KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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Daheim | Miklos Muhi



Er hätte sich nie träumen lassen, wieder hier zu stehen, vor diesem alten Bauernhaus, gebaut vor vielen, vielen Jahren aus Lehm und Stroh. Heutzutage gäbe es keine Baugenehmigung für so etwas, aber für diese Gegend wird es in absehbarer Zukunft gar keine Baugenehmigungen geben.



Hier sollte er eigentlich nicht sein, er sollte im mattgrau lackierten Bus sitzen und zurück nach Augsburg fahren, um die übliche Prozedur nach solchen Ausflügen über sich ergehen zu lassen, aber er hat sich die inoffizielle Erlaubnis regelrecht erstritten. Das Risiko war ihm durchaus bewusst, aber er konnte nicht anders. Er war hier aufgewachsen und wusste, dass er kaum eine andere Gelegenheit bekommen würde, den Ort seiner Kindheit wiederzusehen. Letztendlich gab man nach, aber sprechen dürfe er nicht darüber, sonst würden sie alle Ärger bekommen, hieß es.



Der Holzzaun vor dem Haus war zerfallen. Die ehemals lackierten Latten lagen um die in den Beton eingelassenen Eisenrohre, die als Pfeiler gedient hatten. Der Lack blätterte ab und die Farbe war nur schwer zu erkennen. Das Schiebetor, von seinem Vater eigenhändig gebaut, war zwar noch da, aber ohne die Holzlatten, und der Schiebekanal war mit Ästen, Blättern und Müll verstopft. Die Eingangstür war offen. Es gab zwar einiges zu klauen, wenn auch nicht mehr viel, aber fast niemand war so bescheuert, nur daran zu denken, von hier etwas mitzunehmen.



Er ging durch die geöffnete Tür und sah die Skelette der Tiere, wahrscheinlich von Hunden und Katzen. Dabei dachte er an Dufu, den zutraulichen Kater seiner Familie, der an dem Tag, als das Ganze passierte, verschwand und nie wieder auftauchte. Prinz, der Hund der Familie, die große Promenadenmischung, war zwar nicht abgehauen, aber sie hatten ihn damals auch nicht mitnehmen dürfen. Es war ein schmerzhafter Abschied gewesen.



Hinter dem Haus, in dem ehemals großen und blühenden Garten der Familie, wo Karotten, Kürbisse, Bohnen, Popcornmais und Industriehanf gewachsen waren (der Hanf hatte einen ordentlichen Beitrag zum Einkommen der Familie geleistet), machte sich nun ein jung aussehender Wald breit. Zwischen den Bäumen streckten sich einige verkümmerte Hanfpflanzen der Sonne entgegen. Sie müssen jedes Jahr neu anfangen. Die Bäume haben mehr Glück und erstickten langsam, aber sicher die ärmlichen Reste der Kulturpflanzen.



Hinter dem Haus war die Wand der Werkstatt eingestürzt und man konnte die unsägliche Unordnung und den Verfall eines ehemals sehr sauber und ordentlich gehaltenen Arbeitsplatzes sehen. Wenn sein Vater das sehen würde, wäre er bestimmt zumindest wütend, aber das wird nie passieren. Er starb einige Monate nach dem Verlust seines Heimes. Wahrscheinlich war das, was passiert war, doch nicht so unmittelbar passiert.



Neben dem Eingang zur Werkstatt protzte wie ein riesiger, zahnloser Mund der Eingang zum sogenannten Feuerschuppen. Im Feuerschuppen war die Heizungsanlage. Die Gasleitung, die an der Wand entlang zum Feuerschuppen führte, war schon an einigen Stellen durchgerostet. Gas gab es keines mehr.



Er musste ganz nah an den Eingang gehen, um in seinem Schutzanzug überhaupt etwas sehen zu können. Drinnen war es düster, aber er sah, dass alles noch da war. Auch im Feuerschuppen herrschte ein heilloses Durcheinander, und die Heizungsanlage, damals sehr modern, teuer und mit der Hilfe der lokalen Energiefonds gekauft, rostete kläglich vor sich hin.



