Buch lesen: «Posts, Tweets und Fakenews»
Stefan Hofmann (Hg.)
Posts, Tweets und Fakenews
Wie leben mit der Informationsflut?
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Stefan Hofmann SJ Band 89
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Stefan Hofmann (Hg.)
Posts, Tweets und Fakenews
Wie leben
mit der Informationsflut?
echter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05552-3
978-3-429-05115-0 (PDF)
978-3-429-06501-0 (ePub)
Inhalt
Vorwort
Mein Handy, meine Freiheit und …
(Bianca Maier)
»Die Straße nach Bethlehem sehen« – Kostbare Informationen
(Nicolas Conrads, Marie Raßmann)
Die Chance des »Mehr«. Ein Barkeeper über das Verkosten
(Interview mit Reinhard Pohorec)
Geistlicher Umgang mit äußeren und inneren Bildern
(Christian Modemann)
Echt jetzt, schon wieder? In Zeiten von Covid-19
(Stefan Hofmann)
Was suchst du eigentlich?
(Isabelle Allmendinger)
Gegensteuern – Jesus am See
(Moritz Kuhlmann)
Wie ein Wüstentag den Alltag verändern kann
(Gerald Baumgartner)
Gut informiert. Vorschläge für den Umgang mit News und Fake News
(Hernán Rojas)
Weniger ist mehr – auch wenn’s um Wissen geht?!?
(Bernadette Krogger)
Mitteilung von beiden Seiten
(Bernhard und Clarissa Pohorec)
Wie eine Tagung Freude bereiten kann
(Georg Fischer)
Eine Geh–Übung. Wahrnehmen und hingeben
(Stefan Hofmann)
Schlusswort
Anmerkungen
Autorenangaben
Vorwort
Kein Netzempfang? Kann das sein? Was soll ich jetzt machen? – Solche Irritationen sind heute Jung und Alt bekannt. Mit großer Selbstverständlichkeit sind wir fast ohne Unterbrechung online und immer zu erreichen. Die Nutzung von Smartphones und Online-Streamingdiensten hat in Deutschland in den vergangenen Jahren nochmals um 30 bis 50 Prozent zugelegt. Der Konsum von Fernseh- und Radiosendungen ging im gleichen Zeitraum kaum zurück.1 In den Zeiten der Corona-Einschränkungen hat sich diese Entwicklung noch einmal verschärft. Angesichts der Fülle von Informationen und Bildern, die wir täglich über diverse Medien konsumieren, hat sich längst der Begriff der Informationsflut eingebürgert.
Das Bild spricht für sich: Die Informationen überfluten uns. Viele fragen nach Strategien zu ihrer Bewältigung und zum guten Umgang mit dieser Herausforderung. Problematisch erscheint einerseits die Qualität der Informationen. Seriöse Tageszeitungen erreichen den digitalen Konsumenten oft nicht so leicht wie jene, die über die sozialen Medien News oder Fakenews streuen. Problematisch kann allerdings auch unser Umgang mit den einprasselnden Informationen werden: Eine Studie zur Handynutzung unter Jugendlichen ergab, dass fast jeder vierte Jugendliche das Handy mit ins Bett nimmt. Schlafdefizit ist nicht selten die Folge.2 Generell gilt als erwiesen, dass wir auch als Gesellschaft immer schneller von einem Thema zum anderen springen. Durch die mediale Informationsflut und unseren Umgang mit ihr ist die Aufmerksamkeitsspanne, die wir für ein bestimmtes Thema aufbringen, merklich zurückgegangen.3
Unsere modernen Kommunikationsmittel bieten viele Möglichkeiten. Nicht zuletzt gestatten sie uns eine nie geahnte Verbundenheit mit Bekannten und Freundinnen und Freunden weltweit. Dieses Buch möchte sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen dieser Möglichkeiten und der damit gegebenen Informationsfülle reflektieren. Nicht wenige der Autorinnen und Autoren schlagen praktische Tipps und konkrete Übungen für den Alltag vor. Sie berichten über verbreitete Erfahrungen und bewährte Strategien im Umgang mit den Medien und ihren Nachrichten. Immer handelt es sich um Übungen, die die Autoren selbst als hilfreich erleben und bewusst praktizieren. Über diese Alltagsnähe sollen die Beiträge des Buches bewusst Spiritualität erschließen. Eine gute Spiritualität kann viel dazu beitragen, dass wir erfüllt und dankbar leben – auch im Hinblick auf unseren Umgang mit den vielen Nachrichten und den medialen Triggern. Die positiven und negativen Erfahrungen im Umgang mit den Medien können uns zur Einübung von Spiritualität und Lebenskunst herausfordern. Weshalb sollte uns ein gut reflektierter und geistesgegenwärtiger Konsum von Informationen nicht auch eine tiefere Gottverbundenheit ermöglichen?
