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EINSICHTEN

von Marianne Labisch

Sie werden gleich Zeuge eines bedeutungsvollen Zusammentreffens zweier Mädchen, beide Ergebnisse einer rigorosen Ein-Kind-Politik: Lenina ist ein Helikoptereltern-Einzelkind, verhätschelt und vertätschelt mit Parolen groß geworden, die sie für allgemeingültig hält und mit Eve, ein zweites Kind, das entsorgt werden musste, aber von einer Obdachlosen aus dem Abfalleimer entwendet wurde. Bitte seien Sie mit beiden nicht zu streng. Lenina wurde jeder Wunsch erfüllt, sie wurde umhegt und umpflegt, es fällt ihr schwer, sich außerhalb ihrer behüteten, schönen Welt zu behaupten und Eve ist für ihr Alter eigentlich zu zynisch, aber sie wurde von ihrem bisherigen Leben geprägt.

Lenina stand am Gehege und konnte ihren Blick nicht von dem Bären abwenden. Der saß dort gemütlich in der Sonne und lutschte an seiner Erektion. Unweigerlich dachte sie wie praktisch es wäre, wenn der menschliche Körperbau ähnliche Handlungen zuließe. Die anderen Menschen um sie herum taten so, als sähen sie nicht, womit der Bär sich die Zeit vertrieb, aber Lenina stand fasziniert dort und vergaß für einen Moment alles um sich herum. Dieser eine Moment reichte, um ihr Leben vollkommen auf den Kopf zu stellen. Ihre Eltern merkten nicht, dass ihre Tochter am letzten Gehege zurückgeblieben war und stiegen in die Bahn. Ohne Kind. Erst als die Türen sich schlossen, der Zug sich in Bewegung setzte und der Vater einen Sitzplatz für seinen Augapfel, wie er seine Tochter gerne nannte, entdeckt hatte und ihn ihr zuweisen wollte, bemerkte er ihr Fehlen. Da es in dieser Geschichte nur am Rande um Leninas Eltern geht, verlassen wir die beiden und wenden uns lieber Eve zu.

Eve hatte heute die Zoorunde zugelost bekommen. Auf der einen Seite mochte sie den Zoo bei gutem Wetter, obwohl sie prinzipiell nichts davon hielt, Tiere in viel zu kleinen Gehegen einzusperren, weil man dort gut gelaunte Leute traf und die Ausbeute sich meist erfreulich gestaltete. Die Augen der lieben Kleinen waren oft größer als ihr Magen und keiner von den Ärschen dachte daran, Reste aufzuheben und so wanderten sie in die Abfalleimer, wo Eve sie herausfischte. Pfandflaschen schienen den feinen Herrschaften auch zu schwer, als dass sie diese mit nach Hause genommen hätten. Gut, es kam ihr zugute, wenn die Säcke so handelten. Ihr bescherte dieses Betragen eine gute Ausbeute. Nur, dass sie sich für die Zoorunde ordentlich anziehen musste, gefiel ihr nicht. Sie kam sich dann immer verkleidet vor, aber in ihrer normalen Straßenkluft wäre sie sofort negativ aufgefallen und womöglich vom Wachpersonal entfernt worden, daher schluckte sie diese Kröte.

Sie hatte gerade eine Tüte Kirschen aus dem Mülleimer gefischt, als sie heftig von einem Mädchen angerempelt wurde. Mit Mühe und Not gelang es ihr, die Tüte in der Hand zu behalten.

»Hast du keine Augen im Kopf, du dumme Nuss?«, herrschte sie das Mädchen an. Dem Mädchen standen Tränen in den Augen. Sie blickte sich hektisch um und murmelte: »Entschuldigung, tut mir leid.« Hier machte sie eine Pause, sah noch einmal prüfend in die Runde und fragte dann: »Hast du vielleicht meine Eltern gesehen? Die standen eben noch hier.«

»Wenn du mir verrätst, wie die aussehen, könnte ich die Frage eventuell beantworten«, entgegnete sie.

