KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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Kurz darauf stiegen Klaus und Nyoko in ihr Auto, einen Mazda 323 GTR, der früher bei Rallyerennen im Einsatz gewesen war. Die farbenfrohe Gestaltung zeugte noch von den Aufklebern der einstigen Sponsoren.

Klaus versuchte, es sich im Rennsitz bequem zu machen. »Diese Sportwagengurte sind sehr unpraktisch. Bitte fahr so, dass dein Auto kein Symbol für Vergänglichkeit wird.«

Mit quietschenden Reifen verließen sie das Polizeigebäude und stießen beinahe mit der Musikkapelle zusammen. Der Kapellmeister schüttelte den Kopf.

Der Immobilieninvestor Markus Kammerlander stand vor dem Bauernhof, der einst den Röhrlings gehört hatte, beim großen Schild, das die hier geplante Reihenhausanlage anpries. Sogar die Bäume auf dem Bild der Werbetafel waren nach einem regelmäßigen Muster angeordnet. Wohnen im Grünen.

Kammerlander sah eine Staubwolke in rasendem Tempo näherkommen. Gekonnt glich die Fahrerin den Drift bei der Vollbremsung aus. Ein Rallyeauto. War das wirklich die Polizei?

Er hatte mit einer Frau namens Nyoko Binder telefoniert. Erst als die asiatisch aussehende Frau ausstieg, war er sicher, dass es sich um den angekündigten Besuch handelte.

Nyoko ging zu ihm und stellte sich vor. »Vielen Dank, dass Sie sich so rasch Zeit nehmen konnten.«

»Ihre Androhung eines vorübergehenden Baustopps bis zur langwierigen Genehmigung der Durchsuchung war sehr motivierend.«

»Entschuldigung! Wir haben Hinweise auf diesen Keller bekommen, denen wir dringend nachgehen müssen. Sie haben das Haus sicher auch schon angeschaut.«

»Nur sehr oberflächlich, da der Abriss von vornherein geplant war. Im Keller befindet sich nur altes Gerümpel, keine Räuberhöhle.«

»Wenn es so ist, sind wir schnell fertig. Gehen wir hinein.«

Hinter einer Tür im Hausflur befand sich der Abgang zum Keller. Nyoko und Klaus schalteten ihre Taschenlampen ein. Sie erreichten eine vollgeräumte Kammer. Kisten, Blumentöpfe, Geschirr, rostige Geräte.

Klaus sondierte den Kram. »Die Sachen wurden alle schon lange nicht mehr angerührt. Vielleicht bist du ausnahmsweise falsch gelegen.«

»Wenn ich an die Fenster denke, ist dieser Raum viel zu klein. Es muss noch einen geben. Hier lässt das Gerümpel einen kleinen Gang frei, der als Einziges staubfrei ist. Du sagst doch immer, dass Spuren verwischen neue Spuren erzeugt. Schauen wir, wo das hinführt.«

Sie kamen zu einem Kasten und öffneten ihn. Er war leer. Nyoko klopfte gegen die Rückwand. Hohl.

Klaus inspizierte das Möbel. »Sieht so aus, als ob du dem Chef als Ausgleich für den Stress an seinem Geburtstag einen Erfolg schenken könntest. Vielleicht ist das eine Geheimtür. Ich suche den Öffnungsmechanismus.«

»Den brauchen wir nicht.« Die Trägerin eines schwarzen Karategürtels beseitigte das letzte Hindernis auf dem Weg zum Geheimnis mit einem Fußtritt – Mikazuki Geri. Die Rückwand des Kastens leistete keinen Widerstand.

Im Schein der Taschenlampen stand eine alte Apparatur. Klaus untersuchte sie. »Das ist eine Destillationsanlage. Haben wir einen Schwarzbrenner überführt?«

»Hier befindet sich noch etwas. Ist es das, was ich befürchte?«

»Du liebe Güte!«

Vor ihnen standen Glaskolben, Laborkühler, verbunden mit Schläuchen, Bunsenbrenner, eine Waage. Auf einem weiteren Tisch stand eine Tablettenpresse.

