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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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3.1 Unterricht per Materialpaket

Alle vier Lehrkräfte erzählen davon, dass und wie sie die Schüler*innen im Frühling 2020 mit Materialpaketen versorgten; zwei Lehrkräfte deponierten ihre Materialpakete in den Schulen und ließen sie dort auch wieder von den Eltern hinterlegen; zwei Lehrkräfte brachten die Materialpakete von Tür zu Tür. Eine Lehrkraft der Grundschule nutzte die Übergabe der Pakete zusätzlich, um Gespräche über die Lernprozesse der Kinder zu führen, was sehr zeitaufwändig war. Der Erfolg des Unterrichts mit Hilfe von Materialpaketen wird von den Lehrkräften sehr unterschiedlich bewertet. Eine Lehrkraft an der Sekundarschule war damit sehr unzufrieden: „UND (-) ich hab gewusst? so will ich NIE wieder unterrichten? […] mit koPIERpapier paketen;“ (Lehrkraft C (1:42:50:3–42:56:1)). Diese dezidiert aus einer subjektiven Perspektive formulierte Beurteilung kontrastiert mit der Perspektive der Grundschullehrkräfte, die den Unterricht mit Lernpaketen weniger negativ sehen. Rückblickend bewertet die eine Lehrkraft diesen Unterricht als „nicht wenig effekTI:V? also es war nicht so SCHLECHT;“ (Lehrkraft A (0:18:19:9–0:18:22:4). Der folgende Ausschnitt zeigt, dass die andere Grundschullehrkraft ebenfalls sehr zufrieden war. Wie sie über den Unterricht mit Lernpaketen spricht und wie sie diese Unterrichtsorganisation auch legitimiert, wird im Folgenden genauer analysiert. In ihre Vorbereitungsklasse gehen zurzeit 13 Kinder. In der Organisation des Unterrichts orientierte sie sich am Vorgehen ihrer Kolleg*innen und ließ die Materialpakete in der Regel an der Schule abholen und wieder hinterlegen. In einzelnen Fällen übergab sie die Materialpakete auch an der Tür. Die Tür-und-Angel-Situation nutzte sie nicht für lernprozessbezogene Gespräche. Im folgenden Ausschnitt erzählt sie auf die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des ersten Lockdowns „untergegangen“ sei, eine Anekdote, die im Prinzip den Schwachpunkt ihrer Unterrichtsorganisation illustriert, der sich im Nachhinein ihres Erachtens aber als unproblematisch erwies:


Abb. 1: Interview mit Lehrkraft B, Grundschule (0:11:16:0–0:12:11:8)