»Normal halt. Meine Mutter ist knapp einen Meter siebzig, schlank, blond und trägt ein Kleid mit Sonnenblumen drauf …«

An dieser Stelle unterbrach Eve: »Die wäre mir aufgefallen, nein, tut mir leid, ein Sonnenblumenkleid habe ich nicht gesehen.« Sie wollte schon weitergehen, aber das Mädchen machte einen so verlorenen Eindruck, dass sie sich genötigt sah, ein wenig Zuspruch zu spenden. »Vielleicht warten sie draußen auf dich? Ist ja das letzte Gehege.«

Im ersten Moment sah es aus, als keime neue Hoffnung in dem Mädchen auf, aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. Wir sind mit der Gleitbahn gekommen und wenn sie nicht bemerkt haben, dass ich nicht dabei bin, dann sind sie jetzt längst auf dem Weg nach Hause.«

»Na, dann fährst du halt hinterher. Das ist kein Problem, oder? Wie heißt du eigentlich?«

»Lenina«, antwortete sie, schien nicht mit dem Vorschlag zufrieden zu sein.

»Worauf wartest du noch? Steig in die Bahn und fahre deinen Eltern hinterher.«

Lenina druckste herum und nestelte am Saum ihres blauen Kleides herum. Sie sah fast aus, wie ein Kleinkind, dabei schätze Eve sie ungefähr auf ihr Alter. Fünfzehn, plus minus ein, allerhöchstens zwei Jahre.

»Ich kann nicht.«

»Hä? Was kannst du nicht? Bahnfahren? Das kann jedes Kind. Das ist nichts Schweres. Stell dich nicht so an.« Eve packte Leninas Hand und zog sie mit sich. »Komm schon, ich packe dich jetzt da rein und dann ist alles in Butter.«

Die Berührung schien Lenina zu elektrisieren. »Abstand!«, schrie sie und versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen. Wie ein störrischer kleiner Esel bockte sie und bewegte sich nicht vom Fleck. »Ich habe kein Geld, für die Karte«, gab sie kleinlaut zu.

Eve stöhnte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Da stand so eine Wohlstandsgöre vor ihr und hatte kein Geld dabei? Wollte die sie verarschen?

»Erzähl mir nix vom Pferd. Du wirst doch die paar Kröten für die Bahn dabei haben.«

»Nein, mein Vater hat das Geld. Das hat er immer.«

»Ich glaub’s nicht.«

»Es ist aber die Wahrheit.« Nun kullerten tatsächlich die ersten Tränen ihre Wangen hinunter. »Am besten warte ich hier, bis sie zurückkommen. Sie werden merken, dass sie mich verloren haben und umkehren.«

»Das kannst du knicken. Der Park schließt in fünf Minuten, bis dahin sind die nie zurück.«

»Echt vielen Dank für deine aufbauenden Worte. Was soll ich denn nur tun?«

Lenina machte einen so hilflosen Eindruck, dass es Eve schon fast wieder lustig vorkam. So unbeholfen konnte kein normaler Mensch sein. Wo kam die denn her? Lebte die auf dem Mond? Entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten legte Eve einen Arm auf Leninas Schultern und redete beschwichtigend auf sie ein. »Psst, hör auf zu heulen, alles wird gut. Jetzt kommst du erst mal mit mir, dann sehen wir weiter.« Leninas Körper versteifte sich und sie blickte Eve forschend an.

»Du hältst dich schon wieder nicht an die Abstandsregel! Außerdem kenne ich dich gar nicht. Ich darf nicht mit Fremden gehen.«

Oh, Mann, das durfte nicht wahr sein. Da bot sie schon mal jemandem Hilfe an und dann das! »Dann bleib halt hier stehen und heul rum«, warf Eve Lenina an den Kopf, zog den Arm zurück und ging davon. Hastige Schritte folgten ihr.

»Warte, bitte. War nicht so gemeint.«

Na, da hatte das dumme Gör die Rechnung ohne Eve gemacht. Die musste sich halt vorher überlegen, was sie so für einen Mist von sich gab. Sie ging weiter, als hätte sie nichts gehört.

»Bitte!«, flehte Lenina herzerweichend und so drehte Eve sich zu ihr um und schnauzte: »Ich bin immer noch eine Fremde!«

»Wie heißt du?«

Von dieser Frage fühlte sich Eve überrumpelt. »Was?«

»Wie ist dein Name?«

»Eve, wozu willst du das wissen?«

»Wenn ich deinen Namen kenne, bist du nicht mehr ganz so fremd.«

»Seh ich etwa aus wie ein Dieb? Ein Kindermörder? Ein Verbrecher?«, verlangte Eve zu wissen.

»Nein, aber es heißt ja immer, dass man Verbrecher nicht an ihrer Nasenspitze erkennt und außerdem gibt es Banden, die vermeintlich nette Mädchen vorschicken.«

»So, so! Was du nicht sagst. Wo nimmst du nur deine Weisheiten her?«

»Das weiß jedes Kind.«

Konnte Lenina wirklich so dumm sein? Plapperte die einfach alles nach, was man ihr so erzählte? »Na dann. Kommst du nun mit, oder nicht?«

Lenina schien noch unschlüssig.

