Handbuch Gender und Religion

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Ursula King

Gender-kritische (Ver-)Wandlungen in der Religionswissenschaft

Ein radikaler Paradigmenwechsel

1 Einleitung

In deutschen Publikationen ist sowohl der Begriff »Gender-Studien« als auch der Terminus »Geschlechterforschung« zu finden. Es ist erfreulich, dass dieses Handbuch den übergreifenden Titel Gender und Religion trägt, bezieht sich doch das englische Wort gender auf ein größeres semantisches Feld als das biologisch verstandene »Geschlecht«. Die neuen Perspektiven, revolutionären Erkenntnisse und kühnen Theorien, die seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Gender-Studien entwickelt worden sind, haben zu einem Paradigmenwechsel in den Sozial- und Geisteswissenschaften geführt. Noch wird er allerdings nicht von allen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wahrgenommen. Obwohl die Religionswissenschaft einige Pionierinnen auf dem Gebiet der Gender-Forschung besitzt, sind gender-spezifische Fragestellungen und Methoden in der Religionswissenschaft später als in anderen Wissenschaften akzeptiert worden.1 Noch gibt es Forschende, die keine gender-kritische Umwandlung ihres Bewusstseins vollzogen haben oder diese neue Denkrichtung bewusst pflegen.

Inzwischen sind jedoch selbst in der Religionswissenschaft so viele Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Gender-Studien zu finden, dass ein Überblick bereits nahezu unmöglich geworden ist. Das ganze Gebiet ist lange von nordamerikanischen und englischsprachigen Publikationen dominiert worden. Inzwischen gibt es jedoch wissenschaftliche Arbeiten über Gender und Religion in vielen Weltsprachen. Die Forschungsaktivität auf diesem Gebiet hat globale Dimensionen angenommen. Dies wird ersichtlich aus den langen Übersichtsartikeln, die sich in der zweiten, im Jahre 2005 erschienenen Ausgabe der internationalen Encyclopedia of Religion befinden und auf 125 Seiten 20 verschiedene Religionen der Welt aus der Gender-Perspektive behandeln.2 Es ist überwältigend, wie viele Frauen, aber auch einige Männer, in einer relativ kurzen Zeitspanne – seit der ersten Auflage dieses religionswissenschaftlichen Standardwerkes – religiöse Lehren und Texte aus geschlechtsspezifischer Perspektive kritisch untersucht haben. Ebenso bemerkenswert ist, wie viele Parallelen patriarchaler Unterdrückung und androzentrischen Denkens in den verschiedenen Religionen in vergleichenden Untersuchungen aufgedeckt worden sind.

Diese Forschungen stehen in starkem Gegensatz zur oft zu findenden »Gender-Blindheit« vieler Religionswissenschaftler; doch muss ebenfalls auf die oft vorhandene »Religionsblindheit« vieler säkularer Gender-Spezialisten hingewiesen werden. Ich spreche deswegen von einer »doppelten Blindheit«. Sie muss von beiden Seiten bekämpft werden. Außerdem möchte ich von Anfang an klar machen, dass Gender nicht einfach ein Synonym für Frauenforschung ist, obwohl es oft in diesem Sinne gebraucht wird. Gender bezieht sich auf Frauen und Männer, auf die gesamte Menschheit. Der Begriff muss also inklusiv verstanden werden.

Ich werde im Folgenden zunächst den Gender-Begriff erörtern. Danach folgen eine Beschreibung einiger Gender-Forschungsperspektiven in der Religionswissenschaft sowie eine kurze Skizze des brisanten Themas Gender und Spiritualität. Am Ende werden einige abschließende Betrachtungen gemacht.

2 Die verwirrende Komplexität des Gender-Begriffes

In den letzten Jahrzehnten haben sich Gender-Forschungen zum Teil auch in der Religionswissenschaft mit einer solchen Rapidität entwickelt, dass es für Neuanfänger(innen) auf diesem Gebiet recht schwierig ist, die vielen, hoch abstrakten Theorien, Standpunkte und Argumente zu begreifen. Sich hier Wissen und einen Durchblick zu verschaffen, kann mit einem Gang durch ein unbekanntes Labyrinth verglichen werden. Das Abenteuer lohnt sich, doch es geht nicht ohne Geduld, Entschlossenheit und Engagement. Persönliches Selbstverständnis und Identität werden mit auf die Reise genommen und unter Umständen stark verwandelt. Es ist also nicht ohne Risiko, sich auf diesen kritischen Weg zu begeben!

