Buch lesen: «Hoffnungsmorgen»

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FABIAN VOGT (Hrsg.)

Hoffnungsmorgen

Biblische Augenzeugen erzählen

die Ostergeschichte


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-968-9

© 2017 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Die Rechte an den Texten liegen bei den Autoren.

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia memory stockphoto

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Ute Aland

gegessen

Albrecht Gralle

verworfen

Annekatrin Warnke

verurteilt

Fabian Vogt

getragen

Hannelore Schnapp

gekreuzigt

Mathias Jeschke

erkannt

Bodo Woltiri

ausgezeichnet

Marlis Büsching

verraten

Christian Rendel

begraben

Christina Brudereck

gesalbt

Iris Völlnagel

verändert

Eleonore Dehnerdt

erstaunt

Tanja Jeschke

entschieden

Frauke Bielefeldt

berührt

Inken Weiand

bekannt

Christoph Zehendner

verstanden

Autorinnen und Autoren

Vorwort

„Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln.“ Behauptet der kluge Theologe Dietrich Bonhoeffer. Starker Satz, oder? Einer, der gleich zwei herausfordernde Gedanken in sich trägt. Erstens: Ostern ist ein Geschehen voller Hoffnung, das die Kraft besitzt, die Ängste und Sorgen von Menschen zu überwinden. Und zweitens: Es lohnt sich, diese einzigartige Geschichte zu kennen.

Der Erzählband „Hoffnungsmorgen“ will Lust machen, sich den tiefgründigen Ereignissen, die vor fast 2000 Jahren die Welt veränderten, ganz neu zu nähern. Und das auf ungewöhnliche Weise: nämlich dadurch, dass Autorinnen und Autoren den „Augenzeugen“ von damals eine Stimme geben. Sie lassen Menschen zu Wort kommen, die bei der Kreuzigung Jesu und bei seiner Auferstehung laut Überlieferung dabei waren und nun davon erzählen könnten. Persönlich, anschaulich, bewegend.

Maria Magdalena, die Jünger Thomas, Petrus und Judas, der Statthalter Pontius Pilatus, der Hohepriester, die Wache am Grab und viele andere Beteiligte beschreiben in den Texten als Betroffene, wie sie die einzigartigen Momente jener Tage erlebt haben. So entsteht ein schillerndes Mosaik aus Erfahrungen, das die Dynamik des Ostergeschehens möglicherweise eindrücklicher vor Augen führt als manch tiefgründige theologische Erläuterung.

Bei aller Freude am Erzählen wissen die Autorinnen und Autoren, wovon sie da reden und schreiben. Denn sie sind alle Mitglieder der christlichen Künstlergemeinschaft „Das Rad“, in der sich Vertreter verschiedener Kunstformen gegenseitig inspirieren. Die Fachgruppe „Medien“ dieser Vereinigung hat dann auch auf einer Tagung die Idee entwickelt, die Ostergeschichte aus verschiedenen Perspektiven literarisch so nachzuerzählen, dass sich die unglaublichen Begebenheiten in anregender Form erschließen.

Um die Situation des Jahres 30 in der römischen Provinz Judäa halbwegs authentisch wiederzugeben, wurden (unter anderem) einige Namen der ursprünglichen Aussprache angenähert. So steht zum Beispiel in den Texten „Jeshua“ statt Jesus, „Jeruschalajim“ statt Jerusalem oder „Kajafas“ statt Kaiphas. Ein vorsichtiger, aber atmosphärisch weitreichender Schritt.

Nebenbei: Es ist nicht verwunderlich, dass bei solch einem narrativen Zugang bestimmte Facetten der historischen Ereignisse von verschiedenen Personen mehrfach beleuchtet werden – gelegentlich sogar mit unterschiedlicher Bewertung. Wie es nun mal ist, wenn Zeugen aufgefordert werden, ihre jeweilige Version einer Geschichte zu erzählen. Zugleich steckt in dieser Vielfalt aber auch die poetische Einladung, sich selbst ein Bild von den Ereignissen zu machen.