Globale Verbundenheit, Aufmerksamkeitsverlust, Pornographie, Sprachverkrümmung, soziale Beschleunigung, Cyber-Grooming … – das Thema Informationsflut und soziale Medien weckt schnell viele Assoziationen. Dieses Buch greift nicht alle erwartbaren Themen auf. Es soll die unterschiedlichen Informations- bzw. Kommunikationskanäle wie die vielen Nachrichten-Apps und Messenger-Dienste auch nicht als solche beschreiben. Es präsentiert vielmehr die reflektierte Erfahrung jüngerer Menschen und will seinerseits zum Sammeln von Erfahrungen und zur Kultivierung des Umgangs mit diesen Medien anregen. Von den bisherigen Ignatianischen Impulsen unterscheidet es sich, insofern es sich an jüngere Leserinnen und Leser richtet. Allerdings können sicher alle Nutzer der modernen Medien davon profitieren. Die Informationsflut erreicht heute Jung und Alt.
Für eine gewinnbringende Lektüre empfiehlt sich zu guter Letzt ein Lesetipp: Am Fruchtbarsten scheint mir jene Form des Lesens zu sein, die hier und da auch innehalten kann, um achtsam auf sich selbst zu reflektieren. Vielleicht entdecken Sie sogar eine Übung, die Sie für eine Woche, für einen Monat oder für eine Fastenzeit selbst ausprobieren möchten. Wer ausprobiert und übt, sammelt selbst Erfahrungen, die neue Wege möglich machen.
Am besten, wir lassen die Autorinnen und Autoren selbst zu Wort kommen. Die meisten von ihnen sind zwischen zweiundzwanzig und vierundvierzig Jahre alt. Gerne danke ich auch an dieser Stelle für ihre wertvollen Impulse und ihr Zeugnis.
Stefan Hofmann SJ
Mein Handy, meine Freiheit und … Gott
(Bianca Maier)
Ich trug mein Handy immer bei mir. Kam eine Nachricht, sah ich sofort nach. Auch wenn ich in einer Sitzung war, stellte ich mein Handy nie aus oder in den Flugmodus, sondern nur auf lautlos. Es könnte ja jemand anrufen, was ich sonst nicht wüsste, oder per Nachricht eine dringende Frage an mich haben. Da passierte es schon mal, dass ich deswegen eine wichtige Frage in der Sitzung verpasste und nicht wusste, worum es ging. Mein Handy bekam noch dazu ein Problem mit WhatsApp: Erst wenn ich das Programm öffnete, zeigte es an, dass es neue Nachrichten gab. Deshalb machte ich es noch öfter auf als vorher. Vor kurzem habe ich dann in meinem Handy ein Feature entdeckt, das mir zeigt, wie oft ich mein Handy am Tag/in der Woche entsperre und welche Programme ich wie lange auf dem Bildschirm habe. Ich war wirklich schockiert: Ich verbrachte fünfmal mehr Zeit in den Social Media, als ich dachte. Das hat mir die Augen geöffnet und gezeigt, dass ich von meinem Handy abhängig geworden bin. Ich wollte wieder frei werden. Daher beschloss ich, handyfreie Zonen einzurichten. Kein Handy während der Gebetszeiten. Kein Handy, wenn ich mit anderen zusammen bin. Ich schaltete die Pop-up-Benachrichtigungen aus und sehe nur noch zweimal pro Tag nach, was es Neues gibt. Es war anfangs gar nicht so einfach. Aber jetzt fühle ich mich freier und sehe, dass ich dadurch auch aufmerksamer gegenüber den Leuten um mich herum geworden bin.