Warum? Weil Gender keine selbstverständliche, »natürliche« Kategorie ist, sondern sich auf gesellschaftliche und historische Konstruktionen bezieht, die erst einmal kritisch untersucht und erkannt werden müssen. Vor dem 20. Jahrhundert gab es die Kategorie Gender im analytischen und theoretischen Sinne überhaupt nicht. Ursprünglich diente der Begriff Gender in den Sprachwissenschaften zur geschlechtlichen Unterscheidung verschiedener Wörter. Die Sozialwissenschaften haben das Wort Gender als erste adaptiert und seinen Sinn auf die gesellschaftliche Differenzierung zwischen Männern und Frauen angewandt. Sie haben begonnen, Identitäts-, Autoritäts- und Machtunterschiede kritisch zu hinterfragen. Die kanadische Religionswissenschaftlerin Randi R. Warne (2000) spricht von der Notwendigkeit, dass unser Bewusstsein zuerst eine »gender-kritische Wendung« machen müsse, bevor wir die dynamischen Perspektiven der Gender-Beziehungen klar erkennen und kritisch evaluieren können.

Gender ist eine labile Kategorie. Sie besitzt keine klaren, definitiven Grenzen, sondern sie kann sich verändern und wechselnde Bedeutungen annehmen. Gender ist jedoch immer eine Kategorie, die mit dem Bestimmen verschiedener gesellschaftlicher Rollen zusammenhängt. Sie prägt persönliche Identität und Weltanschauung. Randi R. Warne (2001) und andere Autorinnen sprechen daher von engendering. Dies ist ein aktives Verb, das mit menschlichen Handlungen verbunden werden kann. Gender und Religion sind also nicht einfach zwei parallel zu behandelnde Substantive, die unabhängig voneinander existieren, lediglich verbunden durch das Wort und. Ganz im Gegenteil, beide sind ineinander eingebettet. Es ist deshalb oft schwierig, Gender in Religion zu identifizieren und klar herauszuarbeiten, zumindest solange das Bewusstsein nicht eine definitive gender-kritische Stufe erreicht hat.

Was in der Einleitung von Gender-Studien von Christina von Braun und Inge Stephan beschrieben wird, gilt auch für Gender-Studien in der Religionswissenschaft:

Geschlechterforschung zu studieren bedeutet, auf ein Fach und dessen Wissenskanon einen »Blick von außen« zu werfen. Das kann dazu führen, dass sich die Studierenden innerhalb der einzelnen Disziplin »fremd« fühlen. Andererseits gibt es kein anderes Studiengebiet, das so wie die Gender-Studien in alle Wissens- und Wissenschaftsbereiche hineinführt […] Der interdisziplinäre bzw. transdisziplinäre Ansatz der Gender-Studien bedeutet auch, dass es keine feste Methodik gibt. Die Gender-Studien greifen vielmehr die verschiedenen Methoden in den einzelnen Disziplinen auf, arbeiten mit ihnen, modifizieren sie und entwickeln sie so weiter, dass sie für die Gender-Fragestellungen produktiv gemacht werden können.3

Die Entwicklung der Gender-Studien ist mit einem zweifachen Paradigmenwechsel verbunden.4 Der erste Wechsel geschah, als sich Frauenstudien (Women’s Studies), die sich aus der historischen Frauenbewegung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten und hauptsächlich phänomenologisch deskriptiv und empirisch orientiert waren, in eine stärker kritisch reflektierte, feministische Orientierung umwandelten. Diese führte wissenschaftlich zu einem neuen Durchbruch und neuem Wissen. Der zweite Paradigmenwechsel folgte, als manche feministischen Ansätze als zu eng und einseitig erkannt und gender-kritische Theorien entwickelt wurden, die sich mehr inklusiv mit den verschiedensten Geschlechterrollen, -identitäten, -beziehungen und unterschiedlichen Machtpositionen von Frauen und Männern beschäftigten. Kritische Gender-Studien über Männer und Religion sind von feministischen Theorien mitbeeinflusst und haben neue Forschungsperspektiven entdeckt, die sich zum Beispiel mit dem Verständnis männlicher Identität, dem Verhältnis zwischen männlicher Sexualität und Spiritualität oder mit dem männlich überdeterminierten traditionellen Gottesbegriff im Judentum und Christentum auseinandergesetzt haben. Doch trotz allem Fortschritt sind Gender-Studien über Männer viel weniger weit entwickelt als solche über Frauen. Da letztere einen größeren gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Rückstand aufzuarbeiten haben, ist hier ein kritisches Gender-Denken viel notwendiger. Ein solches hat jedoch auch Konsequenzen für Männer. Dennoch kann es noch lange dauern, bis Männer den Vorsprung der Frauen auf dem Gebiet der Gender-Studien aufgeholt haben werden. Bis jetzt ist die Männlichkeit noch nicht in demselben Ausmaß wie die Weiblichkeit kritisch theoretisiert worden.