Die Eingangstür des Hauses stand weit offen. Im Haus hatten es sich damals einige Tiere bequem gemacht, denn man musste alle Fenster und Türe offen lassen. Das Haus konnte die ungebetenen Gäste kaum vor Wind und Wetter schützen. Es war voll Knochen in allen Formen und Größen und jeder Knochen erzählte von zerplatzten Hoffnungen – wenn Tiere überhaupt zu so etwas wie Hoffnung imstande waren.



Überall machte sich Schimmel auf den Wänden breit, genug, um das Haus zu einem Fall für eine unmögliche Komplettsanierung zu machen. Im Vorzimmer verblichen einige Jacken auf den Kleiderhaken und aus den Schuhen wuchsen verkümmerte, gelbliche Pflanzen.



Er dachte dabei an seine eigene Pflanze, die er in seinem Zimmer in einem beleuchteten und belüfteten Spezialschrank züchtete. Er hatte nie mehr als eine einzige Pflanze und aus einer Ernte konnte man monatelang Himmelskekse backen. Nie hätte er die Ernte verkauft oder mehrere Pflanzen zum Verkauf gezüchtet. Nach dem neuen BtMG wäre das nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet worden.



Die Küche war voll Kot, Laub und Müll. Auf dem Herd stand eine durchgerostete Pfanne, in dem Sonntagsbraten zubereitet werden sollte. Im Topf daneben war etwas Durchsichtiges eingetrocknet, die letzte Hühnersuppe. Alle Einrichtungsgegenstände waren schmutzig, bedeckt mit einem Schleier aus herrenlosen Spinnennetzen, Staub und etwas Schimmel.



Überall blätterte der Putz von den Wänden. Die Möbel sammelten all den herumfliegenden Schmutz, ließen aber auch genug übrig, damit der Filter seiner Gasmaske auch etwas zu tun hatte.



In seinem ehemaligen Zimmer im Obergeschoss waren fast alle Möbel vermodert, denn, wie es aussah, gab es auch mit dem Dach einige Probleme und der Regen fand seinen Weg zu jedem Möbelstück hier oben. Der einzige noch halbwegs erkennbare Gegenstand war sein beleuchteter und gelüfteter Schrank aus dickem Plastik. Die Rohre der Lüftung waren gerostet und wahrscheinlich war die ganze Elektronik auch dahin. Im Schrank fand er noch den Blumentopf mit den vermoderten Pflanzenresten.



Er dachte an die vielen Himmelskekse, wurde aber vom Funkgerät aus seinen Erinnerungen herausgerissen.



»Hier ist Krause. Melden Sie sich, Hufnagl!«



»Hufnagl hier. Sprechen Sie.«



»Hufnagl, es reicht jetzt. Zurückkommen, aber sofort, sonst gibt es Dresche wegen Gehorsamsverweigerung.«



»Verstanden, bin unterwegs. Hufnagl aus.«



Der Bus wartete auf ihn auf dem Hauptplatz des Dorfes. In seiner Abwesenheit haben seine Kameraden eine Geschichte zurechtgezimmert, die in Augsburg auf der Kommandantur als Erklärung für sein Zuspätkommen dienen sollte.



Jedes Jahr schickte der Bund eine Patrouille in diese Gegend, seit der Forschungsreaktor München II vor etwa zehn Jahren in die Luft gegangen war. Angeblich alles nur Verkettung unglücklicher Umstände, man könne ja nichts dafür und so weiter.



Im Jahr vor der Katastrophe waren die Krebsneuerkrankungen in Garching und Umgebung (in einer sehr weiten Umgebung) sprunghaft angestiegen. Dann kam jene Julinacht … Kurz vor dem Knall, und noch bevor der Atompilz über Garching erschienen war, hatten mehrere Zeugen berichtet, dass die Isar in der Nacht bläulich leuchtete.



