Handbuch Jüdische Studien

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Der Status der Gelehrten von Jabne legt noch eine dritte Erklärung für den Wandel zur Matrilinearität nahe. Micha Brumlik vertritt die Ansicht, dass er auch mit der Entmachtung der traditionellen Priesterschaft zusammenhing. Schon in den 200 Jahren vor dem Beginn der Diaspora war mit den Pharisäern eine neue Elite von Gelehrten herangewachsen, die in Jerusalem mit dem Hohepriester, den Kohanim und den Leviten um die Macht konkurrierten. Aus dieser Schicht rekrutierte sich ein Gutteil der Rabbinen von Jabne. Nach der Einführung der Matrilinearität wurden die geistlichen Ämter zwar weiterhin in männlicher Linie vererbt, doch es verband sich damit keine Macht mehr. „Von der einstigen Macht der Kohanim blieb im rabbinischen Judentum nicht mehr übrig als das Privileg, als erste zur Tora aufgerufen zu werden. Damit wurde auch die judäische Kastengesellschaft in eine meritokratische, d. h. in eine auf dem Verdienst des Lernens beruhende Gelehrtenrepublik umgewandelt.“

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 Diese Erklärung leuchtet ein, zudem sie typisch ist für den Aufstieg neuer Bildungsschichten in alphabetischen Gesellschaften. In Griechenland stellte der Aufstieg der Sophisten ein ganz ähnliches, „auf dem Verdienst des Lernens“ beruhendes Phänomen dar. Ausschlaggebend für das Prinzip der Matrilinearität dürfte jedoch die Frage des Zusammenhalts der Gemeinschaft in der Diaspora gewesen sein.



Auf der einen Seite kanonisierte diese neue geistige und geistliche Elite die jüdische Bibel, auf der anderen schuf sie die Grundlage für einen zweiten heiligen Text, den Talmud mit seinen Diskussionsbeiträgen, Geboten und Verboten, Interpretationen und Kommentaren. Dieser wurde zur Basis der Halacha, dem neuen Verhaltenskodex, der die Gesetze der Tora ergänzte oder auslegte. Daneben entwickelten sie auch neue Formen des Gottesdienstes, die zu Hause oder in der Synagoge stattfinden konnten, um den Tempelkult zu ersetzen. Die einzelnen jüdischen Gemeinden gewannen an Autonomie: Die einzige Voraussetzung für einen Gottesdienst war die Anwesenheit von zehn jüdischen Männern. Tatsächlich lebten Juden schon bald in unterschiedlichen Sprachgebieten und Kulturen und integrierten einige der fremden Traditionen in die eigene. Erst nach der Erfindung des Buchdrucks gab es mit dem Schulchan aruch („Gedeckter Tisch“) des Josef Karo (1488–1575) und den ergänzenden Kommentaren von Moses Isserles den Versuch, einen einheitlichen jüdischen Kodex zu erstellen (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka,

S. 227

). Das Buch wurde 1565 in Venedig gedruckt.



Das Lehrhaus von Jabne wurde zur Keimzelle eines neuen normativen Judentums, das sich in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten herausbildete. Zwar bestand das angesehene und erbliche Patriarchat von Jerusalem noch über fast vier Jahrhunderte, doch es hatte immer weniger Gewicht und erlosch endgültig im Jahr 429, als es durch das römische Gesetz beendet wurde. „Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand ein neues, potentiell konkurrierendes Objekt der kollektiven Identifikation“,

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 das das in Jabne entstandene Konzept des „portativen Vaterlands“ – als heiliger Text und als „Heimatboden“ im mütterlichen Leib – ablöste oder ergänzte (je nach Perspektive).



Die Beschneidung



Das römische Privileg zur Einführung der Matrilinearität „erscheint als Gegenstück zu der Erlaubnis, die Beschneidung an jüdischen Jungen vorzunehmen, die die Juden um 150 unserer Zeitrechnung durch das Reskript des Antoninus Pius erhielten“, schreibt Modrzejewski.