Wie steht es nun mit spezifischen Gender-Perspektiven in der Religionswissenschaft?

3 Gender-Perspektiven in der religionswissenschaftlichen Forschung

Religionswissenschaftliche Gender-Studien sind trotz vieler ausgezeichneter wissenschaftlicher Errungenschaften noch immer kontrovers. Sie werden von vielen Gelehrten, männlichen wie auch weiblichen, und religiös engagierten Menschen sowie religiösen Institutionen entweder einfach ignoriert oder aktiv angegriffen. Trotz solcher Schwierigkeiten und manchem Unverständnis haben sich wissenschaftliche Erkenntnisse des Feminismus und der Gender-Studien immer mehr an Universitäten und auch in der Öffentlichkeit verbreitet. Wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt es auch in der Religion keine gender-neutralen Phänomene. Wenn Religion aus einer gender-kritischen Perspektive untersucht wird, ergeben sich verschiedene Fragestellungen, die sich mit äußeren wie inneren Charakteristiken des Religiösen beschäftigen.5 Ich möchte diese unter drei Gesichtspunkten gruppieren.

 

Zunächst kann gefragt werden, welche geschlechtsspezifischen Rollen und welchen Status verschiedene Religionen Frauen und Männern zuweisen. Wie sind diese zum Beispiel in den grundlegenden heiligen Schriften und Lehren bestimmt? Können Frauen genauso wie Männer am religiösen Leben teilnehmen? Haben sie Zugang zu religiöser Autorität und Führung? Haben sie ihre eigenen religiösen Gemeinschaften und Riten? Dürfen Frauen die heiligen Schriften lesen, interpretieren und lehren? Haben sie Zugang zu religiösen Ämtern? Welche religiösen Rollen haben Frauen ausgeübt, und welchen Einfluss haben sie gehabt als Schamanin, Prophetin, Priesterin, Heilige, Mystikerin, religiöse Gründerin usw.? Es ist aus religionsvergleichenden Untersuchungen ersichtlich, dass Frauen in archaischen, Stammes-, Volks- und gering institutionalisierten Religionen eher höhere Positionen innehaben als in stark ausdifferenzierten Religionen mit hierarchischen Strukturen und Organisationen. Geschichtliche Untersuchungen über den Ursprung und die Entstehungszeit neuer Religionen zeigen außerdem, dass Frauen während der Gründungszeit oft eine bedeutende Rolle spielen und eng mit dem Werk männlicher Religionsstifter verbunden sind. Als Beispiel können hier Frauen im frühen Buddhismus, Frauen um Jesus und ihr Beitrag zur Verbreitung seiner Botschaft sowie Frauen um Mohammed genannt werden. Ebenso wichtig ist der Beitrag von Frauen in den christlichen Missionsbewegungen des 19. Jahrhunderts.