Nach dem Knall leuchtete eine Zeit lang alles bläulich. Die Explosion fegte Ismaning weg und befreite das Wasser aus dem Speichersee, was wiederum die Teile von München wegfegte, die die Explosion nicht erreichen konnte.



Eichenau war stehen geblieben. Weder die Explosion, noch das Wasser konnten Eichenau etwas anhaben, der Fallout aber schon. Seitdem wohnten nur einige Flüchtlinge hier, die abgeschoben werden sollten. Sie kamen lieber nach München und Umgebung, um sich vor der Abschiebung zu verstecken. Sie nisteten sich in den leeren Häusern ein und starben kurz darauf einen qualvollen Tot.



Die Patrouille hat heute keinen einzigen Flüchtling gefunden. Scheinbar haben selbst sie diesen Ort, genannt das

Mahnmal der Nuklearen Sicherheit

, verlassen.















Leerstand | Johanna Wurzinger



Das erste Geschäft verkaufte Bücher.



Das zweite Geschäft verkaufte Haus- und Arbeitsbekleidung. Odettes Blick fiel auf einen gestreiften Morgenmantel aus leichtem Polyester, daneben Nachthemden, in unregelmäßigen Abständen auf einer Stange aufgereiht. Rosa neben Pink neben Gelb neben Weiß, geblümt neben ungemustert, Langarm neben schulterfrei. Daneben Kittelschürzen, ein geblümter blauer Streifen zwischen jeweils einem schmaleren weißen Streifen. Im Hintergrund, nur schwach erkennbar im Halbdunkel des Ladens, Gummistiefel. Hier stimmte etwas nicht.



Das dritte Geschäft verkaufte gar nichts mehr. Durch das staubige Schaufenster erkannte Odette zwei Reihen leerer Regale, ein drittes Regal, ebenfalls leer, rechtwinkelig dazu, eine Theke, eine verwaiste Kasse. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.



Odette schloss ihren Reißverschluss bis ganz oben, auch wenn er unangenehm am Kinn kratzte, und beschleunigte ihren Schritt. Zwei Querstraßen weiter war sie am Ziel. Sie beobachtete das Haus eine Weile, ging davor auf und ab, wich dann dem schreienden Grün aus, stieg über das morsche Gartentürchen, drückte die Haustür mit der Schulter auf und betrat den ersten Raum. Zwielicht. Sie atmete ein und aus, eins, zwei, drei, dann zog sie die Kamera aus ihrer Tasche und begann zu fotografieren.



Minnie legte ihr Handy auf den Tisch und kam auf Odette zu. Sie redete. Dass Odette es ihr hätte sagen müssen, dass sie, Minnie, ja noch gar nicht mit dem Bürgermeister gesprochen habe und auch den Namen von der alten Frau noch gar nicht wisse, dass Odette Glück gehabt habe und die Gendarmen sehr entgegenkommend gewesen seien, angesichts der Hysterie der Nachbarin. Odette lächelte und hob eine Schulter. »Dann lass mal sehen«, meinte Minnie, plötzlich entspannt. Sie griff nach der Kamera und klickte durch die Aufnahmen, die Odette gemacht hatte. Es war gespenstisch.

 