Das heißt: Lassen Sie sich von diesen kleinen „Erzählungen“ mit hineinnehmen in die große biblische Erzählung – in den Bericht davon, wie das Leben über den Tod siegen kann. Ja, mehr noch. Schauen Sie mal, ob das stimmt, was Dietrich Bonhoeffer so selbstbewusst behauptete: „Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln.“

Eine wohltuende Lektüre wünscht Fabian Vogt.

Ute Aland

gegessen

Draußen färben die letzten Sonnenstrahlen den vom Wind aufgewirbelten Staub der Straßen Jerusalems golden. Nur noch vereinzelt dringen Geräusche durch die schmalen Fensteröffnungen. Die Stimmen angeregt palavernder Männer erfüllen den niedrigen Raum. Es duftet nach gebratenem Lamm, nach den bitter-herben Kräutern in den Schüsseln und auch ein wenig nach Männerschweiß. Der Mann um die Dreißig sitzt mit einem Dutzend meist grobschlächtiger Männer im Dämmerlicht und beobachtet gedankenverloren die junge, schlanke Frau, die vor dem offenen Kamin am Ende des Raumes hockt und im Feuer stochert.

Jemand nennt beiläufig seinen Namen – ein Name, der in diesen Tagen in Jerusalem in vieler Munde ist: Jeshua. Er wirft einen Blick in die Runde, doch im Moment beachtet ihn niemand, was ihn aber keineswegs stört. Im Gegenteil.

Der Blick seiner dunklen Augen wandert über die Risse in den Lehmwänden, die sich wie Adern durch den an einigen Stellen fleckigen Kalk ziehen. Er erkennt auch in ihnen die Schönheit der Ordnungen, denen alle Dinge unterworfen sind.

Möglicherweise hätte Aabid, ihr Gastgeber, den Raum vorher frisch gekälkt, wenn er gewusst hätte, dass „der Meister“ mit seinem Gefolge das Fest ausgerechnet bei ihm feiern will. Aber Aabid weiß erst seit gestern davon. Die Jünger hatten ihn angesprochen, als er mit dem Krug auf dem Kopf vom Brunnen gekommen war, wohin er seit dem Tod seiner jungen Frau vor vierzehn Monaten jetzt selber gehen muss. Jeshua hatte gewusst, dass Aabid sich nicht wundern würde, wenn zwei fremde Männer mit entwaffnender Selbstverständlichkeit einen Raum für „den Meister“ beanspruchen würden. Jeshua schätzt Aabid sehr. Nicht nur als Mensch, sondern auch als Töpfer. Auch Aabid ist einer von denen, die das göttliche Gesetz in den kleinen Dingen erkennen und der deshalb ein wirklich guter Töpfer ist. Alle Gefäße in diesem Haus stammen aus seiner Hand.

Jeshua betrachtet den farbig lasierten bauchigen Becher in seinen Fingern. Ein schönes Gefäß, ernst und verspielt zugleich, denkt er und lässt dann seinen Blick vom Becher über seine schmalen Hände schweifen; betrachtet nachdenklich die sehnigen Handrücken, die den Becher umklammern.

Er dreht das Gefäß und beobachtet dabei den Tanz der Sehnen unter seiner braungebrannten Haut, Choreographie eines noch genialeren Meisters. Diese Hände sind geübt im Umgang mit Tischlerwerkzeug, wie auch im Spenden von Trost und Heilung. Noch vor wenigen Tagen führten sie die Peitsche im Tempel, und schon sehr bald werden sie im eigenen Blute baden.

Die im Foltern erfahrenen Römer treiben die Nägel genau dort durch das Fleisch, wo die Handknochen zusammenlaufen. Genau dort, wo jetzt, da seine Hände sich um den Becher krampfen, die Adern hervortreten. Für wenige Sekunden überkommt Jeshua Schwäche. Sein Blick ist vernebelt, und sogar Johannes, der doch direkt neben ihm auf dem Boden hockt, verschwindet wie hinter einem dichten Schleier. Rasch trinkt er einen Schluck Wasser. Als Kind hatte ihm seine Mutter in solchen Fällen immer einen Schluck Wasser zu trinken gegeben. Marias Allheilmitttel. „Du vergisst vor lauter Spielen immer das Trinken, mein Sohn.“

Jeshua lächelt der Frau Mitte vierzig zu, die schon die ganze Zeit von ihrem im Dunkeln liegenden Platz am Fenster betrübt ihren Sohn beobachtet. Sie lächelt mit ernsten Augen zurück.