Eine zweite Forschungsperspektive beschäftigt sich mit dem religiösen Denken, seinen Hauptbegriffen und seiner Sprache. Wie werden Männer und Frauen in den verschiedenen heiligen Schriften beschrieben? Welche Symbolik wird gebraucht? Welche Metaphern dominieren in der Rede über Gott, das Göttliche, den Geist und die Transzendenz? Ist die Sprache religiöser Texte vorwiegend exklusiv und androzentrisch oder schließt sie beide Geschlechter mit ein? Die geschlechtlich flektierte Sprache der Religion spiegelt sich auch in den religiösen Haltungen zum Körper, zur Sexualität und zur Spiritualität wider. Die Sakralisierung der Jungfräulichkeit sowie Askese und Mönchtum haben in mehreren Religionen stark zu frauenfeindlichen Haltungen beigetragen, deren wichtiger Einfluss auf die Geschichte der Spiritualität noch näher untersucht werden muss. Traditionelle männliche und weibliche Gender-Symbole können leicht zu einem Gefängnis des Denkens werden. Geschichtlich und gesellschaftlich begründete androzentrische Gottesbilder sind für viele Frauen zu Symbolen der Macht und Unterdrückung geworden, sodass feministische Theologinnen sie mit Recht infrage stellen. Die Suche nach weiblichen Symbolen des Göttlichen ist stark von den philosophischen Diskussionen des Postmodernismus und der Psycholinguistik beeinflusst, vor allem wie sie in den radikalen Theorien französischer Feministinnen zum Ausdruck kommt. Insbesondere die Werke von Luce Irigaray, Julia Kristeva und Hélène Cixous haben einen großen Einfluss auf gegenwärtige religionsphilosophische und theologische Diskussionen unter Feministinnen ausgeübt.6

Die dritte Forschungsperspektive fokussiert besonders auf die innere religiöse Erfahrung. Sind religiöse Erlebnisse und Gotteserfahrungen geschlechtlich differenziert? Trotz aller Anerkennung heiliger Frauen und Mystikerinnen sind die Erfahrungen solcher Frauen in den etablierten, von Männern produzierten philosophischen und theologischen Lehren und Schulen meist nicht theoretisch mitartikuliert worden. Wichtig ist auch zu hinterfragen, wie weit Religionen die traditionelle gesellschaftliche Rolle der Frau mit ihren Familienpflichten und in ihrer Abhängigkeit vom Mann legitimiert haben, anstatt Frauen anzuregen, ihre eigene Spiritualität zu entwickeln und nach höheren geistigen Idealen zu streben. Im Buddhismus und Christentum gibt es eine lange Tradition verhältnismäßig unabhängiger religiöser Frauengemeinschaften. Der Jainismus und Taoismus kennen ebenfalls Nonnen. Im Hinduismus dagegen gibt es, von wenigen geschichtlichen Beispielen unabhängiger Asketinnen abgesehen, erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts Frauenklöster. Solche Aspekte von Mönchtum und Askese werden erst seit kurzem kritisch untersucht. Ebenso sind erst jetzt gender-spezifische Erfahrungs- und Ausdrucksweisen der Mystik ins Blickfeld der Forschung und damit klarer ins Bewusstsein getreten.7 Eine religionswissenschaftlich vergleichende Untersuchung der Spiritualität zeigt, dass geistliche Ratschläge fast ausschließlich von Männern formuliert worden und hauptsächlich an Männer adressiert sind. Diese schließen oft negative Beurteilungen von Frauen mit ein. Zahlreiche religiöse Texte, die männliche Ideale der Askese, Heiligkeit und Vollkommenheit lehren, schließen eine starke Verachtung oder zumindest Ablehnung des weiblichen Körpers ein. In vielen Religionen können Texte gefunden werden, welche die Frau niedriger einstufen als den Mann und sie als unfähig betrachten, die gleichen geistigen Höhen und Dimensionen der Transzendenz zu erreichen. Zum Beispiel lehren manche Schulen des Buddhismus, dass Frauen zuerst als Männer wiedergeboren werden müssen, bevor sie selbst das Nirwana erreichen können.

Spiritualität ist ein besonders wichtiges Thema. Es verdient deshalb eine separate Behandlung.

4 Gender und Spiritualität

Große geistige Frauengestalten gibt es in vielen Religionen: Seherinnen, Prophetinnen, Mystikerinnen. Trotz männlicher Dominanz in Fragen der Spiritualität und trotz eines patriarchalen Frauenbildes, das die Frau hauptsächlich als Gattin und Mutter sieht und nahezu alle anderen Rollen ausblendet, haben zahlreiche Frauen geistige Kraft, Stärke, Autonomie und Autorität durch ihren Glauben und ihre religiöse Tradition gefunden. Dies bestärkte sie, gegen traditionelle gesellschaftliche und religiöse Normen anzugehen und manchmal eine ungewöhnliche Laufbahn einzuschlagen. Die Einsichten und religiösen Erfahrungen einiger solcher Frauen haben zeitgenössische und spätere Generationen beeinflusst und wurden auch von Männern anerkannt. Allerdings sind dies zum großen Teil Einzelerfahrungen geblieben. Das allgemeine Leben der meisten anderen Frauen konnten solche Einzelgestalten nicht beeinflussen. Da die offizielle Geschichte von Männern geschrieben wurde und Frauen fast immer unsichtbar blieben, ist ein Teil jener spirituellen Frauengestalten in Vergessenheit geraten. Heute allgemein bekannte Frauen der mittelalterlichen christlichen Mystik wie Hildegard von Bingen, Margery Kempe, Juliana von Norwich und manche andere sowie auch die Beginen, sind erst im 20. Jahrhundert neu »entdeckt« worden. Die Situation in anderen Religionen ist ganz ähnlich.