Klaus begutachtete die Chemikalienflaschen. »Das sind die Ingredienzien zur Herstellung von Amphetamin. Nyoko, du hast eine Speedküche aufgespürt.«

Sie gingen wieder nach oben, wo gerade niederösterreichische Polizisten eintrafen, die über die Einmischung der Wiener Kollegen sehr erbost waren. Das legte sich aber, als Nyoko von ihrem Fund berichtete. Sie ging zu Kammerlander. »Es tut mir leid, aber ich befürchte, das wird doch ein längerer Baustopp. Klaus! Wir feiern jetzt den Geburtstag meines Chefs. Immerhin sind wir hier nicht zuständig.«

Als Nyoko am nächsten Tag in ihr Büro kam, wurde sie von einem Chef empfangen, der viel entspannter als an seinem Festtag war.

»Guten Morgen, Nyoko! Heute habe ich schon ein paar nette Telefonate geführt. Ich darf dir den Dank der niederösterreichischen Kollegen und des Drogendezernats sowie ein besonderes Lob des Polizeipräsidenten ausrichten.«

»Der Präsident? War die Drogenküche so eine große Sache?«

»Du hast ja keine Ahnung, was du da aufgestöbert hast. Eine Tablettenpresse hinterlässt eindeutige Individualspuren, vor allem wenn sie älter ist. Die Kollegen haben inzwischen interessante Zusammenhänge rekonstruiert. Du hast sicher noch die Daten des Röhrling-Falles im Kopf. Was war 2004?«

»Franz Röhrling hat den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb aufgelassen und ist nach Wien gezogen.«

»In diesem Jahr hat das Speedangebot in Wien deutlich zugenommen, vor allem Tabletten. Wir wissen jetzt, dass sie in der Drogenküche der Röhrlings produziert worden sind.«

»Der Fabrikjob war also nur Tarnung. In Wirklichkeit ist er als Dealer nach Wien gekommen.«

»Das sehen die Suchtgiftkollegen auch so. Kommen wir nach 2008.«

»Der Selbstmord von Franz Röhrling.«

»Kurz davor sind fünf junge Menschen an verunreinigtem Speed qualvoll gestorben, vermutlich ein Produktionsfehler. Das ist als ›Speed Kills‹-Fall in die Geschichte eingegangen und bis gestern nicht geklärt worden.«

»Wahrscheinlich hatte Franz Röhrling doch noch ein paar menschliche Regungen und Gewissensbisse. Hat er sich selbst umgebracht oder wollte er sich stellen und ist von seinem Bruder gestoppt worden?«

»Nach einigen Monaten hat sich in der Szene anscheinend niemand mehr daran erinnert. Der Verkauf ist nach einer kurzen Unterbrechung wie früher gelaufen. Was war voriges Jahr, also 2015?«

»Der Unfall von Jakob Röhrling, bei dem auch eine Schusswaffe gefunden worden ist.«

»Genau! Auf einem Foto der Hausdurchsuchung danach sieht man genau den Typ Seil, mit dem sich Franz Röhrling erhängt hat. Also hat wahrscheinlich Jakob seinen Bruder ermordet. Kurz nach dem Unfall sind die Speedtabletten endgültig aus dem Wiener Markt verschwunden. Was war gestern?«

»Wir haben die Drogenküche gefunden und damit die Röhrlings als Urheber identifiziert.«

»Noch in derselben Nacht hat die Suchtgiftabteilung mit den nun bekannten Namen die Ermittlungen wieder aufgenommen. Jakob Röhrling hat nach dem Tod seines Bruders ein Netzwerk von Dealern aufgebaut. Die Kollegen konnten schon drei Händler verhaften, die noch immer hochaktiv mit Substanzen anderer Hersteller waren.«

Nyoko rief den Fotografen an und berichtete ihm die Neuigkeiten. Er erzählte ihr von seinem neuesten Projekt. »Ihr Anruf hat mich inspiriert, die Fabrik zu suchen, in der Franz Röhrling gearbeitet hatte. Jetzt stehe ich hier und es ist ein Einkaufszentrum. Es schaut genauso aus wie alle anderen Konsumtempel. Nur ein Stück einer Backsteinmauer der alten Fabrik hat der Architekt als künstlerisches Element stehen gelassen. Sogar ein paar Rohre hängen dran. Die sind aber nicht original, sondern bei der Errichtung des Einkaufszentrums angebracht worden. Man hat die Teile sogar künstlich gealtert. Fotomotiv finde ich hier keines, wenn ich nicht in die Werbebranche einsteigen will.«