Dass die Zwillinge eigentlich Klara und Sybille hießen, war kaum jemandem mehr gegenwärtig, am allerwenigsten ihnen selbst. Viel zu früh geboren, nachdem ihre Mutter beim Blumengießen über den Gartenschlauch gestolpert und hart gelandet war, glaubte kaum einer der Spezialisten für Neonatologie an ihr Überleben: zu schwach, zu unterentwickelt, Sybille litt zudem an heftiger Gelbsucht, beide an atemdepressiven Zuständen. Als man sie jedoch auf Wunsch der Mutter, der es, von Schuldgefühlen gepeinigt, das Herz zerriss bei der Vorstellung, dass diese winzigen und unfertigen Wesen nun mutterseelenallein und getrennt voneinander sterben sollten, in einen gemeinsamen Brutkasten verlegte, trat das ein, worauf keiner mehr zu hoffen den Anlass gesehen hatte. Ihr Zustand besserte sich. Die Krankenschwestern beobachteten staunend, die Eltern unendlich dankbar, die Ärzte vorsichtig optimistisch, wie die beiden, schleppend, Gramm für Gramm, zunahmen. Die Ärmchen, anfangs so dick wie der kleine Finger der Mutter, ähnelten bald ihrem Daumen, schließlich dem des Vaters. Die blaurote Haut glättete sich, die Schläuche und Nadeln, die in ihre Nasen, in ihre Kopfhaut führten, wurden nach und nach entfernt, ihr Atem stabilisierte sich. Klara zeigte deutliche Reaktionen, wenn die Mutter, penibel desinfiziert, durch das Loch im Brutkasten mit ihr sprach und sie streichelte. Die Eltern bestanden darauf, die Mädchen gemeinsam nach Hause zu holen, obwohl Sybille gute zehn Tage vor ihrer Schwester hätte entlassen werden können.



Je größer ihre Mädchen wurden, desto deutlicher wurde der Mutter, dass sie sich von den heiteren Zwillingsszenarien, die sie sich ausgemalt hatte, verabschieden musste. Beide Mädchen waren still und eigenbrötlerisch.



Klara blätterte, noch bevor sie lesen konnte, wie die lesefaule Mutter stolz bemerkte, in Märchenbüchern und spielte ihre Lieblingsszenen unermüdlich mit Kuscheltieren nach. Sie baute ihnen Nester, fütterte sie mit selbstgekochten Fantasiespeisen und fertigte Wandschmuck für ihre Kartonhäuschen an. Bis weit nach ihrem fünften Geburtstag lutschte sie am Daumen und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.



Sybille war anders, sie sammelte Knöpfe, Murmeln und kleine Figürchen, die sie stundenlang zu großflächigen, komplizierten Mustern auf dem Kinderzimmerboden anordnete. Das Sprechen lernte sie spät. Die Hauskatze Murli hatte einen Narren an ihr gefressen, und oft sah man die beiden Freundinnen Seite an Seite vor dem Holzstapel in der Sonne sitzen oder konzentriert die laufende Waschmaschine beobachten. Ihre Augen waren klar und scharf, und häufig überraschte sie den Großvater damit, dass sie die Unterschiede bei den Fehlersuchbildern seiner Tageszeitung schneller fand als er. Das Mädchen gerate nach ihm, befand er stolz, das werde einmal eine ausgezeichnete Jägerin, eine ausdauernde und gute Beobachterin und hatte nicht ständig die Pappalatur offen.



Klara dachte an die armen Tierkinder und verweigerte kreischend wochenlang Fleisch, wenn der Vater oder der Nachbar wieder einmal einen Hasen oder ein Wildschwein nach Hause gebracht hatten, bis man ihr schließlich, entnervt, eine »fleischlose Extrawurst« kochte, wie der Vater süffisant bemerkte.



Krank wurden beide selten und nur gleichzeitig. Während Klara, weinerlich und wehleidig, nach Tee und Mama verlangte und nachts zu Sybille ins Bett kroch, lag Sybille lobenswert still und äußerte nur selten Widerspruch zum Geschehen im Krankenzimmer. Als Klara eines Tages, fiebrig und zutiefst unglücklich, die Mutter nach dem Gutenachtkuss nicht aus dem Kinderzimmer lassen wollte, sah diese, wie Sybille ihre Lippen bewegte. »Was hast du gesagt?«, wollte sie wissen. »Minnie«, wiederholte das Kind. Richtig, Klara trug ihren Mickey-Mouse-Pyjama, auf dem sich neben dem Mäusepaar einige andere Figuren aus Disneys Universum tummelten, darunter die Kuh Klara, die die Mutter insgeheim schon immer ekelhaft gefunden hatte. Als die Mutter am nächsten Tag ihre Töchter wecken kam, bestätigte Sybille, sie und »ihre Minnie« hätten brav geschlafen.