Zwei Bemerkungen sind hier besonders wichtig: Wir können diese großen religiösen Frauengestalten der Vergangenheit bewundern, doch müssen wir ihre Lebensgeschichten zugleich kritisch betrachten und die oft starken Einengungen ihrer Erfahrungen und auch manche Form der Unterdrückung in ihrem Leben mit in Betracht nehmen. Ihre unter ganz anderen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen gelebte Religion kann heute nicht einfach imitiert werden. Die Geschichte solcher Frauen ist außerdem nicht immer Frauengeschichte im Sinne des feministischen Bewusstseinsumbruchs der Gegenwart. Diese religiös herausragenden, in vieler Hinsicht bewundernswerten Frauengestalten können nicht einfach aufgrund ihres Geschlechts als Vorgängerinnen des heutigen Feminismus – als sogenannte »Proto-Feministinnen« – angesehen werden. Vieles in ihrem Leben ist für uns heute gar nicht mehr nachvollziehbar. Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass die Frauengestalten der Vergangenheit in der Regel individuelle Einzelgestalten waren. Die weibliche Suche nach einer autonomen Eigendefinition von Spiritualität ist heute dagegen vor allem ein Gruppenphänomen, das sogar auf globaler Ebene beobachtet werden kann.

Heute sind viele Frauen in den verschiedensten Weltreligionen auf einer expliziten Suche nach Geist und Transzendenz. Die pakistanische Wissenschaftlerin Durre Ahmed hat einen Sammelband mit dem prägnanten Titel Gendering the Spirit herausgegeben,8 in dem sie argumentiert, dass die letzte Grenze des Postkolonialismus im Bereich der Interdependenz von Frau und Religion zurzeit überschritten wird. In der Vergangenheit sind Frauen wie Religionen oft kolonialisiert, ausgebeutet und unterdrückt worden. Heute wollen Frauen dieses Joch abwerfen. Ahmeds Buch enthält eine radikale Kritik des »gegenderten« Wissens um Geist, Gott und Transzendenz, das lange sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft zum Nachteil der Frauen konstruiert worden ist; andererseits geht es ihr um die Entkolonialisierung des Denkens und der menschlichen Vorstellungskraft schlechthin.

Gottes- und Geistesvorstellungen der Vergangenheit können heute nicht mehr naiv übernommen und weitergegeben, sondern müssen kritisch durchdacht und uminterpretiert werden. Frauen weisen immer wieder darauf hin, wie wesentlich der Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit, kurz »Literalität« (literacy) genannt, für die Transformation des Bewusstseins – auch des religiösen Bewusstseins – war. Oft haben Frauen viel später als Männer Zugang zur Literalität erhalten. Selbst heute noch ist ein größerer Prozentsatz von Frauen als von Männern auf der Stufe der »Oralität« und nicht der Literalität. In der Beschreibung eines neuen Buches zu Literalität und Oralität heißt es ganz treffend:

Literalität (Schriftlichkeit) versus Oralität (Mündlichkeit) – welche von diesen beiden Zugangsformen zur Sphäre des Geistes darf den ersten Platz für sich beanspruchen? Welche von ihnen ist für die Aufschließung dieser Sphäre grundlegender, welche für ihr argumentatives Zusammen- und Weiterwirken dynamischer, fruchtbarer und nachhaltiger? Mag bei diesem Wettstreit auch kein definitiver Sieg einer der beiden Seiten bevorstehen, so bleiben die dabei gewonnenen Einsichten für die Entwicklung des Denkens erfahrungsgemäß in vieler Hinsicht aufschlussreich, wesentlich und gelegentlich sogar staunenswert.9