Eve dachte über die Möglichkeiten nach, die zur Auswahl standen: Wenn der Zoo schloss, hielt die Gleitbahn nicht mehr an diesem Halt. Und die ganze Nacht wollte Lenina sicher nicht vorm Zoo darauf warten, dass ihre Eltern mit einem anderen Transportmittel zurückkehrten. Sie hielt es für fraglich, ob diese Eltern es überhaupt wagen würden, außerhalb der Ausgangsstunden das Haus zu verlassen. So naiv wie Lenina sich bis jetzt präsentiert hatte, mussten die Eltern wohl als mustergültige Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden. Als sie den Zoo verließen, zog Eve ihren Mundschutz herunter, was direkt neuen Protest hervorrief.

»Bist du lebensmüde? Setz die Maske wieder auf!«

»Ich hasse dieses Scheißding! Den Teufel werde ich tun.« Was bildet sich Lenina überhaupt ein, ihr Anweisungen zu erteilen? Das Gör, das hier verloren herumstand und nicht mal mit der Bahn fahren konnte. Lenina blickte sich hektisch um, als sei sie auf der Suche nach Ordnungshütern, die Eve dazu anhalten würden, ihre Maske wieder aufzusetzen, dabei musste man die nur in Geschäften und an Orten tragen, an denen relativ viele Menschen zusammenkamen, wie eben im Zoo. Wobei im Zoo die Anzahl der Besucher streng geregelt wurde. Eve lächelte und fragte: »Suchst du jemanden, der dir beisteht? Jemanden, der mir wie du sagt, ich soll die Maske aufziehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Da kannst du lange warten. Die Kontrollen sind längst zurückgefahren worden und für unsereins interessiert sich sowieso kein Schwein. Ganz im Gegenteil, je mehr von uns verrecken, desto lieber ist es allen.«

Abrupt blieb Lenina stehen und packte Eve am Arm. »Wie kannst du so etwas sagen? Das ist nicht wahr! Wir lassen niemanden zurück!«

Oh, mein Gott! Wie sie diese Parolen hasste. Nur weil die Politiker sie gebetsmühlenartig wiederholten, wurden sie nicht wahr. Einen feuchten Kehricht interessierten die Politiker sich für Menschen, die auf der Straße lebten. Und die Sorte Mensch wie Lenina und ihre Eltern waren auch nicht besser. Die behandelten sie wie Aussätzige. »Du glaubst jeden Scheiß, oder?«, fragte sie wütend.

 

»Mir bist du nicht egal!«

»Ich frag dich noch mal, wenn ich meine normale Straßenkluft anhabe.«

Eve machte sich los und marschierte weiter, nach kurzer Pause, in der sie offensichtlich ihre Gedanken sammeln musste, folgte Lenina. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, wollte Lenina wissen.

»Zu meiner Familie. Deine wird dich heute nicht mehr abholen, da kannst du einen drauf lassen. Und so wie du drauf bist, überlebst du die Nacht nicht, wenn nicht einer auf dich Acht gibt.«

Erneut stockte Leninas Schritt. Sie schien mit ihrem Stolz zu kämpfen, wusste wohl, dass Eve recht hatte, wollte aber nicht als lebensunfähiges Dummchen dastehen.

»Und das willst du tun? Auf mich Acht geben? Als purer Menschenfreund? Warum?«

»Wenn ich von dir auf deine Alten schließen kann, werden die sicher eine Belohnung springen lassen, wenn ich dich heil abliefere.«

Alleine wegen der Belohnung tat sie es nicht, obwohl sie sich das nicht recht eingestehen wollte. Sie hatte Ratten getötet, um nicht zu verhungern, aber ein Menschenleben wollte sie nicht auf dem Gewissen haben, obwohl sie wusste, dass Menschen wie Leninas Eltern tatenlos zusahen, wenn diese elenden Springerstiefel Obdachlose anzündeten. Ja, man schrie zwar »Oje« und »Owei« aber meistens kamen die Täter mit einem blauen Auge davon, während die Opfer auf ewig traumatisiert zurückblieben.

Lenina erinnerte sie an einen Hundewelpen, ein hilfloses Wesen, das man auf eine Art einfach gernhaben musste, auch wenn es noch tausend Dinge gab, die die kleine Kreatur lernen musste.