Der Name fand rasch Verbreitung, wurde von den anderen Kindergartenkindern aufgegriffen und schließlich sogar von der Kindergartentante, einer frömmlerischen Dame namens Martha, zugezogen aus der benachbarten Gemeinde, verwendet. »Ihre Minnie ist ein reizendes Mäderl«, pflegte sie der Mutter beim Abholen oder bei zufälligen Begegnungen süßlich lächelnd mitzuteilen. »So ein herziges Pupperl.« Ganz anders die andere, bei der rede man gegen eine Wand. In der Tat war Minnie wie gemacht für ihren neuen Namen: zierlich, schwächlich, blässlich, mit großen Augen und trotz ihrer Sturheit weich und verletzlich. Sybille dagegen war robuster, gleichgültiger, kaum zugänglich und oft in seltsame Beharrlichkeiten verbissen, beispielsweise ihre häufigen Weigerungen, an einer bestimmten Stelle die Straße zu überqueren. Ein rechter Trampel halt, wie manche Verwandten für sich befanden, und das Grüßen konnte sie auch nicht.



Alles in allem aber, da waren sich alle einig, war es schon ein großer Segen, wenn man bedachte, wie alles angefangen hatte, und diese Capricen, wie die Taufpatin der beiden gespreizt bemerkte, werden sich schon auswachsen. Normalerweise gab man nicht allzu viel auf ihre Meinung, denn sie redete mit der gleichen Bestimmtheit auch von Ahnenkulten und Kommunismus, doch im vorliegenden Fall schien sie recht zu behalten.



Die Probleme begannen, als der Großvater starb. Während er wie üblich bei seinem aus Milchkaffee, Marmeladekipferl und Betablockern bestehenden Frühstück saß, griff er sich kurz ans Herz und wurde einige Stunden später von seinem Sohn, der ihm ein paar Scharniere vorbeibringen wollte, unverändert vorgefunden. Die Hand an der Brust, die Kronenzeitung aufgeschlagen, das Kipferl von Fliegen umsummt. Es sei ganz schnell gegangen, meinte der Arzt, er habe so gut wie nichts gespürt. Ein schönes Alter habe er erreicht, fanden auch die Eltern und trösteten sich damit, dass er bis zum Schluss ganz selbstständig und bis auf die Herzgeschichte kerngesund gewesen sei. Minnie, um die man sich Sorgen gemacht hatte – lange überlegte man, wie man ihr die Nachricht so schonend wie möglich beibringen konnte – ließ sich rasch beruhigen durch die Vorstellung, der Opa sei nun im Himmel bei der Oma daheim und schaue jeden Tag auf sie herunter. Sybilles Reaktion hatte keiner erwartet.



Sie war fast jeden Tag eine Stunde nach dem Mittagessen zum Großvater hinüberspaziert und hatte so lange an seine Tür geklopft, bis er aus dem Mittagsschlaf erwachte. Daraufhin hatten sie jeder zwei Kekse gegessen, zum Munterwerden (Sybille mochte am liebsten die mit der Marmelade in der Mitte, der Großvater Schichtgebäck, das er Wafferl nannte) und die Zeitung noch einmal durchgeblättert, um zu kontrollieren, ob auch alle Rätsel richtig gelöst waren. Dann waren sie zu ihrem Rundgang aufgebrochen, zuerst zu den Tomaten, die in Kübeln entlang der Hausmauer wuchsen, weiter zu den Himbeeren und den Ribiselstauden und von dort in einem langen Bogen zurück zum Haus. Im Winter gab es freilich keine Tomaten oder Himbeeren, dafür ein Vogelhäuschen und Vogerlsalat im Mistbeet, von dem man laut Sybille, die wiederum den alten Mann wörtlich zitierte, groß und stark wurde.