Die zwischen Literalität und Oralität bestehende Spannung kommt hier deutlich zum Ausdruck, doch fehlt leider jeglicher Hinweis auf die Bedeutung der Gender-Dimension auf diesem wichtigen Gebiet der Bewusstseinsentwicklung. Zugang zur Literalität, zu allen Stufen der Wissensbildung und insbesondere zum Erlernen klassischer Sprachen, die für ein unabhängiges Lesen und Interpretieren der kanonischen Texte und Lehren der verschiedenen Religionen absolut nötig sind, ist ein Durchbruch zu einer neuen Stufe des Bewusstseins. Frauen haben als soziale Gruppe (und nicht als einzelne Ausnahmen) erst seit dem 20. Jahrhundert Zugang dazu gewonnen, vor allem im globalen Norden, während im Süden der Welt auch heute noch viele Frauen völlig ungeschult bleiben.

Die ersten Theologinnen, die es in den USA schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab, waren sich der Notwendigkeit einer vollen, den Männern gleichen Ausbildung bewusst. Auch die Frauen, die 1893 beim ersten Weltparlament der Religionen in Chicago öffentliche Ansprachen hielten, betonten die Wichtigkeit der klassischen Sprachkenntnisse für das Studium der Religionen. Im damaligen Kontext haben sich westliche Frauen in Amerika und Europa zuerst dem Studium des Christentums und Judentums zugewandt. Es ist deshalb keine Überraschung, dass sich im 20. Jahrhundert die feministische Religionskritik und feministische Theologie sowie die auf eine weibliche Gottheit ausgerichtete Theologie10 vor allem in diesen beiden Religionen entwickelt haben. Die Forderung nach einer weiblichen Interpretation der kanonischen religiösen Schriften und Lehren hat sich in der Gegenwart auf alle Religionen ausgeweitet. Heute erkämpfen sich viele Frauen den Zugang zu den heiligen Schriften ihres Glaubens und ihrer Tradition. Dies ist ein radikaler Akt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es zum Beispiel Frauen im Hinduismus und Buddhismus jahrhundertelang verboten war, die heiligen Schriften zu lesen oder zu rezitieren. Der jetzt errungene Zugang zu diesen Schriften ist vergleichbar mit der gesellschaftlichen Umstellung zur Zeit der Reformation, als christliche Laien in Europa zum ersten Mal die Bibel in ihrer Muttersprache lesen konnten. Wie viele Kämpfe wurden damals für diese neue Freiheit ausgetragen! Menschen haben deswegen ihr Leben verloren. Es muss uns nicht verwundern, dass auch der Kampf der Frauen im Buddhismus, Hinduismus und Islam um neue Freiheiten nicht ohne Widerstand vor sich geht. In England kämpfen muslimische Frauen gerade um das Recht, einen Platz zum Beten in der Moschee zu erhalten. In Amerika gibt es ähnliche Initiativen. In Indonesien, dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt, sind Initiativen von Frauen ins Leben gerufen worden, um den Islam mitzugestalten, seine Lehren selbst zu interpretieren, zu lehren und Konsequenzen für gesellschaftliche Reformen daraus zu ziehen.11

 

Ich möchte hier außerdem noch kurz auf die weltweite buddhistische Frauenbewegung hinweisen. Sie ist einerseits vom westlichen Feminismus ganz unabhängig. Andererseits zeigen sich zwischen diesen beiden Bewegungen – dem Feminismus und der buddhistischen Frauenbewegung – interessante Parallelen. Dies wird vor allem in den Forderungen nach geistiger Befreiung und Selbstbestimmung sichtbar. Seit 1987 haben sich Buddhistinnen und vor allem buddhistische Nonnen in der globalen Bewegung Sakyadhita (»Töchter Buddhas«) zusammengeschlossen. Sie treffen sich alle zwei Jahre an einer Konferenz in verschiedenen asiatischen Ländern, um theoretische und praktische Probleme des Buddhismus aus spezifisch weiblicher Sicht zu behandeln. Die Sakyadhita-Bewegung hat sich folgende Ziele gesetzt: ein globales Kommunikationsnetzwerk unter den buddhistischen Frauen der Welt zu schaffen, Frauen als Lehrerinnen des Buddhismus auszubilden, Forschungsuntersuchungen über Frauen im Buddhismus anzuregen, die Bhikkhuni Sangha oder den buddhistischen Frauenorden wiederaufzubauen. Bis jetzt sind eine Reihe eindrucksvoller Publikationen – und mehrere Ordinationen – aus diesen Treffen hervorgegangen. Die Existenz Sakyadhitas ist ein deutliches Zeichen dafür, dass unter buddhistischen Frauen, besonders unter den Nonnen, eine entscheidende Bewusstseinsveränderung im Gang ist, die manche Folgen für die buddhistische Praxis haben wird.