Jeshua stellt den Becher auf den Tisch, greift vor sich, taucht ein Stück Brot in die Tunke aus bitteren Kräutern und blickt in die Runde seiner Freunde: begeisterte, ausgelassene Männer voller Tatendrang. Sie sind in Hochstimmung. Verständlicherweise, denn solch eine triumphale Begrüßung, wie sie sie gerade erst erlebt haben, gibt es nicht alle Tage. Heute sind sie davon überzeugt: Sie haben alles richtig gemacht. Sie sind dem Richtigen gefolgt. Jubelnde Massen an den Straßen. Hosianna, Palmzweige, Begeisterung. Kein Wunder, nach der Sache mit Lazarus. Wer einen aus dem Tod zurückholt, kann mit jubelnden Massen rechnen. Die Jünger wähnen sich endlich am Ziel: zu guter Letzt der Beweis, dass sich ihre Entbehrungen gelohnt haben.

Und es waren Entbehrungen; wechselhafte Jahre, in denen ihnen zwischen Zweifel, Jubel, Verfolgung, Misstrauen und Euphorie fast alles entgegengeschlagen war. Doch heute ist ein wahres Fest für sie, ein Passa, wie es sich gehört: Auszug aus der Sklaverei.

Das Lamm ist mittlerweile fast verzehrt, einige Krüge Wein sind gelehrt, und die Männer haben sich in Begeisterung geredet.

‚Durchbruch‘ ist das Wort der Stunde. Vor allem Petrus liebt dieses Wort. Überhaupt – der Raum ist voller bedeutsamer Worte, wie ‚Messianisches Reich‘, ‚Israels Herrschaft‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Gericht‘, ‚Tag des Herrn‘. Wortfetzen, die über den Tisch flattern wie aufgescheuchte Tauben, die den Weg nach Hause nicht finden. Petrus redet aufgeregt und mit großen Gesten auf Andreas und Jakobus ein. Petrus erklärt wie immer irgendwem irgendwas.

„Wir werden jetzt keinen Schritt mehr weichen“, ruft er hitzig, und Andreas nickt, den Becher zum Munde führend.

„Es gibt jetzt kein Zurück mehr!“, behauptet Petrus und erntet auch von Jakobus ein kauendes Kopfnicken.

Nur an den beiden Frauen geht die Begeisterung scheinbar spurlos vorbei. Die Männer halten ihre Zurückhaltung für Torheit. „Frauen verstehen halt nichts von diesen Dingen“, flüstern sie sich zu, denn sie wissen, dass der Meister solche Reden nicht duldet.

Jeshua kennt ihre Gedanken. All diese Männer sind seine Freunde. Sie haben alles stehen und liegen gelassen für ‚die Sache‘, für das Reich Gottes. Er hat sie alles gelehrt, was sie bis jetzt verstehen können. Er liebt sie, und sie lieben ihn. Trotzdem spürt er wieder diese Einsamkeit inmitten des Trubels. Seine Jünger feiern bereits den Sieg. Nach so vielen Entbehrungen wollen sie jetzt ein gutes Ende. Einen Platz ganz oben, bei denen, die das Sagen haben.

Mit von Lammfett glänzenden Gesichtern erhitzen sie sich, trunken von ihrer eigenen Hingabe, ihrer Glut, ihrer Bedeutsamkeit.

Jakobus und Johannes zum Beispiel, die ein Faible für ‚Feuer vom Himmel‘ haben, erwarten in den nächsten Tagen das große Finale hier in Jerusalem, bevor das Reich Gottes kommt. Sie spekulieren auf einen Platz rechts und links neben dem Messias.