Ignatius nennt diese Haltung der (inneren) Freiheit in seinem Text »Prinzip und Fundament« auch Indifferenz (vgl. EB 23). Es bedeutet, sich von den Dingen nicht einsperren und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen, sondern sie in richtigem Maße zu benutzen. Denn alles Geschaffene auf der Erde soll mir auf dem Weg zu meinem Ziel helfen. Und das Ziel eines jeden Menschen ist nach Ignatius, Gott zu loben, ihn zu ehren und ihm zu dienen. Man könnte auch sagen, Gott immer näher zu kommen. Hilft mir etwas nicht dabei, so soll ich mich davon trennen. Ich vergleiche es gerne mit der Haltung der offenen Hände. Die Hände offenhalten: sich nichts nehmen und das, was ich in den Händen halte, abgeben. Im tiefen Vertrauen darauf, dass Gott, mein liebender Vater, mir alles gibt, was ich brauche (vgl. Lk 12,30). Mit der Gewissheit, dass Gott für mich nur das Beste will.
Ein weiterer Aspekt der Indifferenz ist der einer gewissen Hierarchie zwischen den Dingen, mir und Gott. Ich stehe nicht auf derselben Ebene wie die Dinge. Sie sind für mich geschaffen. Wie Jesus sagt: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat« (Mk 2,27). Die Dinge stehen also nicht über mir, so dass sie mich beherrschen sollen, sondern ich stehe über den Dingen. Der Einzige, der über mir steht, ist Gott. Er hat mich geschaffen. Und mein Lebensziel ist es, ihm nahe zu sein. Zwischen Gott und mir steht also nichts. Falls sich etwas zwischen Gott und mich drängen möchte, habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich lasse es zu oder ich verhindere es. Lasse ich zu, dass sich etwas zwischen mich und Gott stellt, so wird es mir bald die Sicht auf Gott nehmen. Auch wenn es anfangs eine winzige Sache ist, so wird sie – meist unbemerkt – immer größer, bis ich am Ende mein Ziel (Gott) aus den Augen verloren habe. Es ist wie ein winziger Stein, den man beim Wandern auf einmal im Schuh hat. Meist hat man keine Lust, anzuhalten und den Schuh auszuziehen, um den Stein herauszuschütteln. Man geht lieber mit dem Stein im Schuh weiter, auch wenn es ein bisschen unbequem ist und manchmal auch richtig wehtun kann. Erst wenn man am Ende der Wanderung seinen Fuß betrachtet, merkt man, wie viele Spuren und auch Wunden dieser winzige Stein hinterlassen hat. So ist es auch mit Dingen (oder Beziehungen), die ich zwischen mich und Gott kommen lasse. Am Anfang spüre ich noch, dass es etwas unbequem ist und nicht so, wie es sein sollte. Aber irgendwann ignoriere ich dieses unangenehme Gefühl. Es fehlt die Motivation, etwas dagegen zu tun. Und so schlimm scheint es ja nun auch wieder nicht zu sein. So war es bei mir mit dem Handy während der Gebetszeit: Am Anfang las ich die Nachrichten nur, die ich bekommen hatte, ohne darauf zu antworten. Ich spürte, dass das nicht ganz okay war, aber ich tat nichts dagegen. Danach fing ich an, die Nachrichten zu beantworten. Nur ein Smiley … Bald wurde daraus ein Satz. Und irgendwann nahm es so viel Platz ein, dass nicht mehr viel von meiner Gebetszeit übrigblieb. Ich wurde ja immer wieder abgelenkt. Oder besser: Ich ließ mich immer wieder ablenken. Je größer ich die Sache zwischen Gott und mir werden lasse, desto schwieriger wird es, sie wegzuschaffen. Dennoch ist es nie zu spät, damit anzufangen – und Gott kann uns ja auch dabei helfen. In jedem Falle muss ich Stellung beziehen, dafür oder dagegen. Wenn ich nichts tue und vermeintlich keine Stellung beziehe, tue ich es dennoch, da ich die Sache weiterhin an ihrem Platz (wachsen) lasse. Beziehe ich Stellung gegen die Sache und für Gott, braucht es jedoch radikale Taten (in meinem Fall: handyfreie Zonen). Mache ich Kompromisse (Handy nur auf lautlos stellen), stutze ich die Dinge nur zurecht, aber ich schaffe sie nicht aus dem Weg. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder weiterwachsen.