»Das ist schade. Ich habe einmal Kintsugi-Schalen aus maschineller Fertigung gesehen. Die Scherben sind bei allen exakt gleich und das Gold ist nicht echt. Dafür sind sie billig.«



kindergefängnis | Peter Paul Wiplinger

im halbdunkel des kellers stehen mit dem gesicht zur kalkweißen wand nur durch ein hoch oben knapp über dem gehsteig angebrachtes kleines fenster einem sogenannten gugerl fällt etwas licht herein und zerteilt das dunkel in hellere und dunklere bereiche des zweiräumigen kellers in dem es modrig riecht nach eingelagerten erdäpfeln und sauerkraut nach möhren und sellerie im sand und nach katzenurin und katzenkot in diesem gemüsebeetkatzenklo unbeweglich stehen dass du dich ja nicht rührst und schon gar nicht anlehnst oder woanders hinstellst hatte die erzieherin dieses ehemalige bdm-weib eindringlich und in scharfem ton zu mir gesagt bevor sie die vergitterte tür hinter sich schloss den reiber umdrehte sodass sich die tür von innen nicht mehr öffnen ließ selbst nicht mit gewalt jedenfalls nicht mit der kraft die ich als kleiner bub mit etwa acht bis zehn jahren hatte und dann schloss sie auch noch die zweite türe die flügeltüre am ausgang des zweiten kellerraumes und drehte das licht ab sodass es zuerst ganz dunkel war und wie mir schien sich der erste raum in dem ich stand erst ganz langsam durch das licht das durch das kleine schmale gleichfalls mit einem feinmaschigen drahtnetz vergitterte kellerfenster hoch oben an der kante zum gewölbten plafond hereindrang erhellte auch wenn du schreist wird dich niemand hören hatte die erzieherin noch triumphierend gesagt auch wenn du noch so sehr schreist wird dich draußen niemand hören der keller lag ja tief unten und die steinernen mauern waren vielleicht mehr als einen meter dick nein da wird dich niemand hören sagte ich zu mir selber in diesem gefängnis in diesem verlies wie der gefangene ritter löwenherz kam ich mir vor versetzte mich in diese seine lage als gefangener im verlies irgendeiner burg in dürnstein sagte mir später einmal eine lehrerin und diese fantasievorstellung ein gefangener ritter und nicht ein geschlagener im keller meines elternhauses eingesperrter bub zu sein erleichterte mir mein los durch diese heroisierung ich war kein niemand mehr wie man mir gesagt hatte sondern doch ein jemand ein eingesperrter ritter in einem dunklen verlies einer burg und schon begann meine fantasie zu arbeiten an der weiß gekalkten wand verfolgte ich die linien der verschiedenen risse im kalk und verputz und plötzlich wurden aus den rissen grenzen wurden flüsse und gebirge und aus den durch diese risse gebildeten flächen wurden länder und meere und schon war ich nicht mehr in diesem mir verhassten keller in dem wir auch kurz zuvor noch bei fliegerangriffen im letzten kriegsjahr gesessen waren sondern ich befand mich plötzlich und wieder einmal denn ich hatte dieses spiel schon des öfteren gespielt wenn ich hier eingesperrt war also ich befand mich plötzlich in einer weiten unbekannten welt in einer welt von der ich aus büchern die ich gerne las wusste dass es sie gab in der ich aber noch nie gewesen war außer in meinen vorstellungen oder im traum aber da vernahm ich wieder ohne dass sie im raum gewesen wäre die schneidende stimme der erzieherin die sagte nein fast schrie eine halbe stunde hast du hier unbeweglich zu stehen und mach ja nicht in die hose sonst stehst du noch eine verlängerungshalbestunde zur strafe also verkneif dir dein lulu ansonsten setzt es noch was zu dieser strafe dazu erziehungsmaßnahmen nannte sie das ich glaube die eltern wussten nichts davon denn diese erzieherin die selbst nur eine unausgegorene göre wie die deutschen so was nannten war sagte immer wieder beim strafvollzug und zu deinen eltern brauchst du gar nichts zu sagen die wissen das sowieso und ich bin die erzieherin ich soll dich erziehen und einen folgsamen anständigen buben aus dir machen du missratenes stück kind du ja so ähnlich sprach sie für mich damals unbegreiflich und heute das gesamte szenario unverständlich das geschehen diese art von strafe und erziehung unmenschlich eine einzige kindesmisshandlung und sonst nichts aber es sollte ja auch ein anständiger bub aus mir werden ich war ja wie man sagte völlig aus der art geschlagen ich war aufsässig nein nicht von natur aus sondern durch diese erzieherin geworden und nur bei ihr war ich so und manchmal auch bei meinen eltern sozusagen aus kindlicher rache dafür dass sie mich einer solchen erzieherin aussetzten wenn sie doch wussten wie dieses weib dieses dem bdm-mädchentum entwachsene weib wirklich war nämlich bösartig sadistisch grausam gefühllos und hart im keller war es ganz still autos fuhren damals noch nicht über den marktplatz nur die schritte der vorbeigehenden konnte man hören man hörte das klappern von sandalen im sommer und das auftreten mit festeren schuhen zu einer kälteren jahreszeit da das eingesperrtsein in diesem keller noch schwerer zu ertragen war als im sommer wenn ich den kopf zur seite drehte sah ich auch die füße und ein stück von den beinen der am trottoir über mir am kellerfenster vorbeigehenden und ich stellte mir vor wer diese leute waren manchmal schrie ich auch aber ich wusste dass mich niemand hören konnte und so war auch mein schreien mein trotziges wehgeschrei mehr ausdruck meines zorns und meiner wut als ein hilferuf eine ewigkeit wie mir schien stand ich dann jedes mal so da ich unartiger ich der ich aus der art geschlagen war wie sie sagten eine halbe ewigkeit stand ich so da längst schon musste ich dringend aufs klo aber bloß nicht daran denken sonst wird es noch ärger das war meine erfahrung sich ablenken mit allem was nur möglich ist das war die devise das war das rezept um diese tortur halbwegs gut und heute würde ich sagen würdevoll zu überstehen und irgendwann ging dann wieder die tür auf und die erzieherin kam mit stolz geschwellter brust herein packte mich an den haaren und zog mich hinaus in den zweiten kellerraum und dann hinauf bis zur stiege ins sogenannte vorhaus in den eingangsbereich zwischen haustor und geschäftstür und ausgang zum hof und dann zischte sie noch wie eine schlange nur dass du es dir merkst du elender fratz nur damit du es dir auf ewig merkst du verdammter bengel du hast mir zu gehorchen und keine schwierigkeiten zu machen und brichst du dein versprechen brav zu sein so wanderst du gleich wieder einmal in den keller dann stehst du aber eine ganze stunde und das überstehst du nicht so leicht wie das soeben jetzt also gib endlich deinen trotz auf und mach das was ich dir sage und was ich will und zwar ohne widerrede sondern in blindem gehorsam denn ich bin deine erzieherin und du bist in wirklichkeit nichts also merk dir das und vergiss das nie und ich habe das alles auch nicht vergessen und heute mit fünfundsiebzig jahren da ich mich wie so oft daran erinnere an diese erziehungsmaßnahmen an diese grausamkeit an diese kindesmisshandlungen an diese quälerei spüre ich immer noch wie meine wut hochkommt mein zorn in mir brennt genauso wie damals als ich ein kind war