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 Dies waren die beiden großen Konzessionen des Römischen Reichs an die „jüdische Identität“. Die Beschneidung widersprach dem römischen Denken noch mehr als die Matrilinearität. Das hing einerseits mit der Rolle zusammen, die sie für die jüdische Zusammengehörigkeit (und die damit einhergehende jüdische Autonomie) hatte, andererseits aber auch mit deren vielschichtiger Symbolik: Die Beschneidung wurde, manchmal explizit, mit der Kastration gleichgesetzt – ein Eingriff, der in einer patriarchalen und patrilinearen Gesellschaft als Verbrechen galt. Das jüdische Recht auf Beschneidung folgte ganz offenbar einer anderen Vorstellung von Männlichkeit. Es hing nicht unmittelbar mit dem Prinzip der matrilinearen Abstammung zusammen, aber wurde gerade in der Diaspora zum zweiten leiblichen Distinktionsmerkmal.



Bevor auf die Auseinandersetzungen um die Beschneidung in Griechenland und Rom einzugehen ist, noch einige allgemeine Bemerkungen zur Symbolik dieses Ritus. Bei den (zum Teil heftigen und polemisch geführten) Debatten in Deutschland stand die Frage der Religion im Mittelpunkt. Faktisch ist der Ritus der Beschneidung aber viel älter als die jüdische Religion, geschweige denn als der Islam. Ägyptische Darstellungen zeigen, dass die Beschneidung schon vor ca. 4500 Jahren praktiziert wurde, d. h., der Ritus existierte schon mindestens 1500 Jahre, bevor von Monotheismus und Judentum die Rede sein kann. In einer späteren Zeit wurde sie zu einem Privileg ägyptischer Priester, als welche sie dann auch im griechischen und römischen Ägypten erhalten blieb.



Heute sind weltweit – die Zahlen schwanken – ca. drei von 20 Männern beschnitten. Aber nur bei den Juden ist der Eingriff religiöse Vorschrift (Gen 17,10–14; Lev 12,3). Bei Muslimen entspricht er keinem zwingenden Gebot, ist aber sozial erwünscht. Auch in den USA und England ist eine Mehrheit der Jungen beschnitten (jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft), weshalb in Amerika und Großbritannien wie auch in Frankreich die deutsche Diskussion auf Unverständnis stößt. Die Begründungen, die die Befürworter der Beschneidung anführen, sind sehr unterschiedlich. Man kann rund zehn solcher Begründungen ausmachen, von denen einige aus dem Denken in Stammesgesellschaft kommen, andere einen religiösen Hintergrund haben und wieder andere den Ansprüchen einer modernen Wissenschaft und Psychologie geschuldet sind.



1.Durch die Beschneidung werde der Unterschied zwischen Männern und Frauen betont.



2.Die sexuelle Potenz und Fruchtbarkeit des Mannes werde durch die Beschneidung gesteigert. (In Rom und Griechenland galt die Beschneidung dagegen eher als Symbol der Entmannung.)



3.Eine psychologische Begründung lautet, dass durch die Beschneidung die Trennung des Sohnes von der Mutter vollzogen werde. Indem der Vater dafür sorgt, dass der Sohn beschnitten wird, werde eine männliche Linie etabliert, die von Vater zu Sohn weitergegeben wird. Dass diese Begründung weder in Rom noch in Griechenland herangezogen wurde, kann als Beleg dafür gelten, dass die „Patrilinearität“ in diesem Fall auf einem anderen Konzept von männlicher Linie beruhen muss.



4.In Gesellschaften, in denen die Beschneidung majoritär ist, kommt eine weitere psychologische Begründung dazu: das Bedürfnis, nicht anders auszusehen als andere Männer/Jungen.



5.In den modernen säkularen Gesellschaften wird die Beschneidung oft mit Hygiene begründet, was als Versuch zu lesen ist, sie in einen „aufgeklärten“ Kontext zu überführen (siehe hierzu auch den Beitrag von Werner Treß,

S. 335

).



6.Im Islam signalisiert die Beschneidung vornehmlich Zugehörigkeit zum Clan, zur Familie oder zur Volksgemeinschaft.



7.Im Kampf gegen den Kolonialismus symbolisierte die Beschneidung auch die Abgrenzung gegen den kolonialen Eroberer und wurde zum Symbol für nationale oder kulturelle Autonomie. Das galt vor allem für den arabischen Raum.