Die unerschütterliche Sybille wurde nach dem Tod des Großvaters ernstlich krank, und das zum ersten Mal alleine: Sie fieberte hoch, schlug um sich, um gleich darauf wieder völlig apathisch vor sich hin zu wimmern. Der Hausarzt gab ihr eine Spritze, die sie den ganzen Tag lang, für den man die Beerdigung angesetzt hatte, in einen betäubungsähnlichen Schlaf fallen ließ. Minnie, verstört und mit rot geweinten Augen, wich ihr nicht von der Seite, ebenso die alte Nachbarin, die auf die Mädchen aufpasste und sich vergebens bemühte, Minnie mit Kakao und dem Fernsehkasperl vom Bett ihrer Schwester wegzulocken.



Als Sybille wieder aufwachte, wirkte sie so desorientiert, dass die Eltern erneut den Arzt riefen. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte dieser onkelhaft beim Eintreten. Odette, antwortete Sybille, und dabei blieb es. Niemand verstand, wo sie diesen Namen herhatte.



Sie begann in den Wochen darauf, sich selbst zu schlagen, kurze, trockene Schläge auf den Kopf, die die Mutter, ohnehin schwer strapaziert, zusammenzucken ließen. Das Kind machte ins Bett und lehnte neue Kleidungsstücke ab. Die Einschulung wurde eine Katastrophe. Odette gebärdete sich wie ein wildes Tier, Minnie weinte verzweifelt und weigerte sich, die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter, die sie umklammert hielt wie eine abstürzende Bergsteigerin, loszulassen. Mit der Zeit bemerkte die Mutter jedoch eine Beruhigung der Situation, die mit einer winzigen Verschiebung in der Beziehung der Zwillinge zueinander begann: War Minnie, die »Kleine«, früher blind an Odette gehangen, weil sie selbst Trost und Geborgenheit suchte, so schien sie nun auf Odette achtgeben zu wollen. Odette wurde ruhiger. Die Lehrerin schrieb dies dem Gewöhnungseffekt und ihrer Unterrichtsdisziplin zu, der Vater dem Alter.



Das Haus des Großvaters verfiel unterdessen. Sein Gewand wurde zur Altkleidersammlung gegeben, das Geschirr zum Großteil auf den Pfarrflohmarkt, die Möbel nach und nach verkauft, andere verheizt. Anfangs ging die Mutter, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, zum Haus, um die Blumenbeete zu wässern, Unkraut zu jäten und die Vogeltränke nachzufüllen. Auch die letzte Tomatenernte fiel gut aus. Im Herbst wurden ihre Besuche seltener, und irgendwann stellte sie sie ganz ein. Von keiner Heckenschere, von keinem Rasenmäher gezügelt, verfielen die Pflanzen in euphorisches Wachstum: Wiesennelken reckten ihre Köpfe den Sonnenblumen entgegen, die wild neben dem Vogelhäuschen aufgegangen waren, Löwenzahn und Disteln liebäugelten mit den Ritzen zwischen den Terrassensteinen, die der Winter für sie Jahr um Jahr verbreiterte. Der Zwetschgenbaum, alt, bemoost und in diesem Jahr beladen mit winzigen, ungenießbaren Früchten, ließ einen Ast zu Boden fallen. Die grüne Farbe an den hölzernen Fensterrahmen und der Tür, daran gewöhnt, Jahr um Jahr von gewissenhaften Pinselstrichen erneuert zu werden, blätterte ab, erst zaghaft, dann forsch und beherzt. Als der Wind ein Fenster eindrückte, nagelte der Vater von außen Bretter davor. Das Dach ließ die Schultern hängen. Ein Amselpärchen nistete im Windfang, zwei Elstern im Schornstein. Von keiner Heizung, keinem sommerlichen Stoßlüften jemals aufgetrocknet, kroch die Feuchtigkeit durch die Holzböden und langsam, gemächlich, die Wände hinauf.