Die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des Lockdowns „untergegangen“ sei, verneint die Lehrkraft nachdrücklich: „NE:.“ (Zeile 1) Die Bewertung dieses Sachverhalts bricht sie ab und verleiht dann ihrem Erstaunen Ausdruck darüber, wie „TOLL“ (Zeile 5) der Unterricht mit Lernpaketen geklappt habe. Als Bestätigung und gleichzeitige Legitimation dieser Aussage erzählt sie nun, wie routiniert der Unterricht per Lernpaket funktionierte (Zeilen 8–9); die Pointe der Geschichte besteht aber gerade nicht im Nachweis der Routine und deren Erfolg, sondern in der Darstellung der Ausnahme, die sie erlebte. Die Einschränkung, dass zwar die allermeisten, aber doch nicht ganz alle die Lernpakete abholten, bearbeiteten und wieder zurückbrachten, fungiert hier als Einleitung in die ausführliche Erzählung, in deren Zentrum das Kind, von dem „irgendwie nie“ (Zeile 12) etwas kam, steht. Die Lehrkraft erzählt, auf das Stilmittel der zitierten Gedankenrede zurückgreifend und damit das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), wie sie selbst auf dieses Ausbleiben reagierte. Dieses erzählte Ich wird zuerst als pflichtbewusste Lehrkraft dargestellt, die sich Gedanken darüber macht, wieso die Lernpakete des Kindes ausbleiben. Im Fortgang der Geschichte zeigt sich jedoch, dass das erzählte Ich den Gedanken keine Taten folgen lässt, die während des Lockdowns etablierte Routine, nämlich die Lernpakete einfach in den Briefkasten zu werfen, nicht durchbricht und nicht anruft. Die Darstellung der Untätigkeit der Lehrkraft mag narrativ geschickt sein, denn damit steigert sie bei der Zuhörerin die Spannung auf die Auflösung des Problems. Sie enttäuscht aber so gleichzeitig die Erwartungen, welche die Zuhörerin an eine pflichtbewusste Lehrkraft stellt: Das erzählende Ich stellt das erzählte Ich in einem äußerst negativen Licht dar. Das face (vgl. Goffman 1981) des erzählten Ichs wird im Fortgang der Geschichte jedoch durch das Kind gerettet. Narrativ wird das Kind hier zur Heldin, denn es bringt wider Erwarten „für ALLe wochen (-).h !ALL!es“ (Zeile 19) zurück: Der Unterricht per Lernpaket hat doch funktioniert, die Sorgen der Lehrkraft, dass das Kind nicht arbeite, waren unbegründet, das Ausbleiben des Nachfragens nicht weiter tragisch. Das Lachen, welches die Auflösung der Erzählung begleitet, unterstreicht dies. Es kommentiert nicht nur das Handeln des Kindes und unterstreicht damit den inszenierten Erwartungskontrast. Es ist auch ein Lachen der Erleichterung, da selbst bei diesem Kind, der Ausnahme, der Unterricht mit Lernpaketen trotz der Untätigkeit der Lehrkraft nicht komplett missglückte. Das Kind rettet hier Lernsetting und Ansehen der Lehrkraft gleichermaßen. Aus dieser Erfahrung schöpft die Lehrkraft, wie die letzte Zeile (28) zeigt, die Hoffnung, dass der Unterricht unter Pandemiebedingungen auch mit den neuen Schüler*innen wieder gut klappen wird.

In und durch diese „small story“ (vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008) wird nicht nur der Einsatz von Materialpaketen trotz Schwierigkeiten legitimiert. Diese Geschichte illustriert auch eine der Einstellungen, welche die Lehrkräfte im Umgang mit der Komplexität der Situation in ihren Erzählungen sichtbar machen. Die Situation ist herausfordernd; die Lehrkräfte müssen neue Routinen entwickeln, deren Gelingensbedingungen sie nicht kennen. Die Lehrerin hier zeigt, dass der Zweifel, den sie hatte, unbegründet war, dass ihre Lernarrangements funktionieren und ihre Schüler*innen die Fähigkeit mitbringen, mit der herausfordernden Situation umzugehen, auch wenn die Lösungen, die sie entwickeln, nicht immer dem entsprechen, was die Lehrkraft erwartet. Die Lehrkraft hier traut ihren Schüler*innen zu, auch in dieser schwierigen Situation erfolgreich handeln zu können.

3.2 DaZ-Unterricht digital

Der Ausgestaltung des Sprachenunterrichts unter Pandemiebedingungen sind enge Grenzen gesetzt; mit Hilfe digitaler Infrastrukturen lassen sich diese erweitern. Digitale Medien wurden von den Lehrkräften schon während des ersten Lockdowns eingesetzt. Eine Lehrkraft (Grundschule) benutzte gleich zu Beginn der Pandemie erfolgreich WhatsApp als Medium der Kontaktaufnahme mit den Eltern und den Schüler*innen und produzierte selbst Lernvideos, die sie über WhatsApp verteilte. Dies animierte ihre Schüler*innen, selbständig und unaufgefordert ebenfalls Videos zu produzieren, die sie in die gemeinsame Gruppe einstellten. Dieses Lehr-Lern-Arrangement, das laut Lehrkraft „SUper funktioniert“ (Lehrkraft B (0:06:26:9)) hat, durfte sie aufgrund von Datenschutzbestimmungen nicht mehr einsetzen; WhatsApp ist nicht DSGVO-konform und über den Einsatz wurde nur zu Beginn der Krisensituation hinweggesehen. Sehr enge und eng interpretierte Datenschutzbestimmungen und bürokratische Hürden sind nicht die einzigen Hürden, welche die erfolgreiche Durchführung des Unterrichts in den Vorbereitungsklassen behinderten. Wie sich in den Interviews zeigt, erschwert auch das Fehlen digitaler Kompetenzen gepaart mit dem immer noch vorhandenen monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 1994) auf Seiten der Lehrkräfte das erfolgreiche Durchführen des Unterrichts im multilingualen Klassenzimmer. Dies zeigt sich in folgendem Ausschnitt aus dem Interview mit einer Lehrkraft der Sekundarstufe. Sie kämpft damit, all ihrer 13 Schüler*innen am Unterricht zu beteiligen; nicht alle verfügen über Rechner oder Tablets, viele folgen dem Online-Unterricht auf einem Smartphone. Die Lehrkraft berichtet darüber, dass gegenwärtig der Unterricht in Moodle online stattfinden würde. Als „!ECHT! SEHR seltsam“ empfindet sie, dass die Kommunikation deswegen „so schwierig“ (Lehrkraft D (0:52:18:7)) sei. Einräumend stellt sie fest, dass es besser geworden sei, erzählt dann aber in einer längeren Passage, wie sie die ersten zwei Wochen erlebte. Diese Passage illustriert, dass diese Lehrkraft den digitalen Unterricht als Last empfindet:


Abb. 2: Interview mit Lehrkraft D, Sekundarstufe (0:52:57:8–0:53:05:0)

Die Lehrkraft beginnt ihre Erzählung der Anfangsschwierigkeiten, indem sie den Zeitraum, bevor der Online-Unterricht einigermaßen funktionierte, absteckt und gleichzeitig bewertet: es war „SCHREcklich“ (Zeile 1). Dann liefert sie der Interviewerin die Hintergrundinformation, welche ihr für das Verständnis der Ereignisbeschreibung notwendig erscheint und mit welcher sie diese gleichzeitig rahmt: „die ham ihre SMARTphones nich auf deutsch“ (Zeile 2). Was dies für die Verständigung zwischen ihr und ihren Schüler*innen heißt, erzählt sie, indem sie ihre eigenen sprachlichen Handlungen für die Zuhörerin reinszeniert: „und dann:=sag ich denen, die und die funktion müsst ihr EINschalten“ (Zeilen 5–6). Die Schüler*innen dagegen erhalten weder Gesicht noch Stimme. Die Lehrkraft berichtet bloß, was dann geschah: „und dann verSTEHN die des nich“ (Zeile 9). Dass dies nicht nur einmal geschah, sondern wiederholt, zeigt sie, indem sie das Nichtverstehen ein zweites Mal in leicht abgewandelter Form inszeniert (Zeilen 10–12). Einschränkend konzediert sie, dass ihr zweites Beispiel nicht ganz stimmig sei: Das Icon für „Einstellungen“ am Smartphone ist sprachunabhängig. Wie ihr erstes Beispiel illustriert jedoch auch ihr zweites, dass nicht primär die Digitalität Verständigung erschwert, sondern die Kommunikation nicht funktioniert, weil Deutsch nicht die Alltagssprache der Kinder ist: „und dann verstehn se nicht !RÄD!chen“ (Zeile 12). Dies fasst sie in der Coda der Erzählung noch einmal zusammen: „aber des sind dann einfach verSTÄNDnisprobleme“ (Zeile 14), die, wie sie in der Evaluation der Geschichte ausdrückt, „SCHIER nicht zu (-) SCHIER nicht zu glauben“ seien (Zeile 16).

 