8.Das Judentum war die einzige Gemeinschaft, die der Beschneidung eine religiöse Bedeutung zuwies: Sie wurde zu dem Symbol des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel. Angesichts der Nähe von Religion und Recht war sie also auch Zeichen der Volkszugehörigkeit. In der Bibel taucht sie zuerst als ein Ritual der Vorbereitung auf die Hochzeit auf (Gen 34,14–24; Ex 4,24–26), und sie bezieht alle Männer des Hauses ein, auch Sklaven, gleichgültig, ob sie dem Judentum angehören oder aus einer anderen Kultur stammen. Während des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. u. Z. wurde die Beschneidung religiös „kanonisiert“. Dass dies ausgerechnet im Exil geschah, deutet darauf hin, dass sie – wie später die Matrilinearität – unter Juden auch als Erkennungszeichen dienen sollte.



9.Der durch die Beschneidung symbolisierte Einschnitt in den männlichen Körper wird manchmal auch als Teil eines Opferaktes verstanden, der der Gewährung von Fruchtbarkeit – geistiger wie leiblicher Fruchtbarkeit – vorausgeht. In den Erzählungen der Bibel ist von der Beschneidung zum ersten Mal im Zusammenhang mit der (verhinderten) Opferung Isaaks die Rede (Ex 13,13). In dieser Erzählung ersetzt ein Opfertier den Sohn. Erst auf der Basis einer solchen Opferbereitschaft segnet Gott die Fruchtbarkeit und verspricht Abraham, dass sich sein Samen im Land Kanaan vermehren wird.

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10.Auch das Christentum eignete sich die Symbolik der Beschneidung an, lenkte den Sinn allerdings auf das Opfer der Passionsgeschichte Christi. Wenn Paulus von der „Beschneidung des Herzens“ sprach (Rom 2,25–29) und damit die Reinheit von Seele und Geist meinte, so griff er damit noch eine Analogie des beschnittenen Glieds mit dem beschnittenen Herz auf, von der schon bei Jeremia (Jer 4,4) die Rede war. Wenn jedoch der Heilige Ambrosius (339–397) in der Beschneidung Jesu den Beginn der Passionsgeschichte sah, so war damit eine Christianisierung des Ritus verbunden. In einem ähnlichen Sinne bezeichnete auch der englische Benediktinermönch Beda (673–735) die Beschneidung als Vorwegnahme der endgültigen Reinigung „von allen Flecken der Sterblichkeit“. Wir freuen uns, so verkündete er, auf „unsere wahre und völlige Beschneidung, wenn am Tag des Jüngsten Gerichts alle Seelen die Verderbnis des Fleisches überwunden haben“.

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Die Debatten in der Antike um die Beschneidung haben einige Ähnlichkeiten mit den heutigen in Deutschland: Damals wie heute ging es um die Frage der Verletzung des Körpers. Die antike Ablehnung der Beschneidung nahm in dem Maße zu, in dem sich der Hellenismus als Kultur und das Römische Reich als Staat etablierten. Die Griechen wussten – vor allem durch Herodot (5. Jahrhundert v. u. Z.) – vom Ritus der Beschneidung bei „anderen Völkern“. Herodot, der sich kaum eine Chance entgehen ließ, die Überlegenheit der Griechen gegenüber anderen Völkern hervorzuheben, sah darin einen barbarischen Brauch, der allenfalls mit der „Hygiene“ zu erklären sei. Er verwechselte Reinheit (die in der Religion auf das Sakrale verweist) mit Hygiene (Sauberkeit).

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 Einige Völker, so etwa die Phönizier, schreibt Herodot, übernahmen den Brauch zunächst von den „Syrern aus Palästina“ (womit er die Juden meinte), gaben ihn aber auf, als sie mit der höheren Kultur der Griechen in Kontakt kamen.



Als sich mit den makkabäischen Unruhen der Konflikt zwischen Hellenismus und Judentum zuspitzte, gab ein Teil der Juden die Beschneidung auf, manche verbargen sogar das beschnittene Glied mit Hilfe falscher Vorhäute, bis diese Praxis verboten wurde. In den Jahrzehnten vor der Zerstörung des Tempels, zur Zeit des griechischen Geschichtsschreibers Strabo (63 v. u. Z.–23 u. Z.) verschärfte sich die Ablehnung der Beschneidung; sie wurde nun explizit mit der Kastration verglichen – ein Vergleich, der von römischen Schriftstellern wie Tacitus aufgegriffen und in eine allgemeine antijüdische Polemik überführt wurde.