Und dann Petrus, der von Anfang an nichts hören wollte von Tod und Leiden. Dessen Leidenschaft ihn in die Irre führt. So wie Judas Iskariot. Der Eiferer. Er, der in aller Heimlichkeit ‚den großen Showdown‘ organisiert hat. Der es gar nicht erwarten kann, dass das Klein-Klein in den judäischen Dörfern endlich vorbei ist, der den großen Durchbruch hier in Jerusalem erzwingen will. Wie die meisten ist er Hals über Kopf verliebt in seine eigene Gotteserregung. Verwechselt diese Inbrunst mit Hingabe, mit Liebe. Ach, Judas, du hast deine Pläne mit mir, wie sie alle hier, denkt Jeshua. Ich aber werde alle Pläne durchkreuzen müssen! Der Menschensohn wird nicht vom Kreuz herabsteigen. Kein Feuer vom Himmel, keine letzte Trompete. Es wird nicht triumphal. Es wird blutig, schmerzhaft, ein Schlachtfest der Feinde Gottes. Zerfetzte Haut, blankes Fleisch. Und so wird Gott selber sich in die Welt verschütten. Eine grausame Form der Vereinigung. Durch Blut und durch Fleisch.

Jeshua stellt Brot und Wein vor sich. Brot und Wein. Ein altes Zeichen. Sehr alt. Melchisedeck war der Erste. Heute aber wird es, gerade für ihn, eine neue Bedeutung bekommen. Ich sehne mich danach, heute mit meinen Freunden das Mahl zu nehmen.

Er seufzt. Sie wollen für das Reich in die Schlacht ziehen. Aber das Reich, für das sie kämpfen wollen, ist veraltet. In diesem alten Reich sollten die Menschen zu Gefäßen geformt werden, nun aber werden diese Krüge zerschmettert werden. Der Menschen fromme Pläne werden den Flammen des Entsetzens zum Opfer fallen, und die Asche wird der Acker sein, in den das Neue gesät wird, und was die alten Krüge niemals hätten halten können, wird ausgegossen und den Acker tränken.

Jeshua nimmt den Weinkrug.

„Freunde, es ist Zeit, den neuen Bund zu schließen“, sagt er, kann sich gegen die vielen Stimmen aber nicht durchsetzen.

„Halt doch mal für einen Moment die Klappe, Mann“, meint Philippus. „Der Meister will was sagen.“

„Wisch dir den Mund ab, Alter, jetzt wird‘s feierlich“, flachst Bartholomäus zu Jakobus hinüber. Dann herrscht endlich Ruhe. Auch die beiden Marias gesellen sich zu ihnen an den Tisch.

„Freunde, jetzt ist die Zeit gekommen, von der die Propheten gesagt haben: ‚Da will der Herr mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen.“ Erwartungsvolles Schweigen. Jeshua fährt fort:

„Der Menschensohn wird zum Vater gehen, aber zuvor wird sein Blut die Schöpfung tränken, denn im Blut ist das Leben.“

Mit diesen Worten stürzt die Hochstimmung im Raum wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Petrus’ Kopf zuckt nervös. „Nein, Meister!“, seine Stimme überschlägt sich. „Das werden wir verhindern. Wir sind fast am Ziel. Das Volk ist auf unserer Seite. Du hast den Jubel doch gesehen.“ Hilfesuchend blickt Petrus um sich. Einige Köpfe nicken, einige Schultern zucken. Blicke wechseln hin und her.

Jeshua kennt diese Stimme. Sehr genau sogar. Das erste Mal hat er sie in der Wüste gehört. Nach seiner Taufe. Er hatte sie damals nicht gleich erkannt. Aber heute – heute erkennt er sie sofort. „Das Weizenkorn muss sterben, Petrus, sonst bringt es keine Frucht. Alles andere ist menschliches Denken.“

Die Verwirrung ist den Männern in die wettergegerbten Gesichter geschrieben. Das ist nicht der Kampf, den sie kämpfen wollen. Sie wollen Triumph, nicht Tod.