»Aha, daher weht der Wind. Na, dann pass gut auf, dass mir kein Haar gekrümmt wird, sonst sinkt der Preis«, ätzte Lenina. Es schien, als ob sie sich auf eine bloße Sache degradiert fühlte

»Ach Scheiße! Ist sonst zwar wirklich nicht meine Art, besonders nicht bei so etepete Tanten wie dir, die noch dazu alles besser wissen, aber ich würd’s auch ohne Belohnung machen.« Sie blickte Lenina ernst an und fuhr fort: »Ich kill dich, wenn du das jemandem erzählst!«

Nun lächelte Lenina. »Man könnte dich für ein Weichei halten …«

»Hey, nun werd mal nicht gleich übermütig.«

Eve, die es gewohnt war, lange Strecken zu Fuß zurückzulegen, merkte, dass Lenina langsamer wurde. Kein Wunder, diese verwöhnten Kids wurden den lieben langen Tag durch die Gegend kutschiert. Klar, machten sie ab und zu Sport, aber lange Strecken gehen, schien nicht ihr Ding zu sein.

»Was ist los? Geht dir die Puste aus?«, fragte Eve.

»Nein, ich glaube, ich habe mir Blasen gelaufen …«

Eve stöhnte. Das passte ins Bild: Schöne neue Schühchen tragen für den Zoobesuch, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Teile erst eingelaufen werden mussten. Womit hatte sie das nur verdient?

»Zeig mal her!«

Lenina humpelte zur Bank an der nächsten Haltestelle, setzte sich und zog den Sonntagsschuh aus. An beiden Fersen waren die Blasen aufgeplatzt, aber es blutete nicht.

»Hättest du mal besser Socken angezogen.«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass mich jemand durch die halbe Stadt scheucht.«

»So hat das keinen Wert, zu Fuß schaffst du das nie und nimmer, oder kannst du barfuß laufen? Komm, probier es mal.« Obwohl Lenina sie ungläubig anblickte, ganz so, als hätte sie verlangt, sie solle splitterfasernackt herumlaufen, stand sie auf ging einen Schritt, sagte »Aua!«, ging weiter und klagte: »Nein, das geht nicht, es tut zu weh!«

»Gut, dann bleibt nur eins.« In diesem Moment fuhr eine Gleitbahn die Haltestelle an, und bevor Lenina widersprechen konnte, packte Eve sie, hob die Schuhe auf und zerrte sie in die Bahn.

»Was machst du denn jetzt schon wieder?«, zischte Lenina mit unverhohlenem Vorwurf in der Stimme. »Hast du Credits dabei?«

»Halt die Kappe! Willst du lieber laufen? Oder hast du eine bessere Idee?« Madame Gesetzestreu ging ihr auf den Geist. Es waren nur vier Stationen bis zum Seepark und auf dieser Strecke wurde selten kontrolliert, ein Risiko, das sie durchaus abgewogen hatte.

Beide setzten sich, die eine sah aus dem Fenster und die andere zuckte bei jeder Bewegung zusammen, als käme ihr Henker auf sie zu. Am Ziel angekommen nickte Eve Lenina zu und beide stiegen aus.

»Du hältst mich für blöde, oder? Ich kenne mich im Gegensatz zu dir hier aus und weiß, wo viel und wo wenig kontrolliert wird. Hast dir umsonst in die Hose gemacht.«

»Es ist verboten!«

»Was du nicht sagst! Du hättest ja zahlen können.«

»Das ist ungerecht. Du weißt, dass ich kein Geld dabei habe.«

»Ich habe auch keins dabei. Ich hätte die Strecke laufen können.«

Diese Anmerkung ließ Lenina verstummen. Eve konnte sich gut vorstellen, wie ihre schöne heile Welt immer mehr aus den Fugen geriet, und sie versuchte abzuwägen, was nun gerade noch so toleriert werden konnte. Diese Nacht würde dem Mädchen noch einige neue Erfahrungen bescheren. Eve fragte sich, ob Lenina versuchen würde, sie schnellstmöglich zu vergessen oder ob sie ihr Leben doch ein Stück weit verändern würde. Lenina trippelte barfüßig neben ihr her und schickte diverse »Au« und »Aua« in die Welt. Nur mit Mühe konnte Eve sich ein Lächeln verkneifen.

»Ist es noch weit?«, fragte Lenina.