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Nach der Zerstörung des Tempels mussten die Weisen von Jabne um das Recht auf Beschneidung kämpfen. Es wurde ihnen von Rom schließlich unter der Bedingung eingeräumt, dass ausschließlich die eigenen Söhne – aber weder Sklaven noch Konvertiten – davon betroffen seien. Auch der Priesterschaft in der römischen Provinz Ägypten, die die Beschneidung praktizierte, bereitete Rom Schwierigkeiten. Ab dem 2. Jahrhundert wurde der Ritus unter die Aufsicht der römischen Autorität gestellt, die willkürlich vorging: Ein kaiserlicher Prokurator, der die religiösen Kultgemeinschaften kontrollieren sollte, erteilte die Genehmigung – oder auch nicht. Es kam zu aufwendigen Verfahren, weil es sich um eine „Ausnahme von einer reichsweiten gesetzlichen Bestimmung“ handelte, mit der die zunehmende Praxis der Kastration von Sklaven bekämpft werden sollte. Unter Nerva im Jahr 97 erging ein Senatsbeschluss:



Er drohte die Konfiszierung der Hälfte des Vermögens einer Person an, die einen Sklaven der Kastration ausliefert. Ebenfalls durch einen Senatsbeschluß, der wohl unter Trajan gefaßt wurde, erhöhte man die Strafe für Kastration auf Deportation und gleichzeitig komplette Konfiszierung des Vermögens. Dies stützte sich auf die lex Cornelia de sicariis et ueneficiis, ein altes Gesetz von Sulla (81 vor unserer Zeitrechnung), das Mord und Vergiftung unter Strafe stellte und bis in die Zeit von Justinian in Kraft blieb.

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Unter Kaiser Hadrian (76–138) wurde das Verbot nochmals verschärft: Chirurgen, die den Eingriff vornahmen, und Personen, die sich dazu bereit erklärten, drohte die Todesstrafe. In dem hadrianischen Edikt wurde zur Bezeichnung der Kastration der Begriff excidere (ausschneiden, abschneiden) verwendet. Da dieser Begriff auch auf die Beschneidung Anwendung fand, war diese nun auch vom Gesetz betroffen. „Das Recht schrieb so die Verwechslung fest, die bezüglich der ‚genitalen Manipulationen‘ in den Köpfen herrschte und die sich bei den griechischen und römischen Autoren widerspiegelt.“

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Die Proteste gegen das Gesetz führten schließlich zu Ausnahmeregelungen, die zunächst den ägyptischen Priestern (um 120), später auch den Juden zugestanden wurden. Modrzejewski weist zu Recht darauf hin, dass das Edikt des Hadrian nicht zwingend in Verbindung gebracht werden kann mit dem Kampf gegen die jüdische Selbstbestimmung: Es wurde mehr als eine Dekade vor dem Bar-Kochba Aufstand (132–135) erlassen. Doch das Gesetz trug dazu bei, die Vorurteile gegen die Juden zu schüren, indem es die Verwechslung von Beschneidung und Kastration beförderte. Unterschwellig griff es damit auch schon einen Gedanken auf, der später sowohl im christlichen Antijudaismus als auch im rassistischen Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen sollte: der Gedanke, dass die Andersheit der Juden „irgendwie im genitalen Bereich“ zu verorten sei.

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 Diese Vorstellung war wiederum geprägt von der Wahrnehmung, dass Begriffe wie Vater und Mutter – und damit einhergehend die Blutslinie – im Judentum eine andere Bedeutung hatten, als dies für Griechenland, Rom und das Christentum der Fall war. Indem die jüdische Gemeinde das Prinzip der Matrilinearität einführte, bestätigte sie, dass ihrer „Andersheit“ auch geschlechtliche Codes zugrunde lagen. Ihr selbst ging es aber um das Überleben der Gemeinschaft: Für Juden ergänzte die Entscheidung zur Matrilinearität das Zeichen der Beschneidung – auf symbolisch-religiöser wie auf historischer Ebene.