Traurigkeit überkommt Jeshua. Sie verstehen es nicht. Können es nicht verstehen. Noch nicht. Aber die nächsten Jahre werden sie lehren, was das Reich Gottes bedeutet. All ihre Gottesbegeisterung wird zerschlagen werden. Sie werden ausgegossen werden, und sie werden – wie er – so zum Geschenk an die Menschen. Sie werden sich nicht mehr selbst gehören. Sie werden nicht mehr Herren eines „Feldzuges der Wahrheit“ sein, sondern Sklaven des Himmels. Jeder von ihnen wird erneuert werden. Aber jetzt, jetzt glauben sie noch an ihre Kraft. An die Kraft ihres Glaubens. Aber sie werden ihrem Meister in den Zerbruch folgen. In Leib und Leben werden sie verwandelt werden. Brot und Wein. Jetzt wollen sie für die Ausbreitung des Gottesreiches kämpfen. Dann aber werden sie selbst dieses Reich sein.

Jeshua nimmt das Brot. „Nehmet; das ist mein Leib.“ Er reicht es Judas. Erschrocken blickt der Zelot ihn an.

Verwirrung mischt sich in das Dunkel der Kampfeslust seiner Augen. „Nimm, Judas. Es muss sein.“

Das Schweigen hat den Rausch der Begeisterung unter sich erdrückt.

„ Freunde - “, er lässt die Mazza sinken. „wann wollt ihr endlich verstehen: Ich bin das lebendige Brot, das eigentliche Manna, das vom Himmel gekommen ist. Und dieses Brot hier“ – er hält die Mazza hoch – „ist mein Fleisch, das ich schon sehr bald geben werde.“

Das ist mein Vermächtnis an sie: Hingabe. Auflösung in Gott. Wiedereinsetzung des Menschen als Mensch. Mehr noch: Vereinigung des Nicht-Vereinbaren. Ich bin nur der Erste von vielen. Pionier der Selbstauflösung. Auch sie werden im Laufe ihres Lebens nicht am Tod ihres Fleisches vorbeikommen.

„Nehmt dies als Zeichen eurer Bestimmung.“

Zögernd nimmt Judas das Stück Mazza aus der Hand des Meisters, isst davon. Einer nach dem anderen steckt es sich zaghaft in den Mund. Und in der Stille ist nichts zu vernehmen als das Knacken des Feuers und des dünnen Brotes beim Kauen.

Danach nimmt Jeshua den Kelch mit dem Wein: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“

Vollkommene Stille im Raum. Alle spüren, dass dies ein seltsamer, ein großer Moment ist, und irgendwie macht er ihnen Angst. Sie spüren diffus, dass ab jetzt nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Albrecht Gralle

verworfen

Ich werde ein Bad nehmen. Und danach ein paar Stunden schlafen. Es ist vorbei. Pilatus hat nachgegeben. Jeshua, der Gotteslästerer, der Durcheinanderbringer, wird gekreuzigt. Endlich! Ein Albtraum geht zu Ende.

Es klopft. Ich will meinen Sklaven zurückhalten, damit er keinem Fremden öffnet, weil ich keine Kraft zu neuen Auseinandersetzungen habe, aber er ist schon an der Tür.

Ich höre eine Männerstimme und erkenne den tiefen Bass von Jitzhak, meinem Freund aus Cäsarea. Nun gut, Jitzhak kann ich noch ertragen.

Er scheint erregt zu sein, und ich lasse eine Karaffe mit verdünntem Wein, eine Schale mit Datteln, gedörrten Lammstreifen und einer Soße aus gewürztem Olivenöl kommen.