Im Inneren des Hauses bedeckte der Staub alle Oberflächen und ließ die Kinder rätseln, woher er wohl komme. Der Mutter hatten sie versprechen müssen, das Haus wegen der vielen Gefahren, die diese dort lauern sah, nicht zu betreten; den Schlüssel vermisste sie jedoch nie. Man musste nur sorgsam aufpassen, das Gras vor der Haustür nicht zu zertrampeln, den hohen Schierling, der im Schuhrost wurzelte, nicht zu knicken, keine neuen Spuren zu hinterlassen, wo die Natur dabei war, alte zu tilgen. Die Mädchen kamen fast täglich. In einem Erdverlies unter dem Küchenboden fanden sie Rexgläser, die dem Blick der entrümpelnden Verwandtschaft entgangen waren: Fisolen, Kirschen, Salzgurken. Sie aßen mit den Fingern und stellten die Gläser anschließend säuberlich an ihren verborgenen Platz zurück. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, tupften vorsichtig auf blätternden Verputz und bewunderten die Bauern bei der Ernte an der Wand im Schlafzimmer, wo vor Kurzem noch das große Bett gestanden hatte. Sie drehten die tauben Wasserhähne auf und zu und brachten die Waschschüssel aus Emaille mit Steinchen zum Klingen. Sie bemalten die Wände mit Bröckchen von Ziegelsteinen. Minnie versuchte, sich wie das Mädchen aus einem ihrer Bücher an die Küchenlampe zu hängen, doch sie riss ab und zerbrach.



»Aus euch kriegt man ja gar nichts mehr heraus«, beklagte sich die Mutter, wenn sie auf ihre Frage, was die beiden denn den ganzen Tag getrieben hätten, ein knappes »Nichts« zur Antwort bekam.



In ihrem Abschlussjahr beschäftigte sich Minnie intensiv mit dem Thema Tod. Sie maturierte mit Bestnoten in den Fächern Geschichte, Religion, Psychologie und Philosophie, ließ ansonsten aber zu wünschen übrig. Odette war noch schwächer, rettete sich gegen Jahresende lediglich durch ihre schnelle Merkfähigkeit und wurde dennoch zweimal aus reiner Gefälligkeit versetzt. Faul, urteilten die Lehrer. Unkonzentriert, bleiben weit hinter ihrem Potenzial zurück. Odette bekam eine Betragensnote, nachdem sie einem Klassenkameraden, der ihr auf die Toilette nachgeschlichen war, die Nase gebrochen hatte, indem sie ihn an den Haaren packte und sein Gesicht gegen den Spiegel geschmettert hatte. Die Schulleitung bat die Eltern zu einem Gespräch, diese einigten sich, auf Anzeigen zu verzichten – der Vater des Burschen auf eine wegen Körperverletzung, Odettes Vater wegen sexueller Belästigung.

 



Nach der Matura teilten sie sich eine Garçonnière.





»Ich denke, diese Woche noch, höchstens zwei, dann können wir den Bezirk abschließen«, meinte Minnie später, als sie ihre Mails gecheckt und nochmals, endlos, wie es Odette schien, telefoniert hatte. »Das von gestern würde ich mir aber gern noch mal gesondert ansehen. Das fällt aus dem Rahmen, irgendwie. Oder was meinst du?«



Odette nickte gedankenverloren. »Auf jeden Fall«, antwortete sie dann.



Auf die immer seltener werdenden Nachfragen der Verwandtschaft, was sie denn nun eigentlich täten (Capricen!), antworteten die Zwillinge, sie würden stundenweise als Sekretärinnen arbeiten. Von ihrem privaten Projekt, das den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch nahm, erzählten sie nichts. Minnie recherchierte, telefonierte, wertete aus, fasste zusammen und vervollständigte wöchentlich die Karte. Odette fotografierte: verlassene Häuser, leer stehende Häuser, verwaiste Häuser. Einsturzgefährdete Bauernhöfe, aufgelassene Wohnblocks, zwangsgeräumte Nebengebäude, in Vergessenheit geratene Jagdhütten, ausgebrannte Kaufhäuser, in Konkurs gegangene Hotels, seit Jahrzehnten nicht mehr benützte Wochenendhäuschen. Errichtet im vorigen Jahrhundert, im vorvorigen oder erst neulich. Sie gingen methodisch vor, durchforsteten die letzten verwilderten Parzellen in frisch verdichteten ehemaligen Vororten, sie tasteten sich durch Gewerbeparks und hangelten sich durch gottverlassene Dörfer mit seltsamen Namen wie Einöd am Weg oder St. Pankraz in der Gegend. An manchen Stellen ihrer Karte entstanden seltsame Ballungsräume, an anderen war Leere.