 

Schnee | Leveret Pale

Der Tod und das Eis knirschten unter den Sohlen, als Robespierre seinen Weg durch die Grabesstille bahnte, vorbei an gähnenden Fenstern und klaffenden Gassen, aus denen anklagend das Schweigen der Toten hallte.

Trotz der Handschuhe schmerzten seine Hände. Die kalte Luft stach in seinen Lungen. Schwerfällig stieg er unter der Last mehrerer Pullover und einem Rucksack voll mit seinem restlichen Hab und Gut über den Schutt.

Das gelbe Natriumdampflicht der Straßenlaternen schimmerte in den gefrorenen Pfützen, an den Bergen aus Schnee und den mit Frost überzogenen Mauern. Es schien ihm, als würde Eiter aus den Eingeweiden der Stadt quellen. Der schwarze Nachthimmel erstickte alles einem Sargdeckel gleich und begrub es im Schnee. Schneeflocken schnitten mit ihrer Kälte in Robespierres Gesicht. Er blinzelte, als er über die Leichen stieg, und trotz aller Mühe schaffte er es nicht, ihnen auszuweichen. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn die gefrorenen Knochen krachend unter ihm brachen. Überall lagen sie – in ihren steifen Kleidern und mit blauen Gesichtern, die Eiszapfen aus Nasen und Lidern ragend – und verschwanden langsam unter dem Schnee.