»Wir sind bald da. Da vorne, unter der Brücke, da leben wir.«

Lenina blieb stehen und sah Eve mit großen Augen an. »Ihr wohnt im Freien? Ohne ein Dach über dem Kopf?«

»Sag mal, Mädchen, wo kommst du denn her? Man könnte glatt denken, du wärst zu Besuch vom Mond. Sag nicht, du hättest noch nie etwas von Obdachlosen gehört.«

Lenina zappelte mit den Schuhen in ihren Händen hin und her, bevor sie kleinlaut zugab: »Doch, schon, aber immer nur so rein theoretisch. In echt hab ich die noch nicht gesehen.«

»Na dann wird es höchste Zeit«, antwortete Eve und ging weiter. Wie die anderen es wohl aufnehmen würden? Es kam selten vor, dass einer von ihnen jemanden mit in die Gruppe brachte. Sie waren eine kleine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder jedem vertrauen konnte und man sich auf einander verließ.

Wolf, ein dreibeiniger Schäferhund, kam ihnen schwanzwedelnd entgegengelaufen. Eve bückte sich und ließ sich von ihm begrüßen.

Lenina blieb wie angewachsen stehen. Es fehlte nicht viel und sie hätte die Lider geschlossen, um nicht sehen zu müssen, was hier geschah. Der Hund fuhr Eve mehrfach mit der Zunge übers Gesicht. Das war so ekelhaft. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass der Köter das bei ihr machte. Eve blickte sich zu ihr um und sagte: »Das ist Wolf. Willst du ihn nicht begrüßen?«

»Nein, danke. Der ist mir zu groß.«

»Nun komm schon. Wolfie tut dir nichts, der hat ein Herz aus Gold. Wenn du ihn nicht begrüßt, denkt er womöglich, du kannst ihn nicht leiden.«

Mit kleinen Schritten kam Lenina den beiden näher und konnte sich tatsächlich überwinden, dem Hund mit der Hand über den Kopf zu fahren. Bevor er ihre Hand abschlabbern konnte, steckte sie sie hinter den Rücken. Unter der Brücke standen zerlumpte Personen, die ihnen entgegensahen. Sie machten keinen besonders freundlichen Eindruck. Böse Blicke schienen sich in Leninas Körper zu bohren. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor in ihrem Leben so wenig willkommen gefühlt zu haben. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, aber sie wusste, dass dies nicht ging. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag schwor sie sich, nie wieder einen Schritt vor die Tür zu setzen, ohne Credits. Nie, nie wieder wollte sie in solch eine entwürdigende Situation geraten.

Je näher sie der Gruppe kamen, desto besser konnte sie die Gestalten erkennen. Eine alte Frau, die aussah wie eine Hexe aus den steinalten Märchenbüchern. Sie trug einen langen Rock, eine fast ebenso lange Schürze darüber. Eine Bluse, die vom Muster her überhaupt nicht zum Rock passte, ein Schultertuch in Dunkelblau zierte die Bluse. Sie hatte einen Buckel und eine lange, krumme Nase. Es fehlten lediglich die Warzen im Gesicht und der schwarze Kater auf dem Buckel. Neben ihr stand ein Mann, der aussah wie ein Klappergestell. Auf seinem Shirt stand, wahrscheinlich handgeschrieben, »Anti«. Die viel zu weite Hose wurde von Packband an Ort und Stelle gehalten. Auf dem schütteren Haar saß eine Schieberkappe im Schottenmuster und wirkte fehl am Platz. Neben ihm stand ein kleinerer Mann, der irgendetwas hatte, das Lenina unweigerlich an Ratten denken ließ. Ob es der spitze Kopf war, oder die kleinen Augen, konnte sie nicht sagen, aber der Kerl wirkte unheimlich. Hinter der Gruppe saß noch jemand auf dem Boden, den sie nicht richtig sehen konnte. Die Alte ergriff als erste das Wort: »Wen hast du uns denn da mitgebracht?«

Nun standen die beiden Mädchen der Gruppe direkt gegenüber und Eve antwortete: »Das ist Lenina. Sie war mit ihren Eltern im Zoo und die haben sie dort vergessen.«

»Wie kann man denn sein Kind vergessen?«, wollte der Dürre wissen.

»Das ist viel einfacher, als du denkst. Ein Moment Unachtsamkeit reicht vollkommen, nicht wahr, Lenina?«, fragte Eve.

Lenina nickte und betrachtete die Leute genauer. Allesamt trugen sie verschlissene und dreckige Kleidung. Eve schien mit ihrer einfachen, aber sauberen Montur nicht zu den anderen zu passen. Eve schritt die Reihe ab und stellte ihre »Familie« vor.