Es soll also nichts zwischen Gott und mir stehen. Er soll der »Erstbediente« in meinem Leben sein. Dadurch bin ich in einer Haltung der Indifferenz gegenüber allen Dingen. Ich benutze das, was Gott mir gibt, in Dankbarkeit dafür, dass er es mir gegeben hat. Und gleichzeitig lasse ich ihm die Freiheit, mir diese Dinge wieder zu nehmen. Ich habe meine Hände also nicht zu Fäusten zusammengeballt, sondern halte sie Gott offen hin.
Damit es nicht so abstrakt erscheint, stelle ich fünf Schritte vor, die dabei helfen können, in der Freiheit (nicht nur) in Bezug auf Handy und Medien zu wachsen:
1. Sehen, wo ich nicht frei bin. Jeder von uns hat so seine »Nur schnell«-Fallen: »Ich sehe nur schnell nach, was meine Freunde Neues gepostet haben.« »Ich schaue mir nur schnell diesen einen Teil der Serie an.« Aus den geplanten »Nur schnell fünf Minuten« wird in Windeseile eine Stunde. Nur allzu schnell bin ich im Datennetz gefangen und nicht mehr frei.
Wahrscheinlich habe ich mehr als einen »Freiheitsräuber«. In diesem Falle ist es besser, einen nach dem anderen auszumerzen. Will ich zu viel auf einmal, verliere ich schnell die Motivation und am Ende mache ich gar nichts mehr. Also besser langsam, Schritt für Schritt. Ich kann auch Gott bitten, mir zu zeigen, womit ich anfangen soll.
2. Über die Beziehung zu meinem Freiheitsräuber nachdenken. Welches Ziel verfolge ich damit? Warum schaue ich ständig nach, was meine Freunde posten? Gibt es mir das Gefühl, informiert zu sein, nichts zu verpassen? Oder steckt dahinter vielleicht Neugier, eine Gier nach Neuem?
3. Überprüfen, ob dieses Ziel wirklich erreicht wird. Ich schaue ein Video an, um mich zu entspannen. Die »Nur-schnell«-Falle hat jedoch zugeschnappt und ich habe eine Stunde verloren. Ich bin sauer auf mich selbst, weil ich so viel Zeit verschwendet habe. Am Ende bin ich noch angespannter als vorher. Mein ursprüngliches Ziel habe ich also nicht erreicht.
4. Überlegen, ob es andere Mittel gibt, die mich zum gewünschten Ziel bringen. Möchte ich mich kurz entspannen, genügt es vielleicht, an die frische Luft zu gehen und den Vögeln zuzuhören.
5. Sich einen Aktionsplan überlegen und ihn umsetzen. Am besten auch mit Blick auf mein »höchstes« Ziel, die Nähe zu Gott. Ich habe öfter gerade mal so fünf Minuten und möchte auf andere Gedanken kommen. Bis jetzt war meine Ablenkung immer, in den Social Media nachzusehen, was es Neues gibt. Dabei verlor ich viel mehr Zeit als geplant. Mein Aktionsplan: Das nächste Mal, wenn ich Ablenkung brauche, werde ich meine BibelApp öffnen und einfach ein Kapitel in der Bibel lesen. Dadurch lerne ich nebenbei auch das Wort Gottes besser kennen.