Die Entscheidung zur Matrilinearität war auch aus anderen historischen Gründen überlebenswichtig, und hier zeigte sich deutlich der Zusammenhang zur Beschneidung. Während der Kriege gegen die Römer waren viele jüdische Frauen vergewaltigt worden; ihre Kinder mussten in geordneter Weise ins Judentum überführt werden. Zugleich gab es einen dramatischen Männermangel; viele Witwen und unverheiratete Frauen blieben unversorgt. Dieses Problem hätte zwar vorübergehend durch Polygynie, wie sie auch schon die Einrichtung der levitischen Ehe vorsah, behoben werden können. Aber dagegen sträubten sich die Juden im Römischen Reich. So gab es nur die Möglichkeit, fremde Männer in die Gemeinschaft aufzunehmen. Vorher wurden, wie oben beschrieben, nichtjüdische Frauen zu Jüdinnen, indem sie einen Juden heirateten. Seit dem 2. Jahrhundert v. u. Z. gab es auch ein Reglement, das es Männern erlaubte, bei der Heirat mit einer Jüdin zum Judentum zu konvertieren. Es funktionierte „wie eine Art ‚Einbürgerung‘“.

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 Die Konversion setzte aber zwingend die Beschneidung voraus, und durch die Ergänzungen des hadrianischen Edikts, die die Beschneidung für jüdisch geborene Söhne, nicht jedoch für Konvertiten zuließen, stand diese unter schwerer Strafe. In dieser demographischen Situation, die das faktische Verschwinden des Judentums impliziert hätte, blieb den Rabbinen also kaum eine andere Wahl, als die mütterliche Abstammungslinie einzuführen.

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 Wäre aber alleine diese historische Situation der Grund für die Einführung der Matrilinearität gewesen, dann hätte sie nach einigen Generationen wieder verworfen werden können. Da dies nicht der Fall war, ist davon auszugehen, dass die Matrilinearität auch weiterhin eine wichtige Funktion für das Überleben der Gemeinde spielte – und der Grund dafür war zweifellos das Aufkommen des Christentums.



Judentum und Christentum: Aneignungen, Abgrenzungen



Die lange Geschichte des Antijudaismus, des rassistischen Antisemitismus und vor allem die Shoah (siehe hierzu auch den Beitrag von Stefanie Schüler-Springorum,

S. 363

) erzwingen heute, den Blick auf die Unterschiede zwischen „jüdisch“ und „christlich“ zu richten. Doch für die ersten Jahrhunderte waren diese nicht evident. Christentum und rabbinisches Judentum entstanden fast zeitgleich, sie entwickelten sich nebeneinander – oft in Abgrenzung gegeneinander, manchmal aber auch unter Übernahme von Gedankengut aus der anderen Religion. Je mehr die christliche Religion Zulauf hatte, je mehr sie sich mit Staat und weltlicher Macht verband, je mehr sie also über ein eigenes Territorium verfügte, desto schärfer wurde die Ablehnung des Judentums formuliert. Das Christentum tat sich schwer mit der Tatsache, dass sich sowohl die Heilige Schrift als auch die jüdisch-rabbinischen Lehren auf eine explizit jüdische Religion bezogen. Die Kirche berief sich zwar auf denselben heiligen Text, musste diesen jedoch im Sinne der eigenen Religion umdeuten, um den „alten Bund“ zwischen Gott und Israel zum Vorläufer des „neuen Bundes“ erklären zu können. Ein Beispiel für eine solche Umdeutung: Das in Exodus formulierte Konzept, dass Gott „inmitten Israel wohnt“ wurde von Paulus fast wörtlich aufgegriffen und auf die christliche Gemeinde übertragen: „Wißt ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes vernichtet, den wird Gott vernichten; denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.“

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 Ähnlich auch in der Johannes-Offenbarung. Im Abschnitt „Das himmlische Jerusalem“ wird ebenfalls das Exodus-Bild christlich umformuliert. „Siehe, das Zelt Gottes unter den Menschen. Und er wird bei ihnen sein Zelt aufschlagen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.“

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 Trotz – oder vielleicht wegen – solcher Aneignungen gab es eine tiefe Verunsicherung im Christentum: Die Tatsache, dass der Großteil der antijuadistischen Texte formuliert wurde, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, zeigt deutlich, dass nicht einmal die Tatsache, majoritär zu sein, der christlichen Religion die Sicherheit der eigenen Überlegenheit verschaffte. Auch die zentrale Heilsbotschaft des Christentums, die Vergöttlichung Jesu, wurde erst im 3. Jahrhundert ausformuliert. Das Judentum dagegen musste sich neu ausrichten.