Ein Quieken ertönte und Robespierre erstarrte. Was war das gewesen? War es das Pfeifen seiner Lungen? Nein, er hörte es noch mal, ein Keuchen, menschliche Laute, die vor ihm aus dem Schnee drangen. Sein Magen zog sich zusammen. Er zitterte. Zwei blaue Augen starrten ihn aus halb offenen Schlitzen hinter den Gläsern einer Gasmaske an, die langsam, aber rhythmisch immer mehr beschlug. Ein Arm tauchte aus dem Schnee auf und streckte sich, um dann wieder kraftlos zu fallen. Robespierre kniete sich hin, nahm die schlaffe Hand des Überlebenden.

Dumpfe Silben drangen durch den Filter der Maske. »Ziee … Zaa … Ma …«

»Sie leben. Oh, mein Gott«, sagte Robespierre und beugte sich vor.

»Ziek … diii … Mak … die Maske.«

Robespierre zog sie dem Fremden vom Gesicht.

Kleine Dampfwolken stiegen auf und verschwanden in der Finsternis. Der Mann unter der Maske war nicht viel älter als Robespierre. Ein dichter, schwarzer Bart, auf dem sich die weißen Flocken niederließen, umrahmte das junge Gesicht, das fast genauso blass war, wie der Schnee drum herum. Die Augenlider und die Wangen hingen gelähmt herunter, nur die brüchigen Lippen bewegten sich kaum merklich.

»Danke«, wisperte der Überlebende.

»Sie werden dadurch nur schneller sterben, befürchte ich. Ich meine …« Robespierre hielt inne. Wie kalte Maden durchkroch ihn das Gefühl der Scham und Angst. »Es tut mir leid.«

»Bischt du … a … ein Geischt?«, fragte der Mann.

»Nein. Ich glaube nicht.«

»Hascht du … ein Gegen…mittel?« Die blauen Augen bewegten sich hinter den zufallenden Schlitzen langsam umher, als würden sie versuchen, Robespierre in der Ferne ausfindig zu machen.

»Nein.«

»Warum bischt … du dann hier?«

»Ich bin immun, nehme ich an.«

Der Sterbende schloss die Augen. Ein letzter Dampfschwaden entwich seinem Mund und löste sich vor Robespierre in Nichts auf.

»Bleib wach«, rief der junge Mann, aber seine Stimme erstickte im fallenden Schnee. Er packte die Leiche an der Jacke und schüttelte sie, dass die Spucke und das Blut ihm über den Mantel spritzten. »Lass mich nicht allein!« Er ließ die Jacke los und brach in Tränen aus. »Nicht allein. Ich kann das nicht.«

Die kalte Luft drang tief in seine Lungen ein wie ein Schwert.

Er schniefte den kalten Rotz in seine taube Nase und zwang seine Knie, ihn dem Himmel entgegenzustemmen.

Er ging weiter. Er hatte keine andere Wahl, denn zurücksehen konnte er nicht.

Das rhythmische Knacken des Eises unter ihm war sein einziger Begleiter in der Stille.

Er kam an den dunklen Schaufenstern der großen Tech-Riesen vorbei. Erschöpft lehnte er sich an einer der gelblich leuchtenden Straßenlaternen an.

Sein Blick wanderte über die Straße und die lange Reihe an Lichtkreisen, die in der weißen Schneewand verblasste. Wenn die Stromversorgung für die öffentliche Beleuchtung wieder funktionierte, dann waren vielleicht auch die Telefonnetze wieder online. Er bräuchte nur Strom, dann könnte er sein Smartphone aufladen und übers Netz herausfinden, ob es andere Überlebende gab. Nur, wo würde er Strom finden? Er sah an der Straßenlaterne hinab, aber die Stahlabdeckung, die die Anschlüsse verbarg, war mit dicken Schrauben fixiert. Ohne Werkzeug würde er sie nicht öffnen können. Er ließ seinen Blick über den Platz schweifen.