Eine gute Hilfe, innerlich frei zu bleiben, kann auch sein, sich eine Art »Landkarte« anzulegen. Auf dieser Karte trage ich nach und nach die Gefahren ein, die ich erkannt habe, diese Orte, an denen ich meiner Freiheit beraubt werde. Manchmal ist nicht gleich am Anfang der Straße zu sehen, dass sie in eine Gefahrenzone mündet. Nach und nach werde ich jedoch erkennen, wo ich ausweichen muss, wo es besser wäre, einen anderen Weg zu gehen. Manchmal kann sich etwas Gefährliches neutralisieren, weil ich schon gelernt habe, damit umzugehen. Es kann aber auch passieren, dass sich etwas, das harmlos war, durch ein bestimmtes Ereignis zu einer Sache verwandelt, die mir die Freiheit raubt. All das kann ich gut erkennen, wenn ich regelmäßig das Examen, das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, bete. Das Gute ist, dass ich nie verzweifeln muss. Stecke ich in der Klemme, genügt es, Gott um Hilfe zu bitten. Er kommt und rettet mich – allerdings selten auf die Art und Weise, die ich erwarte. Er stellt mich zurück an die Wegkreuzung und sagt mir, ich solle nicht mehr zurücksehen. Ich solle mir einfach den Gefahrenort in meiner Landkarte rot anstreichen, um ihn beim nächsten Mal zu meiden, und dann weitergehen.
Je mehr ich Gott liebe und ihn zum Mittelpunkt meines Lebens mache, desto größer wird auch der Abstand und Freiraum zwischen mir und den Dingen. Und gleichzeitig gilt: Frei sein von den Dingen, um frei zu sein für Gott. Nach und nach das loslassen, was ich in den Händen halte, um von Gott immer mehr das Leben in Fülle empfangen zu können.
»Die Straße nach Bethlehem sehen« – Kostbare Informationen
(Nicolas Conrads, Marie Raßmann)
Bei den Treffen in unserer Magis-Gruppe, einer ignatianischen Austauschrunde, beginnen wir das Gebet mit einem Tagesrückblick. Viele Informationen haben uns während des vergangenen Tages erreicht – sollen wir auch diese im Rahmen des Rückblicks verkosten? Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Informationen sprechen? Informiert zu sein gilt als erstrebenswert. Ausreichende Informationen sind wichtig für durchdachte Entscheidungen und nicht zuletzt für das Verständnis der Welt. Der Begriff der Informationsgesellschaft bringt auf den Punkt, welche Bedeutung sie für die Gesellschaft besitzen. Die technischen Entwicklungen ermöglichen es, große Datenmengen zu sammeln und zu analysieren. In der Medizin wie auch in der Werbung werden damit Angebote auf die individuelle Person zugeschnitten. Big Data ist das Stichwort – auf unsere persönlichen Daten wird im Modus der (kommerziellen) Verwertbarkeit zugegriffen. Die Informationstheorie schließlich beschreibt Information als das Neue einer Mitteilung gegenüber dem schon bekannten Inhalt. Der informative Gehalt einer Mitteilung ist umso größer, je geringer der schon bekannte Inhalt ist.
Also nochmal zusammengefasst: Erstens, mehr Informationen sind besser! Zweitens, Informationen können zu bestimmten Zwecken verwertet werden, und drittens, ›Information‹ dient als Gegenbegriff zu Wiederholungen und Bekanntem. In diesem Verständnis sind Informationen die äußere und beschreibbare, auch operationalisierbare Seite eines Sachverhalts.
Kann man Informationen überhaupt verkosten?
Wie kann man also Informationen – diese im obigen Verständnis so technischen und zweckmäßigen Inhalte – verkosten? Verkostet man nicht eher das gute Gespräch mit der Schwester oder einem Freund? Doch spricht man in einem solchen Fall nicht von einer verkosteten Information, sondern von einer Begegnung, die in einem nachhallt und zu der man in der Erinnerung zurückkehrt. Gehen uns Informationen existenziell einfach zu wenig an?