Das Judentum in seiner heutigen Gestalt ist eine vergleichsweise junge Religion, die ihre definitive Gestalt im frühen 3. Jh. in Abgrenzung und gegen verschiedene Gruppen von Jesusanhängern und Gnostikern, in Auseinandersetzung und Übereinstimmung mit dem römischen Imperium und: nicht zuletzt unter dem Einfluss der griechischen Philosophie gewonnen hat; ein in die Sprache des biblischen Glaubens gekleidetes System von ethisch gebundenen Lebensregeln, das sich in seinem menschheitlichen Universalismus von der stoischen Philosophie kaum unterscheidet, aber aufgrund bitterer historischer Erfahrungen einem politischen Quietismus anhängt und gleichwohl – anders als das Christentum nach Augustus – nicht bereit war, die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen preiszugeben.

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Kurz, beide Religionen entwickelten ihre Lehrgebäude in Abhängigkeit von und in Ablehnung gegeneinander. Bei der jüdischen Abgrenzung gegen das Christentum hatten Zugehörigkeitsmerkmale wie Beschneidung und Matrilinearität eine wichtige Funktion.



Die ersten Christen kamen einerseits aus den Traditionen des Judentums, traten andererseits aber auch die Erbschaft von Griechenland und Rom an. Letztere, die heidnischen Christen, brachten die Ablehnung der Beschneidung mit. Anders als die Judenchristen drängten sie auf eine Hellenisierung des Judentums. Paulus kam ihnen entgegen: Er wollte die Beschneidung durch die Askese ersetzen. „So sind wir also, Brüder, dem Fleisch nicht schuldig, daß wir fleischlich leben. Denn wenn ihr fleischlich lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber mit dem Geist die Werke des Fleisches tötet, werdet ihr leben.“

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 Da die Beschneidung Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel war, ließ die paulinische Aufkündigung der Beschneidung erkennen, dass man hier um einen neuen Gottesglauben, wenn nicht gar um einen neuen Gott rang. Gewiss, den Christen heidnischer Herkunft erleichterte der Verzicht auf die Beschneidung den Anschluss an die Gemeinde.

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 Doch Paulus, der auch den Judenchristen entgegenkommen wollte, erklärte, dass Christus einen „neue(n) Bund in meinem Blute“ geschlossen hat.

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 Wir Christen, so schreibt er, „sind die Beschneidung“.

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 Mit dieser neuen Auslegung der Beschneidung wird die Beschneidung durch das Selbstopfer Christi ersetzt; dieses sollte fortan alle anderen Formen des Opfers ersetzen.

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 Mit anderen Worten: Nicht nur implizierte der christliche Verzicht auf die Beschneidung eine völlig neue Gottesvorstellung, sondern es wurde hier auch ein Gott angerufen, der sich selbst, in Gestalt seines Sohnes, für das Opfer einbringt, das in der jüdischen Religion vom Menschen erbracht werden muss. Im Christentum kann der Gläubige allenfalls dadurch seinen Anteil am Opfer erbringen, dass er sich ganz dem Herrn verschreibt. „Die Gabe des Gläubigen ist zuerst die Gabe seiner selbst durch den Glauben, die Geste absoluten Vertrauens.“

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Die Beschneidung wurde zu einem wichtigen Referenzpunkt der Spaltung zwischen den zwei Religionen: Beide bezogen sich auf den „Bund mit Gott“, doch auf sehr unterschiedliche Weise, was sie in einen unauflöslichen Auslegungskonflikt brachte. Das römische Gesetz verstärkte die Spaltung. „Indem es die Beschneidung für unzulässig erklärte, hat das römische Recht machtvoll dazu beigetragen, den Prozess der Loslösung der Anhänger des Jesus von Nazareth aus ihrem ursprünglich jüdischen Milieu, der schon in der Mitte des ersten Jahrhunderts begonnen hatte, zum Abschluß zu bringen.“

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 Mit der Ablehnung der Beschneidung übernahm das Christentum auch diese Erbschaft – neben Schriftsystem und Patrilinearität – von Hellenismus und Rom. Sie erweiterte die christlich-jüdische Spaltung um eine politische Dimension. Die Konflikte zwischen Rom und dem jüdischen Volk hatten vor allem darauf beruht, dass die religiösen Bestimmungen des Judentums zugleich einen Rechtskodex darstellten, mithin die Basis einer politischen Gemeinschaft bildeten. An sich gewährte das Römische Reich Religionsfreiheit; unter seinem Dach fanden sich auch viele unterschiedliche religiöse Strömungen wieder. Doch im Fall des Judentums implizierte religiöse Autonomie auch politische Selbstbestimmung, und die war schwer vereinbar mit den Ansprüchen römischer Herrschaft. Matrilinearität und Beschneidung verstärkten diese Differenz.