Vor wenigen Tagen noch hatte die Sonne geschienen, die Menschen waren durch die Straßen geschwärmt. Kleine Kinder hatten lachend gespielt, während ihre Eltern Kaffee tranken. Die Republik hatte erst vor einem Monat den hundertsten Jahrestag ihrer Ausrufung und das dreißigjährige Bestehen des Friedens gefeiert. Die Wirtschaft florierte, die Stimmung war golden, fröhlich, friedlich. Tausende Arbeitslose strömten aus der Allianz, um in der Republik Arbeit zu finden, während in ihrer Heimat die alten Patriarchen zähneknirschend auf ihren Thronen saßen und in Predigten und in den Medien gegen die verkommenen Separatisten gehetzt und vom totalen Krieg geschwärmt hatten. Hohles Politikergerede war es in Robespierres Ohren gewesen, die gleiche alte Propaganda, wie sie seit Jahren in einem fernen, anderen Ort lief. Bis die Bedrohung dann eines Tages schlagartig über den realen Alltag hereingebrochen war.

Und nun war alles unter meterdicken Schnee vergraben und die Geschäfte wirkten wie hohle Gerippe, jeder Bedeutung und Pracht beraubt. Leichen pflasterten die Straßen und Plätze. Er erinnerte sich noch an den Tag, als es plötzlich mitten im Sommer anfing zu schneien. Es war keine Woche her, und doch schien es ihm wie ein Traum. Er hatte in seinem Zimmer gesessen und Codes für seine Kunden entworfen, als er merkte, wie sich draußen Menschenmengen versammelt hatten und zum Himmel starrten, während vereinzelte Schneeflocken herabrieselten und die Dächer und Autos mit einer dünnen Schicht von Weiß bedeckten. Er war zu ihnen getreten. Die Kinder waren aufgeregt, die Erwachsenen schwiegen verunsichert, die Priester tuschelten. Plötzlich erbrachen sich die Menschen, die Ersten fielen einfach so um.

Und dann waren die Sirenen losgegangen.

Viele waren schlagartig gestorben, die anderen flohen in die Bunker. Als sie jedoch erkannt hatten, dass der Tod bereits mit dem Schnee gekommen war und durch die Filter der Belüftungsanlagen drang, waren sie wie Maden aus den maroden Bunkern an die Oberfläche gequollen, um für Heilung zu beten. Gott blieb schweigsam, und so fiel einer nach dem anderen gelähmt in den kalten Morast.

Nur Robespierre war geblieben. Einsam auf der Suche nach Überlebenden, wartend auf die Truppen des Feindes, die irgendwann einmarschieren würden. Zumindest dachte das Robespierre, denn es wirkte in seinen Augen sinnlos, ein Gebiet zu entvölkern, wenn man nicht plante, es danach einzunehmen. Aber die Panzer und die schwarzen Banner mit dem Roten Kreuz waren nirgendwo zu sehen, nicht einmal Flugzeuge konnte er hören. Alles wirkte dadurch noch leerer. Absoluter Stillstand, absolute Sinnlosigkeit.

So allein wie Robespierre war, wirkte es, als ob es egal wäre, ob er existierte oder nicht. Niemand nahm ihn wahr und er konnte niemanden wahrnehmen. Er befand sich in einem sozialen Vakuum. Es war fast so, als würde er nicht existieren, in der Schwebe hängen. Er war es als Alleinstehender gewohnt, tagelang allein zu sein, aber das hier war etwas anderes, dieser absolute Mangel an jeglichem Leben um ihn herum. Das Gefühl war fast noch schlimmer als die Kälte; ein flaues, unerträgliches Ziehen durch seinen gesamten Körper und Verstand, als würde er gar nicht wirklich da sein.

Er gab sich einen Ruck und zwang sich dazu weiterzugehen, den Platz zu überqueren und an den Schaufenstern entlangzulaufen. Er durfte jetzt nicht den Verstand verlieren. Er musste so ruhig bleiben, wie er es bereits in den letzten Tagen gewesen war. Durchhalten, weitermachen, später am Abend etwas weinen, aber nun musste er weitermachen. Es gab in den Gebäuden sicher keinen Strom, aber vielleicht konnte er in einem der Tech-Geschäfte eine Art von Ladestation für sein Smartphone finden.