Zwischen der Intention der Lehrkraft zu erzählen, dass die Kommunikation auf Grund der digitalen Vermitteltheit nicht funktionierte, und der Inszenierung des Scheiterns der Kommunikation, besteht eine Diskrepanz. Denn in der Geschichte ist es nicht nur die digitale Vermitteltheit, welche Probleme bereitet, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Kinder ihr Handy nicht auf Deutsch eingestellt haben und den Begriff „Rädchen“ nicht verstehen. Dass eine Lehrkraft, deren Aufgabe es ist, die Deutschkompetenz mehrsprachiger Kinder zu fördern, eine solche Geschichte erzählt und zum Schluss kommt, dass dies „schier nicht zu glauben sei“, mag erstaunen. Doch schon im üblichen VKL-Unterricht kann es eine große Herausforderung sein, mit Schüler*innen zu kommunizieren. Im Präsenzunterricht steht kompetenten Lehrpersonen eine Vielzahl multimodaler Möglichkeiten der Verständigungssicherung zur Verfügung (vgl. Rellstab 2021); im Unterricht via Smartphone wird es schwieriger, mit Hilfe von Gestik, Mimik und der Ausnutzung des Verweisraums Instruktionen zu erteilen. Andererseits würde das Smartphone neue Möglichkeiten eröffnen, die Verständigung herzustellen, auch über Sprachbarrieren hinweg. Dazu müssten die Lehrkräfte diese Möglichkeiten kennen und nutzen können. Doch dieser Lehrkraft hier fehlen zumindest zu Beginn des Online-Unterrichts entscheidende digitale Kompetenzen, um den Unterricht unter Pandemie-Bedingungen bestmöglich gestalten zu können.

Dass Lehrkräfte ungenügend digital kompetent sind, ist nicht erstaunlich, denn die Schulen selbst sind teilweise schlecht oder gar nicht digitalisiert, und bürokratische Hürden und unklare Zuständigkeiten verlangsamen oder verunmöglichen pragmatische Lösungen. Dies zeigt das Beispiel einer anderen Lehrkraft der Sekundarstufe, die in der Digitalisierung eine große Chance gerade auch für den Unterricht in VKL sieht. Sie ergriff proaktiv bereits im Frühling 2020 die Initiative und beantragte Gelder bei einer Bildungsstiftung, gebunden an ihre Vorbereitungsklasse, um ihre Schüler*innen mit Tablets zu versorgen. Obwohl die Gelder bewilligt wurden, waren die Zuständigen der Schule nicht in der Lage, die Tablets vor der zweiten Schulschließung ein halbes Jahr später anzuschaffen. Die Lehrkraft ergriff erneut die Initiative und beschaffte über private Kontakte Tablets für ihre Klasse. Diese Initiative gründet in ihrer Überzeugung, dass Online-Unterricht für ihre Schüler*innen sinnvoll und produktiv sei. Wie sie im Interview berichtet, stellte sie sich schon im Winter 2020 auf Fernunterricht ein, den sie gezielt vorbereitete und in welchen sie Online-Übungen verschiedener DaF/DaZ-Verlage einbinden wollte, um den Schüler*innen direktes Feedback geben zu können. Dabei ist der Lehrkraft durchaus bewusst, dass digitaler Unterricht aufwändiger ist; sie interpretiert diesen Mehraufwand jedoch wieder als Chance: „ich hab ihnen erklärt dass wir einfach mehr ZEIT brauchen? wenn des über die disTANZ geht; und (.) die waren alle total beGEIStert; weil letzten Endes; die sitzen doch zuhause RUM und langweilen sich“ (Lehrkraft C (1:49:52:9–1:50:03:5)). Weiteren Schulschließungen blickt sie gelassen entgegen, sie ist überzeugt, dass sie in der Lage ist, die von ihr geforderten Bildungsvorgaben trotz der Pandemie erfüllen zu können, wie sich in folgendem Ausschnitt zeigt:


Abb. 3: Interview mit Lehrkraft C, Sekundarstufe (2:01:37:2–2:02:02:4)

Diese Lehrkraft positioniert sich hier explizit in Relation zur Schulleitung, der „cheffin“ (Zeile 3), der sie mitteilen kann, dass sie die von ihr verlangten Vorgaben erfüllen wird: „am FÜNFzehnten geb ich meine klasse ab“ (Zeile 5). Sie begründet dies damit, dass sie „dann BE eins erreicht“ habe (Zeile 6). Durch die Verwendung dieser Synekdoche und der Bekräftigung, dass sie „das durchzieht“, „auch mit (.) mit covid“, konstruiert sie sich hier als Lehrkraft, die trotz der Beschränkungen das von ihr anvisierte Ziel stur verfolgt; die damit verbundene Implikation, dass dies auf Kosten der Schüler*innen passieren könnte – „sie“ hat B1 erreicht, „sie zieht das durch“ – bannt sie in zwei Schritten: Zuerst führt sie der Interviewerin vor Augen, dass sie die Möglichkeiten, Bedürfnisse und Grenzen der Kinder im Blick hat, indem sie die „klare ANsage“ an die Schüler*innen inszeniert und deutlich macht, dass bei ihr jede*r eine zweite Chance erhält (Zeilen 11–13). Sie macht dann auch klar, dass die Schüler*innen diese zweite Chance gar nicht wahrnehmen wollten, sondern den Ehrgeiz ihrer Lehrkraft übernahmen: „jetzt ham se nämlich diesen EHRgeiz auch?“ (Zeile 15). Ihre eigene Zielorientierung motivierte also auch ihre Schüler*innen. Damit begründet sie auch den Optimismus für den zukünftigen Unterricht mit einer neuen Klasse: „ich glaub das wird sehr GUT bei uns werden? DIE: arbeit online?“ (Zeilen 19–20).