Ein klares Zeugnis für den Umbruchprozess unter den buddhistischen Nonnen Asiens ist der von Karma Lekshe Tsomo herausgegebene Sammelband Innovative Buddhist Women. Swimming Against the Stream.12 Wie aus den dort veröffentlichten Beiträgen ersichtlich wird, geht es nicht nur um die Uminterpretation traditioneller Texte, die Frauen bisher unzugänglich waren, sondern auch um die Reform vieler diskriminierender Praktiken und lang etablierter Traditionen. Weitere Forderungen sind die Veränderung hierarchischer Strukturen und die Verwirklichung egalitärer Formen des Zusammenlebens von Frauen und Männern. Frauen, die für diese Ziele kämpfen, »schwimmen gegen den Strom«. Wichtig ist vor allem, dass Frauen und Männern derselbe Zugang zu Ausbildung und Ordination eröffnet wird. Ohne volle Fachausbildung können buddhistische Nonnen weder ihre eigenen kanonischen Texte interpretieren noch die geistige Leitung anderer Menschen übernehmen, so wie es Männer seit Tausenden von Jahren getan haben. Wie eine dieser Buddhistinnen schreibt, sind Frauen ohne Ausbildung wie »Vögel ohne Flügel«.13 Frauen müssen erst fliegen lernen, um die Gipfel des Geistes zu erreichen. Die buddhistischen Nonnen vieler asiatischer Länder kämpfen darum, die notwendige Ausbildung zu erwerben, um ihren untergeordneten Status zu ändern und eine Vollordination zu erhalten, die sie den Mönchen gleichstellt.

Ein anderer wichtiger Aspekt hat sich im Westen entwickelt. Als buddhistische Mönche in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Westen kamen, bekehrten sich manche westlichen Frauen zu dieser im Westen neuen Religion, die ihnen befreiender erschien als das Judentum oder Christentum. Zugleich wandten diese westlichen Frauen ein feministisches Bewusstsein auf ihr Verständnis des Buddhismus an. Dies war für die männlichen buddhistischen Lehrer, die aus Asien kamen und nur an die geistliche Autorität von Männern gewöhnt waren, eine völlig neue Erfahrung. Westliche Frauen wurden buddhistische Nonnen; manche haben eine sehr intensive Ausbildung in den traditionellen Lehren genossen und besitzen ausgezeichnete Kenntnisse der buddhistischen Schriften. In Amerika ist inzwischen fast die Hälfte aller buddhistischen Lehrer Frauen; einige genießen hohe geistige Autorität und haben viele Schüler. Eine solche Anerkennung der geistigen Führung durch Frauen ist eine in der Geschichte des Buddhismus ganz neue Entwicklung; sie ist inzwischen nicht nur im Westen, sondern auch in manchen Ländern Asiens zu beobachten. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass inzwischen immer mehr Buddhistinnen die Geschichte buddhistischer Frauen und den Beitrag, den Nonnen in der Geschichte des Buddhismus geleistet haben, erforschen – ein bisher wenig untersuchtes Thema. Die Sakyadhitas Präsidentin Karma Lekshe Tsomo spricht von einer Gesamtzahl von 300 Millionen buddhistischen Frauen in der Welt, von denen nur 1% aus dem Westen stammen. Wenn diese große Frauenzahl mobilisiert werden könnte, für gesellschaftliche und spirituelle Befreiung und Gleichheit zu arbeiten, so könnte dies eine große Wirkung auf die Welt haben. Sakyadhita hat einen Anfang gemacht und in wenigen Jahren schon manches Ziel erreicht. Somit ist diese buddhistische Frauenbewegung ein inspirierendes Beispiel für die weibliche Kreativität auf dem Gebiet der Spiritualität.