 



In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums konkurrierten Judentum und Christentum um die religiöse Definitionsmacht. Dabei wurden auch viele Lehren in Anlehnung an die andere Religionsgemeinschaft entwickelt. Während dies für die christliche Seite schon länger anerkannt wurde, zeigt erst die neuere Forschung, wie sehr auch die Neudefinition des Judentums unter dem Einfluss des frühen Christentums stand. Beginnend in Jabne, dem ersten Ort rabbinischer Gelehrsamkeit, zogen jüdische Gelehrte klare Grenzlinien gegen das aufkommende Christentum. Einige unter ihnen – darunter hochrangige – sympathisierten aber auch mit den Jesusanhängern. Die traditionelle Metapher einer Mutter-Tochter-Religion zur Beschreibung von Judentum und Christentum sei vollkommen unsinnig, schreibt David Biale. Es handle sich eher um Zwillinge. „Man könnte die Metapher sogar erweitern und von identischen Zwillingen sprechen: ein Embryo, das sich später geteilt hat.“

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 Andere bestreiten sogar die Spaltung und sprechen von „the ways that never parted“.

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 Dagegen sieht Micha Brumlik im Christentum „ein älteres Geschwister“ des Judentums, eine „Ausformung des biblischen Glaubens, die das rabbinische Judentum in seiner heutigen Form provozierte“.

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 Das rabbinische Judentum sei jünger als das paulinische Christentum und stelle zugleich eine Protestaktion dagegen dar.

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 Biale nennt die Mischna und andere Texte des rabbinischen Judentums ein „Zweites Testament“,

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 weist zugleich aber auch darauf hin, dass die Polarisierung zwischen Christentum und Judentum zu einer „Rejudaisierung“ Palästinas führte.

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 In dieser Lesart werden das Neue Testament und der Talmud zu zwei miteinander konkurrierenden „Kommentaren“. In den Worten von Heinz-Günther Schöttler: „Beide – Juden und Christen – hören die gleiche ‚Ur-Kunde‘ des Einen Gottes: die als Tanach rezipierte Bibel Israels, verbunden mit Mischna und Talmud als Kommentar, bzw. die als Altes Testament rezipierte Bibel Israels, verbunden mit dem Neuen Testament als Kommentar.“

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Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Arten der Exegese ergab sich durch die Art der Verschriftung. Sowohl die Evangelien als auch die rabbinischen Texte haben zunächst orale Form. Doch während im Christentum, nach dogmatischen Kämpfen, die Befürworter einer geschriebenen Fassung den Sieg davontrugen, entwickelte das rabbinische Judentum eine Form von Verschriftung, in der die Eigenschaften der Oralität erhalten blieben (siehe hierzu auch die Beiträge von Elisa Klapheck,

S. 81

 und Stefan Schreiner,

S. 147

). Erst ab dem 4. Jahrhundert, als sich diese unterschiedlichen Formen der Verschriftung und Exegese etabliert hatten, kann von zwei getrennten Religionen die Rede sein. Damals war „einerseits das Christentum die hegemoniale Macht des römischen Imperiums geworden und die christliche ‚Orthodoxie‘ entstanden“; andererseits hatte sich das rabbinische Judentum gefestigt und trat nun „mit seiner eigenen Orthodoxie und Hegemonie“ hervor

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 (siehe hierzu auch den Beitrag von Joachim Valentin,

S. 125

).



Auch andere Judaisten und Historiker betonen, es sei nicht mehr möglich, „das Judentum ohne Christentum zu denken“.

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 Israel Yuval schreibt: „Wo immer Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Christentum zu beobachten sind, dürfte es sich um christlichen Einfluss auf das Judentum handeln und nicht umgekehrt, es sei denn, die jüdischen Wurzeln des betreffenden Phänomens liegen nachweislich früher als die christlichen.“

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 Michael Hilton, ein an der Universität Manchester lehrender Rabbiner, zögert nicht, das rabbinische Judentum sogar als „Tochterreligion des Christentums“ zu definieren.