Es ist sonst nicht Jitzhaks Art, mit der Tür ins Haus zu fallen, aber nach dem ersten Schluck bricht es schon aus ihm heraus: „Wie ich gehört habe, ist der Prophet zur Kreuzigung verurteilt worden!“

„Natürlich!“, sage ich. „Schließlich ist er ein Gotteslästerer!“

„Aber warum? Was hat er denn gesagt?“

„Jitzhak, ich weiß, du hast immer Sympathien für den Galiläer gehabt, aber was zu viel ist, ist zu viel. Er hat sich doch tatsächlich heute Nacht mit dem Menschensohn aus dem Buch Daniel identifiziert, mit diesem endzeitlichen Richter, der mit den Wolken des Himmels kommen soll. Das können wir nicht dulden! Auch wenn ich als Sadduzäer die Propheten für nicht so bedeutend halte, ist es eine Anmaßung.“

„Und wenn er nun wirklich der Messias ist, Kajafas? Wenn er tatsächlich eines Tages in der Lichtwolke erscheinen wird, was dann? Hat er nicht Kranke geheilt? Tote auferweckt?“

Ich schüttele den Kopf. „Krankenheilungen, Totenauferweckungen und Exorzismen machen auch andere Wanderrabbis, und der Trick mit dem verfaulten Schafsfleisch im Grab des angeblich toten Lazarus, damit es nach Leiche stinkt, ist leicht zu durchschauen, ein perfektes Spektakel!“

„Hast du ihn einmal reden hören? Jeshua redet schlicht und gleichzeitig tiefsinnig. Das Herz geht dir dabei auf.“

Ich seufze. „Natürlich habe ich Jeshua beobachten lassen und ihn gelegentlich auch heimlich selbst gehört. Zugegeben, er hat eine Rednergabe und spricht sehr anschaulich, obwohl er heute Nacht meistens geschwiegen hat, aber er kann auch seine Feinde mit ein paar Sätzen fertigmachen, so, wie er es mit mir gemacht hat. Inzwischen lachen alle über mich!“

„Er hat sich über dich lustig gemacht?“

Ich spüle die Dattelreste mit einem Schluck Wein hinunter.

„Ich bin erledigt, Jitzhak. Niemand nimmt mich ernst, äußerlich schon, aber sonst …? Ich sage dir: Der Galiläer ist ein einziger Albtraum für mich! Oder er war es.“

„Warum?“

Ich lehne mich vor, innerlich erregt, wenn ich an diese Beleidigungen denke. „Pass auf. Neulich erzählte er die bekannte Geschichte von dem armen Gelehrten aus Aschkalon und dem reichen Steuereintreiber Bar-May‘an, deren Schicksal sich nach dem Tod umdreht. Der Arme befindet sich plötzlich in Abrahams Schoß und der Reiche in der Scheol, wo er leidet.“

„Ja, die Geschichte kenne ich. Stammt sie nicht aus Ägypten?“

„Richtig. Ägyptische Juden haben sie mitgebracht. Aber Jeshua erzählte die bekannte Geschichte ganz anders.“

Ich sehe, wie Jitzhak mit den Schultern zuckt. „Na und? Dir kann das doch gleichgültig sein, du gehörst zu den Sadduzäern, ihr glaubt doch sowieso nicht an ein Leben nach dem Tod.“

„Wart‘s ab … also, Jeshua lässt in seiner Version der Geschichte einen todkranken, unreinen Bettler mit offenen Wunden, der noch dazu von unreinen Tieren abgeleckt wird, vor der Tür eines Reichen ablegen. Sein Name: Lazarus oder Elieser … Hilfe Gottes. Der Reiche bekommt bei Jeshua keinen Namen. Jedenfalls mit einem unreinen Bettler vor der Tür ist der Reiche ruiniert. Welcher fromme Jude wird ihn jetzt noch aufsuchen wollen? Alle haben Angst, dass die Hunde ihre Sandalen berühren. Natürlich wird der Reiche den Armen nicht noch weiter am Leben erhalten wollen, indem er ihm die Abfälle gibt. Du weißt doch, bei unseren Festen wischt man sich manchmal die Fetthände mit Brotfladen ab.“

„Keine gute Sitte. Aber klar, der Reiche hofft, dass der unreine Bettler bald stirbt, damit er diesen Skandal loswird. Warum lässt er ihn nicht entfernen?“

„Keine Ahnung. Aber hör weiter zu: Nun lässt Jeshua in seiner Geschichte die beiden sterben, und sie kommen wie in der bekannten Version an unterschiedliche Orte. Der Reiche bittet Abraham um Linderung und sorgt sich um seine fünf Brüder oder Schwäger, dass sie nicht auch an diesen Ort kommen und …“