 

Er lief die Straße hinab, zwängte sich vorbei an den großen Haufen Schnee, die einst Autos waren, bis er sich entschloss, in einen Elektromarkt einzusteigen. Hinter den Schaufenstern herrschte weite, gähnende Finsternis, in der er die Umrisse von Regalen und Auslagen ausmachen konnte. Der Schnee türmte sich vor der Tür bis zur Klinke auf. Robespierre rüttelte daran, und entgegen seiner Erwartung, gab die Tür nach und öffnete sich. Zusammen mit dem Schnee fiel Robespierre ins Innere, stolperte über die Türschwelle und fing sich dahinter wieder auf.

Schwer atmend stand er drin, hinter ihm die tote kalte Welt, vor ihm finstere Dunkelheit.

Er zog eine Taschenlampe aus seiner Manteltasche und schwenkte den Lichtkegel durch die Verkaufsräume. Nichts rührte sich. Am Ende der Halle glaubte er Gestalten am Boden liegen zu sehen und dunkle Flecken an den Wänden, aber er schwenkte das Licht schnell weiter. Er fand das Schild Ladegeräte und Powerbanks und bahnte sich seinen Weg zu dem Regal durch die gespenstischen Verkaufsräume.

Er fand die Powerbanks und öffnete die größte, die er finden konnte. Er schaltete die Taschenlampe aus, um die Batterien zu schonen. Er stand in absoluter Dunkelheit, das Licht der Straßenlaternen war nichts als ein schwaches Schimmern am andern Ende der Halle. Blind tastete er die Powerbank ab. Nun war nur noch zu hoffen, dass die Werkladung ausreichte und sich nicht durch die Kälte bereits entladen hatte.

Er griff in seine Manteltasche und holte sein Smartphone und ein Ladekabel heraus und steckte es in die Ladebank. Eins ihrer fünf Ladelämpchen leuchtete und tauchte sein Sichtfeld in ein mattes Blau. Der Bildschirm des Smartphones hellte sich auf, das Logo des Herstellers erschien. Robespierre zog den Handschuh von seiner roten, schmerzenden Hand. Die Fingerspitzen glitten über das Glas, ohne es zu spüren, und gaben das Muster ein. Der Akkustand zeigte zwei Prozent. Robespierre zwang seine rechte Hand auf und zu, ballte die Faust und versuchte die zitternden Finger wieder auszustrecken. Zwei kleine graue Balken erschienen am oberen Bildschirmrand, ein E+ blinkte daneben auf. Robespierres Mundwinkel hoben sich. Drei Prozent Akku. Er öffnete die Nachrichtenapp. Die letzten Neuigkeiten waren die vier Tage alte Aufforderung der Regierung, alle Schutzbunker aufzusuchen, und die Nachrichten, die kurz darauf verkündeten, dass die Tarnkappenbomber der Allianz die künstlichen Schneewolken über der Hauptstadt mit Botox versetzt hatten und wahrscheinlich die gesamte Bevölkerung befallen war. Nichts Neues. Der Akku sank wieder auf zwei Prozent.

Robespierre schluckte. Seine Augen brannten, aber er konnte nicht weinen. Eiskristalle hingen an seinen Wimpern. Er suchte nach aktuelleren Nachrichten aus dem Ausland. Die meisten von ihnen lauteten gleich. Eine Wendung der Geschichte. Die Allianz feierte ihren Sieg über die Separatisten, feierte das Ende des letzten Kreuzzugs. Mit moderner Waffentechnologie hatte man sowohl die abtrünnige Armee, als auch die gesamte heidnische Bevölkerung der separatistischen Provinz der Republik ausgeschaltet, ohne dass ein einziger Soldat der Allianz dafür bluten musste. Doch die Dinge waren nicht so gelaufen, wie geplant. Die Kulturen der Kampfbotulinustoxinzüchtung waren mutiert, oder das Gift hatte mit den Chemtrails, die den Schneesturm verursachten, reagiert. Die Wissenschaftler konnte es nicht genau bestimmen, aber das Gift schien nicht wie geplant innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu oxidieren. Der Schneesturm verteilte es über den ganzen Kontinent, überall gingen ganze Dörfer und Städte gelähmt zu Boden, um langsam zu ersticken. Hunderttausende schlurften in die Kliniken, um dort zusammenzubrechen, unfähig sich zu rühren, ohne dass ihnen geholfen werden konnte. Im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern waren nichts und niemand mehr am Leben. Robespierre war allein.

Der Bildschirm war schwarz. Die Powerbank hatte sich entladen.