Diese Lehrkraft hier präsentiert sich als kompetent, engagiert und optimistisch und als jemand, der das Erreichen der Bildungsziele auch unter Pandemiebedingungen als bewältigbare Herausforderung darstellt. Diese Selbstpräsentation und dieser Optimismus kontrastieren stark mit der Selbstdarstellung der Lehrkraft D (Abb. 2), deren Perspektive auf den Online-Unterricht negativ ist, die den digitalen Unterricht als Belastung empfindet und die offensichtlich auch nicht das Engagement aufbringen kann, das in dieser Situation notwendig wäre, um einen „sehr guten“ Unterricht leisten zu können. Dies kann und darf man jedoch nicht als Problem des Individuums auffassen, sondern muss in einem größeren Kontext gesehen werden. Um zumindest guten Unterricht leisten zu können, müssten Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen grundsätzlich entsprechend geschult sein; das ist, wie Decker-Ernst verdeutlicht (vgl. Decker-Ernst 2017: 281), nicht immer der Fall. Es muss ebenfalls die Frage gestellt werden, ob es Aufgabe der Lehrkräfte sein kann, sich eigenständig digitale Kompetenzen anzueignen, die eigenen Vorbereitungsklassen mit Geld und Geräten zu versorgen und Zugänge zur digitalen Infrastruktur herzustellen. Die Pandemiesituation macht hier gravierende Versäumnisse der Bildungspolitik auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar – auch auf der Ebene der Bildungsträger. Das wird in den Interviews ebenfalls thematisiert: „[und wenn] die gemeinde den schulen kein INternet zur verfügung stellt? dann kann die schule des BESte konzept haben, dann funktionierts einfach net.“ (Lehrkraft C, (1:45:11:0–1:45:17:9)). Ob Unterricht angemessen, zielorientiert und bedarfsgerecht ist, darf sich nicht am ungewöhnlichen und herausragenden Engagement sowie entsprechenden Kontakten einer Lehrkraft entscheiden.

3.3 Pandemie, Ressourcenknappheit und die VKL als das schwächste Glied in der Kette

Der Handlungsspielraum der Lehrkräfte wird durch ihre Position in der Hierarchie des Bildungssystems und der oftmals nur impliziten Hierarchie in der Schule bestimmt; diese Hierarchien werden in der Pandemiesituation plötzlich explizit. So wird an einer Schule (Sekundarstufe) in der Phase der teilweisen Schulöffnungen vor dem bereits antizipierten zweiten Lockdown im Januar 2021 etwa der Zugang zum Computerraum plötzlich zur wertvollen Ressource, um die sich alle Klassen streiten. Denn aufgrund des an der Schule fehlenden WLANs können die Klassen nur dort Verbindung zum Internet herstellen und daher auch nur dort mit Online-Unterricht vertraut gemacht und auf mögliche weitere Schulschließungen vorbereitet werden. Wie die Lehrkraft der VKL erzählt, ist es für ihre Klasse jedoch sehr schwierig, Zugang zu diesem Raum und damit zur Möglichkeit, sich auf weitere Schulschließungen vorzubereiten, zu erhalten:


Abb. 4: Interview mit Lehrkraft C, Sekundarstufe (1:59:36:1–2:00:14:1)