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 (Offenbar fällt es schwer, das Verhältnis der beiden Religionen anders als in Verwandtschaftsmetaphern zu denken!) Auch Peter Schäfer weist auf viele Parallelen zwischen christlichen und jüdischen Messias-Vorstellungen hin.

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 Wie kommt es dann, fragt Olmer, „dass die Unterschiede zwischen aschkenasischem und nordafrikanischem oder babylonischem Judentum so relativ gering sind“?

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 Yuvals Antwort: Der christliche Einfluss auf das Judentum begann eben nicht erst im Mittelalter, als die Kirche fest etabliert war. Vielmehr trat bereits das judäische wie auch das babylonische Judentum die Erbschaft einer kulturellen Tradition an. In beiden Fällen kam es zu einer Ablehnung der christlichen Antwort auf die Krise, die die Tempelzerstörung ausgelöst hatte.



Am Anfang ging es den rabbinischen Gelehrten vor allem um die Abgrenzung gegen die jüdischen Anhänger des Christentums:



Die rabbinische Politik gegen das Christentum war in erster Linie gegen die Judenchristen gerichtet. Mit Erfolg grenzten sie sie aus und hielten sie von der jüdischen Gemeinde (Kehilat Israel) fern. Die Geschichte der Trennung ist im Wesentlichen die Geschichte des Triumphs der Rabbinen und das Versagen der Judenchristen, eine Mehrheit der palästinensischen Juden von den Zielen der Evangelien zu überzeugen.

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Das von den Rabbinen geschaffene Regelwerk verbot es, mit Judenchristen zu essen, Handel zu treiben, Geschäfte zu tätigen. Sie durften auch nicht ihre Bücher lesen, die als Ketzerei eingestuft wurden. Es war ihnen sogar verboten, sich von „Minim“ (innerjüdischen Ketzern) behandeln zu lassen – wegen der Gefahr, dass eine Heilung als christliches Wunder bezeichnet werden könnte (siehe hierzu auch den Beitrag von Charlotte Fonrobert,

S. 173

).

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 Zur Abgrenzungsstrategie gehörte auch das Prinzip der Matrilinearität, das eindeutig etablierte, wer der jüdischen Gemeinde angehörte und wer nicht. Zwar gab es weiterhin Konversionen, aber sie hatten weniger Gewicht als die mütterliche Deszendenz. Zudem wurde festgelegt, „dass der jüdische Status praktisch unauflösbar war“.

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 Dies galt auch für Konvertiten, die mit dem Übertritt eine neue Existenz annahmen. Durch das vollständige Eintauchen in „reines Wasser“ (Lev 11,36) wird ein Schlussstrich unter das vergangene Leben gesetzt und die Person als Jude oder Jüdin in ein neues Leben überführt: „Ein Proselyt ist wie ein neugeborenes Kind (bYev 22a).“

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 Aus diesem innerjüdischen Konflikt zwischen traditionellen Juden und den Jesus-Anhängern wurde später, als Heidenchristen die ursprünglich innerjüdische Polemik übernahmen, die Basis des Antijudaismus und „eines nun christlich geprägten Antagonismus, der bis in die Gegenwart reicht, gegen ‚die Juden‘“.

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Wegen der Abgrenzung gegen die Judenchristen sahen sich die rabbinischen Gelehrten gezwungen, die Frage zu klären: Wer ist Jude? Wie ist der halachische Status der Anhänger dieser Religion.

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 Das stärkt „die Vermutung, dass eine wesentliche Ursache der Einführung der Matrilinearität im 2. Jh. u. Z. die Auseinandersetzung mit dem Christentum war“.

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 Der christlichen Gemeinschaft war viel daran gelegen, sich selbst als die legitime Erbin der Heiligen Schrift auszugeben, und der Anspruch der Kirche auf das Auslegungsmonopol verband sich mit dem Ziel, die legitime Erbin des Bundes zu sein. Als im Jahr 554 – das war zu einer Zeit, in der die Kirche schon Staatskirche war – der Codex Justinianus veröffentlicht wurde, erhob dieser de