»Hier hätten wir Tis. Tis ist unser Dealer, der besorgt dir alles, was gerade ausverkauft ist.«

»Hallo, Tis«, begrüßte Lenina den Mann und fragte: »Was ist das für ein komischer Name?«

»Och, den haben mir die anderen verpasst, stammt noch aus Zeiten, als es den Klopapier-Hype gab.« Als er Leninas Blick sah, erklärte er weiter: »Toilet Tissue heißt Klopapier auf Englisch, die Kurzform ist Tis.«

»Ach so …«

»Dieser dürre Kerl ist Anti«, fuhr Eve mit ihrer Vorstellungsrunde fort.

»Hallo, Anti.« Sie hätte gerne nachgefragt, gegen was der Mann denn nun war, aber das würde sie vielleicht im weiteren Verlauf des Abends erfahren. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen.

»Hier hätten wir noch Mom, und da hinten sitzt BM, was die Abkürzung für Blind Man ist. Das war’s, das ist meine Familie.« Eve ließ Lenina zurück, ging zu dem Blinden, tauschte ein paar leise Worte mit ihm, kramte in einem Bündel und verschwand hinter einem Pfeiler. Als sie zurückkehrte sah sie genauso zerlumpt aus wie der Rest der Truppe.

Die anderen kehrten mit Lenina im Schlepptau zurück unter die Brücke und wiesen ihr einen Platz neben BM zu. Lenina nahm ein Stück Pappe, legte es neben den Mann und setzte sich darauf. Sie musste aufpassen, dass sie sich hier nicht die Krätze, Läuse oder Wanzen einfing. »Guten Tag«, sagte sie schüchtern. So viele fremde Leute auf einen Haufen und dann noch so ein verwahrlostes Pack. Der Mann sah sie mit seinen milchigen Augen an und erwiderte den Gruß. »Guten Tag, junge Dame. Lenina heißt du?«

»Ja.«

»Erinnert mich an ein Buch, dass ich als junger Mann gelesen habe.«

»Echt?«

»Willst du nicht wissen, was das für ein Buch war?«

»Was war das für ein Buch?«

»Schöne neue Welt, hieß es.«

»Aha.«

»Eine Utopie.«

»So?«

»Ja. Gut war das.«

»Schön.«

Eve gab ihre heutige Ausbeute an Mom weiter und die verteilte sie. Jeder bekam ein paar Kirschen, einen angeknabberten Müsliriegel steckte sie Tis zu, der aussah, als könnte er eine Extraportion Zucker gut vertragen. Den halben Hamburger warf sie Wolf hin, der ihn gleich gierig verschlang. Aus einer Tüte kramte sie ein Butterbrot hervor, das sie dem Blinden in die Hand drückte und für Eve und Lenina gab es eine Tüte mit salzigem Popcorn. Lenina hatte Süßes erwartet und beim ersten Bissen das Gesicht so verzogen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Mit dem zweiten Bissen gewöhnte sie sich an den Geschmack und fand es fast leckerer als das klebrig-süße.

»Hast du dir mal wieder nichts zugeteilt, Mom?«, fragte Eve.

»Ne, ne, mein Frollein, mach dir mal keine Sorgen. Es gibt gleich für alle noch was Leckres, nicht wahr, Anti?«

»Soll ich anfangen?«

»Ja, mach mal.« Die alte Frau ließ sich neben Eve auf den Boden plumpsen und stöhnte. »Puh, meine alten Knochen. Anti hat heute gleich zwei Hasen erwischt, die brät er uns jetzt. Das reicht dann auch für deinen Besuch.«

Die beiden Männer trugen Holz zusammen und entfachten ein Feuer. Ein Gestell, das sie wohl häufiger nutzten, wurde darüber aufgestellt, ein Spieß mit den beiden Hasen daran kam in die Astgabeln und wurde fleißig gedreht. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich ein Duft, der hungrig machte. Leninas letzte Mahlzeit, neben dem Popcorn, lag Stunden zurück und ihr Magen knurrte. Das bisschen Popcorn hatte ihren Hunger eher angefacht, statt ihn zu stillen.

 

»Na, da ist aber jemand hungrig. Ich dachte, in euren Kreisen, bekommt man regelmäßig warme Mahlzeiten«, sagte der Blinde.

»Wenn man nicht verloren geht, stimmt das auch«, antwortete Lenina. Um das Thema zu wechseln, wandte sie sich an Eve: »Warum hast du dich umgezogen, das Kleid stand dir besser … und es war sauber.«