„Oh nein!“, ruft Jitzhak aus, „ich begreife deinen Ärger!“

„Ja“, sage ich. „Verstehst du jetzt, warum man über mich lacht?“

Jitzhak nickt: „Ich muss schon sagen: eine geniale Nacherzählung. Jeshua braucht dem Reichen keinen Namen zu geben, weil jeder weiß, dass es genau vier wirklich reiche Familien in Judäa gibt. Und eine davon ist die Sippe deines Schwiegervaters Hannas, und es gibt nur einen, der fünf Schwestern und deshalb fünf Brüder oder Schwäger hat – und das bist du. Er versetzt dich mit seiner Geschichte in das Totenreich, einen Mann, der an die Scheol gar nicht glaubt!“

Jitzhak schüttelt fassungslos den Kopf. „Oh ja, eine echte Provokation!“

„Du kannst dir vorstellen, dass ich getobt habe vor Wut, als man mir die Geschichte hinterbracht hat. Und Jeshua wusste genau, dass man sie mir erzählen würde! Er redet zu mir, ohne dass er mich aufsuchen muss. Indirekt. Seitdem wollte ich ihn nur noch loswerden. Sein Gefasel von dem Liebesgebot, das über allem stehen soll, klingt mir nicht mehr glaubwürdig. Wer einen Mann wie mich so bloßstellt, läuft mit einem großen Hass herum. Ich habe mich gefühlt, als ob ein Dolch durch mein Herz gestoßen würde. Und es war mir eine Genugtuung, als ich mein Gewand zerreißen und mein endgültiges Urteil über ihn sprechen konnte.“

Jitzhak schweigt und versucht mit einem Zahnstocher, die Reste einer Fleischfaser zu entfernen, dann lehnt er sich zurück. „Ich verstehe, dass du wütend bist, Kajafas. Aber einen Menschen zum Tode zu verurteilen, nur weil er dich beleidigt hat?“

„Oh nein“, sage ich, „das war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich bin schließlich der Hohepriester, der für das Wohl eines ganzen Volkes zuständig ist. Wir sind ein besetztes Land. Und so ein Naivling wie Jeshua gefährdet das delikate Machtverhältnis zwischen uns und Rom. Nein, nein, dieser Mann muss weg, und ich bin erleichtert, dass die Entscheidung gefallen ist.“

Ich blicke meinem Freund in die Augen: „Fast bin ich froh, dass er mich provoziert hat, so fiel es mir leichter, mein Urteil zu fällen.“

Jitzhak sagt nichts und trinkt nachdenklich einen Schluck. „Nur mal angenommen, Kajafas“, beginnt er. „Nur mal angenommen, es gibt tatsächlich ein Leben nach dem Tod …“

Ich will schon ärgerlich aufspringen, aber Jitzhak hebt beruhigend seine Hände. „Nur ein Gedankenexperiment. Angenommen, du gelangst nach dem Tod in das Totenreich und merkst: Ich habe unseren eigenen Messias den Römern zur Kreuzigung ausgeliefert. Was für ein Urteil erwartet dich dann? Könnte es nicht sein, dass diese kleine Geschichte, die dich so aufregt, gar nicht dazu bestimmt war, dich zu demütigen?“

„Sondern?“

„Vielleicht war sie eine persönliche Botschaft an dich.“

„Oh ja, die persönliche Botschaft habe ich verstanden: Ich werde dich vor aller Welt blamieren! Und: Sie haben Mose und die Propheten, lässt Jeshua Abraham sagen. Mit anderen Worten: Lieber Kajafas, nimm die Botschaft der Propheten ernst, nicht nur die fünf Bücher Mose. Ihr Sadduzäer seid engstirnig! Ja, das könnte die persönliche Botschaft an mich gewesen sein.“

„Vergiss deine Wut, Kajafas! Nimm doch nur mal an, Jeshua hätte mit allem recht gehabt, er wäre der von Gott gesandte Messias, dann könnte selbst die Kreuzigung nichts daran ändern. Seit gestern gehen mir die Stellen bei Jesaja nicht mehr aus dem Kopf, die von einem geschlagenen Gottesknecht handeln … Und jetzt, nachdem ich weiß, dass er leiden wird, erst recht. Du weißt vermutlich, es gibt Schulen, die den Gottesknecht bei Jesaja mit unserem Messias gleichsetzen.“

Ich bin verblüfft. Wie kann man diese Stellen, die ich zwar kenne, aber nicht anerkenne, mit Jeshua in Verbindung bringen? Wieder ein Beweis, dass die Prophetenbücher einen nur verwirren.

