir vermuten, dass herausfordernde Bilderbücher auch besondere Herausforderungen für diese Interaktionsstile bieten. Dies gilt natürlich besonders für das Klassenzimmer, weil hier die Voraussetzungen der Kinder typischerweise unterschiedlich sind.

Interne Pragmatik bezieht sich auf pragmatische Phänomene als Teil des Bilderbuchinhalts, zum Beispiel die Einführung von Diskursreferenten, Dialogmustern, Sprechakten, Höflichkeit, Humor, Ironie, Metaphern, Emotionen und Empathie, Perspektive, Redewiedergabe und vieles mehr. Praktisch alle Gegenstände der Narratologie haben einen pragmatischen Aspekt. Insofern spielt die interne Pragmatik eine zentrale Rolle beim Literaturerwerb, d.h. dem Erkennen und Verstehen literarischer Phänomene.

Ein bislang wenig beachteter Aspekt ist, dass Kinder und Erwachsene eine unterschiedliche Geschicklichkeit (‚skill‘) in der Interpretation von Bilderbüchern haben dürften. Dies gilt umso mehr für herausfordernde Bilderbücher. Geschicklichkeit ist hier nicht allein bezogen auf manuelle oder körperliche Fähigkeiten, sondern bezieht auch andere Domänen ein. So kann jemand intellektuelle, konversationelle, perzeptuelle und/oder emotionale Geschicklichkeit zeigen (Fridland 2014). Daraus ergibt sich, dass Geschicklichkeit mit der kognitiven Entwicklung verbunden ist und das konzeptuelle Denken fördert.1 Geschicklichkeit verbessert sich mit Training und ist eng mit Wissen verknüpft, zum Beispiel Wissen darüber, was, wann, wo und wie man etwas auf die richtige Art und Weise zu bewerkstelligen hat (Stanley 2011). Beim Bilderbuch spielt die Geschicklichkeit der Wahrnehmung eine große Rolle, d.h. die Fähigkeiten, einzelne Aspekte des Bildes zu erkennen, zu deuten und in eine Gesamtinterpretation (unter Einbezug von Textinformation) zu integrieren.

Diese Überlegungen zum Phänomen der Geschicklichkeit hängen eng mit den Lese- und Interpretationsfähigkeiten des Rezipienten zusammen. Nikolajeva (2014) unterscheidet den novice reader von einem expert reader, wobei eine Entwicklung von ersterem zu letzterem stattfinden kann. Ein novice reader hat eine beschränkte Geschicklichkeit, ist inflexibel bezüglich der Anwendung seiner Fähigkeiten auf neue Texte/Bilder und agiert hauptsächlich regelbasiert. Ein expert reader hat ein schnelles, fast intuitives Text- und Bildverständnis und erkennt rasch die zentralen Aspekte. Zwischen diesen beiden Extremen kann man den experienced reader ansiedeln, der mehr und mehr dazulernt: neue (herausfordernde) Themen, narrative Perspektiven und ästhetische Effekte. Unsere Vermutung, die wir hier nur illustrieren, nicht aber beweisen konnten, war, dass die Maxime der Art und Weise bzw. das M-Prinzip (bzw. kognitive Korrelate dieser Mechanismen) dabei eine wichtige Rolle spielen dürften. Markierte Texte, Bilder oder Text-Bild-Relationen erregen die Aufmerksamkeit, müssen als solche aber erstmal erkannt werden. In einem weiteren Schritt gilt es, die markierten Texte oder Bilder zu kontextualisieren, d.h. zu erfassen, inwieweit sie in einen größeren Textzusammenhang oder eine Bildfolge eingebettet sind und ob sich daraus eine kohärente Beziehung ableiten lässt. Ist dieser Prozess einigermaßen erfolgreich gelungen, kann die Leserin die Bedeutung der markierten Texte und Bilder eruieren. Dies verlangt ein gewisses Maß an Flexibilität, aber auch die Fähigkeit, bereits erworbenes Wissen und vertraute Konventionen anzuwenden und gegebenenfalls zu modifizieren. Ob dieser Dreierschritt (erkennen – kontextualisieren – interpretieren) immer vollzogen werden kann, hängt stark von dem Vorwissen und der Lernfähigkeit des jeweiligen Rezipienten ab. In dieser Hinsicht vertreten wir die Auffassung, dass herausfordernde Bilderbücher in besonderem Maße Anlass bieten, die Geschicklichkeit in der Interpretation und den damit zusammenhängenden Lesegenuss zu entwickeln. Daraus folgt auch, dass herausfordernde Bilderbücher einen wichtigen Platz in der Lesedidaktik einnehmen sollten.

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