Die Lehrkraft eröffnet ihre „small story“ (Bamberg/Georgakopoulou 2008) mit einer tautologischen Aussage, die hervorhebt, dass das zu Erzählende kein Einzelfall ist, sondern Teil eines größeren Problemkomplexes: „(-) des is ja wieder DES;“ (Zeile 1): Wenn sie den Computerraum nutzen wollte, dann „mussten erst immer alle ANderen rein“ (Zeile 3). Sie und ihre Klassen wurden immer zurückgestellt. Durch die Verwendung des Modalverbs „müssen“ stellt sie dar, dass diese Praktik von den anderen nicht als etwas aufgefasst wird, das ihren eigenen Intentionen entspringt, sondern als zwingend erachtet wird. Mit dem Modalverb „müssen“ verweist sie auch darauf, dass ihr die Möglichkeit verwehrt ist, sich gegen diese Praktik zur Wehr zu setzen. Wie dieses Zurückdrängen auf den letzten Platz in der Reihe in ihrer Schule legitimiert wird, inszeniert die Lehrkraft dann, das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), als direkte Rede derjenigen, die vor ihr in den Computerraum „müssen“: „weil die vau ka el isch ja nich WICHtig“ (Zeile 4). In dieser Rede animiert sie die Aussagen der „anderen“ (vgl. Goffman 1981) und deckt sie als Ideologie auf, die sich an ihrer Schule etabliert hat. Diese Ideologie dekonstruiert sie nun schrittweise, indem sie erstens eine andere Reihenfolge als notwendig postuliert, und zweitens dreifach begründet, warum dieses Umkehren der Reihenfolge notwendig ist. Erstens: Nur ein digitales Lernarrangement garantiert die Aufrechterhaltung des Unterrichts; dies korreliert mit ihrer Aussage an anderer Stelle, dass der Unterricht per Lernpakete für sie nie wieder in Frage kommt (vgl. Kap. 3.1). Zweitens: Ihre Schüler*innen bedürfen der intensiven Betreuung durch die Lehrkraft; ein Selbstmanagement der Schüler*innen kann nicht erwartet werden, denn sonst „machen die einfach ts drei wochen NIX.“ (Zeilen 13–14). Drittens: Der Lernprozess der Schüler*innen der VKL ist prekär, und eine dreiwöchige Pause wird alle Lernerfolge zunichtemachen, auch weil die Eltern nicht in der Lage sind, die Kinder zu unterstützen: „der spricht dann den ganzen tag aRABisch mit seiner mutter?“ (Zeilen 18–24). Jede einzelne der Begründungen wäre ihrerseits diskussionswürdig. Sie dienen im vorliegenden Zusammenhang dazu, die Dringlichkeit der Umkehrung der Reihenfolge zu illustrieren und die von der Lehrkraft identifizierte Ideologie der Schule, die ihrer Klasse den Zugang zum Computerraum verwehrt, zu kritisieren. Das Verwehren des Zugangs zum Computerraum ist, wie die Lehrkraft schon zu Beginn der Erzählsequenz indiziert, Teil eines größeren Problemzusammenhangs, der sich im Kontext der Pandemie und der damit einhergehenden Dringlichkeit der Digitalisierung aller Klassen erneut zeigt: Die Schule nimmt die Verantwortung für ihre schwächsten Glieder nicht wahr, verkennt die spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen der VKL-Schüler*innen und verwehrt ihnen daher Ressourcen, die für ihren Lernerfolg essentiell wären. Diese Lehrkraft hier war, wie sich im Verlauf des Interviews herausstellt, zwar dennoch in der Lage, ihre Schüler*innen auf den Online-Unterricht vorzubereiten. Dafür setzte sie nicht nur die eigentlich vorgesehene Schulzeit ein, sondern führte mit den Kindern teilweise mehrstündige Telefonate – auch am Wochenende.