Jitzhak fährt fort: „Ist diese Geschichte mit dem reichen Mann in der Scheol nicht eine Hoffnungsgeschichte?“

„Warum?“

„Hast du nicht erzählt, dass in der Version von Jeshua der Reiche im Totenreich mit seinen fünf Brüdern Mitleid bekommt und ihnen sagen will: Ändert euch, bevor es zu spät ist?“

„Hm. Ja.“

„Die persönliche Botschaft dieser Geschichte an dich könnte auch lauten: Kajafas, fang doch jetzt schon an, dein Leben zu ändern und die Menschen zu lieben, damit Abraham dich nach dem Tod in seine Nähe einlädt?“

„Ach ja? Mich, der ich angeblich den Messias der Kreuzigung ausgeliefert habe?“

„Hat Jeshua nicht immer wieder zur Umkehr aufgerufen?“

„Jitzhak! Ich kann jetzt nicht mehr zurück!“ Wir schweigen, aber dann sage ich: „Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich soll das, was ich jahrzehntelang geglaubt habe oder nicht geglaubt habe, aufgeben? Sollen denn Freud und Leid unendlich wiederholt werden in einer anderen Welt? Nein, ich finde es angemessen, wenn nach dem Tod die Vorstellung zu Ende ist. Eine Umkehr, wie du sie von mir verlangst … dazu fehlt mir die Kraft.“

Jitzhak hebt wie zur Abwehr die Hände. „Ich verlange das ja nicht von dir, es ist Jeshua, der dir diese Nachricht sendet.“

Ich werde ärgerlich. „Bist du seit neuestem ein Schüler dieses Gotteslästerers?“

„Du weißt doch, ich habe eine Schwäche für ihn, mein Freund Nikodemus hat mir viel von ihm erzählt und …“

„Auch so ein heimlicher Anhänger.“

Jitzhak steht auf. „Ich sehe, du bist erschöpft. Ruhe dich aus. Überdenke noch mal alles!“

Ich begleite ihn zur Tür, wir verabschieden uns.

„Karim!“, rufe ich meinem syrischen Sklaven zu, „bereite mir ein Bad!“

Es dauert immer etwas, bis das Wasser heiß gemacht wird, aber schließlich kann ich in mein gekacheltes Bassin steigen. Herrlich entspannend. Ich bin Gott dankbar, dass ich diesen Luxus habe. Die Verantwortung ist manchmal anstrengend.

Während ich so daliege, geht mir das Gespräch mit Jitzhak nicht mehr aus dem Kopf:

Nur mal angenommen, Jeshua hätte mit allem, was er sagte und tat, recht gehabt … Nur mal angenommen, es gibt nach dem Tod tatsächlich ein Weiterleben …

Diese Gedanken sind beunruhigend. Wenn das stimmt, dann hätte ich alles falsch gemacht. Aber jetzt mal ehrlich: Kann jemand, der zum Hohepriester gewählt und von Gott bestätigt wurde, mit allem, was er sagt und tut, völlig falschliegen? Würde Gott nicht selbst darauf achten, dass sein Diener das Richtige tut?

Das ist mein einziger Trost.

Ich merke, wie ich müde werde, und rufe nach Karim.

Während er mich abtrocknet und mir frische Kleider bringt, sagt er: „Vorhin hörte ich Geräusche draußen. Als ich hinausging, sah ich einen Bettler mit offenen Wunden vor deiner Tür liegen. Ein durch und durch abstoßender und unreiner Bursche. Was soll ich mit ihm machen?“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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