Sollen wir solche vergleichsweise äußerlichen Informationen also überhaupt verkosten? Oder ist es richtig, die Trennung zwischen trockener Information und den inneren Regungen, Gefühlen, Beziehungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten?
Die wandelnde Kraft der zu verkostenden Information
Dass wir, die Autoren des Textes, eine andere Haltung vertreten, hat schon der Titel des Artikels verraten: Auch in Informationen steckt Köstliches! Das Verkosten kann zu drei Wandlungen führen: hinsichtlich der Information, hinsichtlich meiner Person und meines Blickes auf Gottes Präsenz in der Welt.
Um sich erstens an die Wandlung der Informationen heranzutasten, lohnt sich ein Blick in das Exerzitienbuch von Ignatius: auf die Mühe, die Ignatius darauf verwendet, den Schauplatz der (biblischen) Betrachtungen zuzurichten. Interessanterweise parallelisiert er dabei die Betrachtung sichtbarer und unsichtbarer Gegenstände und erachtet beide als wichtig (vgl. EB 47). Bei den sichtbaren Gegenständen besteht die Zurichtung des Schauplatzes darin, »mit der Schau der Einbildung den leiblichen Ort zu sehen, an dem sich die zu betrachtende Sache befindet« (EB 47). Dieser Ort kann beispielsweise ein Tempel sein oder der Berg, auf dem Jesus sich befindet. Ignatius geht es dabei um eine detaillierte Betrachtung der äußeren Gegebenheiten: »Hier mit den inneren Augen die Straße von Nazareth nach Betlehem sehen, ermessend ihre Länge und Breite, und ob der Weg eben ist oder durch Täler und über Hügel führt. Ebenso die Stätte oder Höhle der Geburt betrachten, wie geräumig, wie eng, wie niedrig, wie hoch sie ist, und wie ihre Ausstattung war« (EB 112). Die genauen Abmessungen werden von Ignatius nicht als unbedeutend für das ›Eigentliche‹, die Betrachtung Jesu, abgetan. Vielmehr werden sie mit großer Sorgfalt behandelt und gelten als wichtige Zugänge zu ihm. Trifft Ignatius damit nicht den zentralen Punkt, dass wir Menschen das Entscheidende nicht anders erfassen können als durch die Annäherung über die Welt mit allem Äußerlichen, was zu ihr gehört? Das Verkosten gibt der Information eine neue Bedeutung. Man könnte sagen: Die Information selbst wird gewandelt. Die Straße in ihren Ausmessungen wird zu der bedeutsamen Straße, auf der Jesus gelaufen ist, die Details der Parkbank werden wichtig als der Ort, an dem ich ein wichtiges Gespräch führte, etc.
Eine solche angeeignete Information kann zweitens auch mich wandeln. Die Aneignung von äußerlich erscheinenden Informationen wie dem Bild der Parkbank zeigt mir, an welchen ganz konkreten Platz ich in die Welt gestellt bin und wo ich meine Erfahrungen mache. Indem ich das vor der Perspektive Gottes verkoste, kann mir deutlich werden, dass ich in meinem an bestimmten Punkten in der Welt verankerten Leben von Gott getragen bin.
Damit geht es um den dritten Punkt: Gottes Präsenz in der Welt. Ignatius nimmt mit der dargestellten Komposition des Schauplatzes die Welt in ihren verschiedenen Dimensionen ernst. Die Fleischwerdung des göttlichen Sohnes bedeutet nichts anderes: die Annahme und Erlösung der Welt durch Gott. Wenn Gott die Realität der Welt so ernst nimmt, dürfen, ja sollen wir dies auch tun. Gott lässt sich nicht nur in außergewöhnlichen Erfahrungen finden, sondern er stellt die Tiefendimension jeder Erfahrung dar, sofern wir unser Leben vor dem Horizont Gottes deuten. Das Verkosten der Welt in ihren verschiedensten Informationsgehalten ist die Einübung in ein solches Verständnis der Präsenz Gottes.