»Das Leben ist eben lebensgefährlich«, hatten die Tanten der zehnjährigen Minnie ins Gesicht gelacht, und »der Tod gehört zum Leben«, hatten die Onkel beschieden. Dass Letzteres den Tatsachen entsprach, bewiesen die Heerscharen alter Frauen, zum Friedhof pilgernd, die zentnerweise gepflanzten pflegeleichten, farbenfrohen Blumen zu ihren Füßen, violett, gelb, weiß.



Aber die Häuser. »Jedes Haus stirbt anders«, hatte Minnie einmal erklärt. »Manche tun es würdevoll und richtig mit Stil, bleiben stattlich, auch wenn sie nur mehr ein Haufen alter Steine sind, eben weil sie mehr als nur ein Haufen alter Steine sind. Andere wiederum verweigern, die scheinen trotzig zu sagen, egal, ich brauch euch Menschen sowieso nicht, ich denk ja gar nicht dran. Wieder andere entfalten eine Beschaulichkeit, richtig romantisch, die sie früher sicher nicht hatten. Oder eben nicht in diesem Ausmaß. Wie Frauen, die jung gar nicht einmal besonders hübsch sind, im Alter aber mit tausend Falten und weißen Haaren dieses Strahlen bekommen. Ich meine die Häuser, die nur von blühendem Unkraut bewachsen und nur von ganz putzigen Vogerln besiedelt werden und in die garantiert noch nie ein Sandler oder ein Junkie gepisst hat. Verstehst du, was ich meine?«



Odette hatte genickt.



»Manche sind traurig, weinen mit jedem Stein den Tagen nach, in denen sie bewohnt waren. Und dann gibt es noch die, die das Alter und die Einsamkeit bösartig macht. Die die ganze Atmosphäre rundherum vergiften mit ihrer bloßen Anwesenheit.«



Odette hatte zugestimmt; gefühlvolle lange Ansprachen waren nicht ihre Stärke, aber dass sie genauso dachte, zeigten ihre perfekten Fotos: Sie zeigten die Persönlichkeit der ihres einzigen Daseinszweckes beraubten Gebäude, diejenigen überdauernd, denen ihre Existenz gewidmet war, ihre beredte, vollgepferchte Leere. Sie waren geplant worden, gebaut, bezogen. In ihnen waren Mahlzeiten gekocht und gegessen worden, in manchen von ihnen unter Gelächter und Gerede, in manchen bei freudlosem Schweigen; Geschirr war gespült worden, Wasser verschüttet und wieder aufgewischt. Menschen waren gut miteinander ausgekommen oder sich hasserfüllt aus dem Weg gegangen, hatten krank im Bett gelegen, waren geboren worden oder gestorben. Sachen waren zum ersten Mal passiert: der erste Schritt eines Kindes, die erste Post im Briefkasten, der erste Anstrich an der Wand, das erste Feuer im Ofen. Und Sachen waren zum letzten Mal passiert: ein letztes Mal hatte jemand die Toilettenspülung gedrückt, ein letztes Mal hatte sich jemand innerhalb dieser Mauern geliebt, ein letztes Mal das Licht abgedreht, ein letztes Mal jemandem einen guten Morgen gewünscht. Da war der Hof, einst, laut Grundbuch, inmitten Weines und Feldern gelegen, heute direkt an der ekelhaft kurvigen Bundesstraße. Unterhalb des Straßenniveaus, man hätte die Tür nach außen nicht mehr öffnen können, wirkte er klein, verloren, an den Fenstern noch Vorhänge, von einer t