Während Lehrkraft C (Abb. 3 und dazu einleitender Text) die vorgegebenen Bildungsziele unter Pandemiebedingungen durch überdurchschnittlichen Einsatz in der technischen Organisation und der Vorbereitung des Unterrichts und damit als Einzelkämpferin an ihrer Schule erreicht, versucht Lehrkraft A (Grundschule) die Bedingungen ihres Unterrichts zu beeinflussen, indem Sie sich ans Schulamt als untere Schulaufsichtsbehörde wendet. Sie thematisiert im Interview die prekäre Situation, in welcher sich die VKL generell befinden: VKL werden wegen Lehrkräftemangel aufgelöst, Lehrkräfte fallen aus, weil sie als Mitglieder von Risikogruppen nicht mehr in den Klassen unterrichten können, und kleinere Vorbereitungsklassen werden zusammengelegt, um die so frei werdenden Lehrkräfte in anderen Klassen einsetzen zu können. Dies wirkt sich auf ihre eigene Klasse aus, welcher während des Interviews 25 Kinder zugeteilt sind und damit mehr, als vom Kultusministerium erlaubt wäre. Die Entlastung durch eine weitere Lehrkraft, die stundenweise mit ihr den Unterricht gestaltete, fällt vollkommen weg, als diese Lehrkraft ausfällt: „und da ist natürlich auch KEIne (.) eh für das ganze SCHULjahr, .hh keine ÄNDerung in sicht. GIBTS einfach niemanden.“ (Lehrkraft A (0:16:40:9–0:16:47:2)) Sie fasst zusammen: „also des is jetzt SO: (-) .hh am RANde ne problematik die sich durch corona jetzt zUsätzlich einfach ergibt dass die: dass die RAHmenbedingungen natürlich immer schlEchter werden.“ (Lehrkraft A (0:16:09:6–0:16:18:1)). Gegen die Verschlechterung der Rahmenbedingungen will sie sich zur Wehr setzen, wie in folgendem Ausschnitt sichtbar wird:

 

Abb. 5: Interview mit Lehrkraft A, Grundschule (0:15:02:7–0:15:28:2)

Dieser Ausschnitt illustriert nicht, wie eine geglückte Intervention von Seiten einer VKL-Lehrkraft aussieht, sondern ist eher die Darstellung eines Versuchs, die Bedingungen eines Systems zu ändern, das durch Instanzen gestaltet ist, die für die Lehrkräfte nicht greifbar werden und sich einer direkten Adressierung entziehen. Die Lehrkraft verortet sich hier explizit in der im Bildungssystem geltenden Hierarchie, und sie macht deutlich, dass sie hierarchiekonform handelt. Sie geht mit ihrem Anliegen nicht auf die Straße, sie schaltet nicht die Presse ein, sondern sie gibt „rückmeldung“ (Zeile 1) über den Dienstweg. Der nächsthöheren Instanz in dieser Hierarchie gibt sie noch ein Gesicht: Ihre direkte Vorgesetzte, die Schulleiterin, bezeichnet sie etwas salopp als ihre „CHEffin“ (Zeile 1). Die Instanz, die sie mit ihrer Rückmeldung erreichen möchte, wird hingegen nicht personifiziert, sondern ist das „SCHULamt“ (Zeile 2). Die Entscheidungsträger*innen dieser Institution bleiben anonym, ungreifbar: Sie sind „die“ (Zeile 13), die die VKL schließen wollen. Die Unzugänglichkeit dieses Schulamts markiert sie nicht nur mit Hilfe der Personenbezeichnung, sondern auch im Design ihrer Formulierung. Der Adressat ihrer Rückmeldung, das Schulamt, wird nicht als eigentlich zu erwartendes Dativkomplement, sondern als Direktivkomplement „in richtung SCHULamt“ (Zeile 2) realisiert. Damit beschreibt sie die Richtung der Rückmeldung; ob diese Rückmeldung aber da de facto ankommen wird, lässt sie so im Vagen.

Dennoch zeigt ihr Handeln nicht nur ihren sprachideologischen Hintergrund, vor dem die Wichtigkeit und das Bestehenbleiben der Vorbereitungsklassen bedeutend ist, sondern auch Sprachmanagement-Initiative: Sie versucht auf die dargestellte Weise Einfluss zu nehmen und die Bedingungen für ihre Klasse zumindest zu erhalten. Sie ist damit vergleichbar mit Lehrkraft C, die durch ihr hohes persönliches Engagement die nötige technische Ausstattung für den ihrer Meinung nach für ihre Klasse optimalen Unterricht beschaffte.