Verkostung konkret!
Was kann das für meine Gebetspraxis heißen, insbesondere für die Praxis des Tagesrückblicks? Damit Informationen verschiedener Art bedeutsam werden und damit auch verwandelnde, sinnstiftende Kraft entfalten können, müssen wir in mancher Hinsicht anders mit ihnen umgehen, als es in unserem Alltag oft der Fall ist. Drei Anregungen können dabei helfen:
1. »Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Fühlen und Verkosten der Dinge von innen« (EB 2). Statt alles auf einmal aufnehmen zu wollen, lieber einzelne Informationen in der Tiefe verkosten. Einfach mal den Versuch wagen, einen Moment länger bei der Straße, auf der ich heute gelaufen bin, oder bei der Temperatur, die es draußen hatte, zu verweilen.
2. Das heißt auch, dass wir uns nicht vor Wiederholungen und schon Bekanntem fürchten müssen. Der Informationsgehalt kann genau im Bekannten liegen, welches wir uns neu aneignen. Das Wiederholen schafft Bedeutung und Verstehen, führt uns ins Weite. Eine eher methodische Aussage im Exerzitienbuch lautet: »Für den sich Übenden ist es gut, dass er während der ersten Woche nichts von dem erfährt, was er in der zweiten Woche zu tun haben wird, sondern dass er in der ersten so sehr sich bemühe, das zu erlangen, was er sucht, als ob er in der zweiten Woche nichts Gutes mehr zu finden hoffte« (EB 11). Kann ich den jetzt vor mir stehenden Inhalt so betrachten, als ob ich in ihm alles Gute und Bedeutende erfahre, ohne schon auf das Nächste zu blicken?
3. Alle meine Sinne in meinen Rückblick miteinbeziehen und damit verschiedene Zugänge zur Welt bekommen (EB 66ff. und 122ff.).
Der Zielpunkt des Verkostens: allumfassende, weltweite Liebe
Zum Abschluss soll mit zwei Stellen aus den Brüdern Karamasow ein Zielhorizont, ein Sehnsuchtspunkt angezeigt werden, zu dem solches Verkosten führen kann. In den Belehrungen des Starez Sossima im sechsten Buch heißt es: »Jüngling, vergiss das Gebet nicht. Jedes Mal wird in deinem Gebet, wenn es aufrichtig ist, ein neues Gefühl aufleuchten und in ihm ein neuer Gedanke, den du vorher nicht kanntest und der dich von neuem ermutigt; und du wirst erkennen, dass das Gebet eine Erziehung ist.«4 Als ein Weg dahin wird einige Sätze weiter beschrieben: »Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das Ganze und jedes Sandkörnchen. Jedes Laubblatt und jeden Lichtstrahl Gottes. Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet ein jegliches Ding. Wenn du ein jegliches Ding liebst, wird dir das Geheimnis Gottes in den Dingen offenbar werden. Wird es dir einmal offenbar, dann wird es dir immer wieder offenbar werden, je länger, desto mehr, Tag für Tag. Und endlich wirst du die ganze Welt mit allumfassender, weltweiter Liebe lieben.«5
Das Verkosten der Informationen der Welt in all ihren unscheinbaren, oft äußerlichen Einzelheiten dient keinem Zweck. Es ist ein anderer Zugang zu Informationen als eingangs beschrieben: Hier kommt es nicht so sehr auf die Menge der Informationen an, und gerade im Bekannten scheint Neues und Wertvolles auf. Dieser Zugang zu Informationen ist ›zwecklos‹, aber nicht ›sinnlos‹, sofern in diesem zwecklosen Nachsinnen die allumfassende weltweite Liebe aufscheinen kann, mit der Dostojewskij in obigem Zitat das letzte Ziel beschreibt. Eine Liebe, die sich ganz auf die Welt und dadurch ganz auf Gott, ganz auf Gott und dadurch ganz auf die Welt richtet.
Der kostenlose Auszug ist beendet.