Grundwissen Eigensicherung

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Grundwissen Eigensicherung
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Grundwissen Eigensicherung

ISBN 978-3-86676-654-9

Clemens Lorei & Jürgen Sohnemann (Hrsg.)

Grundwissen Eigensicherung

ISBN 978-3-86676-654-9


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner enthaltenen Teile inkl. Tabellen und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Vervielfältigung auf fotomechanischem oder elektronischem Wege und die Einspeicherung in Datenverarbeitungsanlagen sind nicht gestattet. Kein Teil dieses Werkes darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert, kopiert, übertragen oder eingespeichert werden.

© Urheberrecht und Copyright: 2012 Verlag für Polizeiwissenschaft, Prof. Dr. Clemens Lorei, Frankfurt

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Telefon/Telefax 0 69/51 37 54 • verlag@polizeiwissenschaft.de

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Vorwort

Lieber Leser,

das Buch „Grundwissen zur Eigensicherung“ verfolgt das Ziel, grundlegendes Wissen zum Thema polizeiliche Eigensicherung zur Verfügung zu stellen. Es richtet sich vor allem an Polizeibeamte; insbesondere an solche, die am Anfang ihres Berufslebens stehen. Es will aber auch allen anderen, die sich mit der Eigensicherung beschäftigen (Ordnungsbehörden, Richter, Staatsanwälte etc.), Informationen zur polizeilichen Eigensicherung auf der Höhe der Zeit anbieten. Dabei will es eine Verbindung schaffen zwischen praktischer Umsetzbarkeit sowie Verständlichkeit der Inhalte und wissenschaftlichem Anspruch. Dafür stehen die beiden Herausgeber aus Wissenschaft und Praxis.

Das Werk soll also dazu dienen, Polizeibeamte in die Lage zu versetzen, professionell auf dem neusten wissenschaftlich abgesicherten Stand zu handeln. Umgekehrt soll es anderen Professionen helfen, fundierte Informationen über Hintergründe polizeilichen Einsatzhandelns aus Expertenhand zu erhalten. Somit erhebt das Werk den Anspruch, das „Standard-Lehrwerk“ für polizeiliches Einsatzhandeln und verschiedene Gesichtspunkte der Eigensicherung zu werden. Dabei stellt der Inhalt ein Pflichtwissen für jeden in gefährlichen Situationen handelnden Polizeibeamten dar. Das muss er wissen!

Damit Eigensicherung sich den Notwendigkeiten der Veränderung in Gesellschaft, Technik und Zeit anpassen kann, werden ihre Komponenten und Aspekte ständig weiterentwickelt, ergänzt und aktualisiert. Ebensolches soll auch diesem Lehrwerk widerfahren. Die Herausgeber freuen sich deshalb auf Kommentare, Bemerkungen und Anregungen an grundwissen@polizeiwissenschaft.de.

Clemens Lorei

Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung

Jürgen Sohnemann

Polizeiakademie Hessen

Wir danken allen Autoren, die mit ihrer Bereitschaft und ihrem Engagement zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Wir wünschen den Polizeipraktikern unter den Lesern, dass sie allzeit gesund vom Dienst nach Hause kommen, den Lehrenden und Trainern viel Motivation andere bei der Optimierung ihrer Eigensicherung zu unterstützen, und alle denen, die fundiertes Verständnis der polizeilichen Arbeit in gefährlichen Situationen suchen, umfassende Erkenntnis.

Ausgangslage

Gewalt gegen Polizeibeamte

Karoline Ellrich

Psychologische Grundlagen

Stress

Christian Pundt

Visuelle Wahrnehmung

Bernd Körber

Interaktion mit Personen

Einsatzkommunikation

Peter Pfeiffer

Psychisch Kranke

Hans Peter Schmalzl

Alkohol und andere psychotrope Substanzen

Max Hermanutz, Daniel Watolla

Suizid, erweiterter Suizid und Suicide by Cop

Dietmar Heubrock

Ballistik

Waffenkunde und Ballistik

Hans R. Damm

Wund-ballistische Grundlagen für die polizeiliche Eigensicherung

Markus A. Rothschild, Beat Kneubuehl

Fatale Situationen im Polizeieinsatz

Lagebedingter Erstickungstod

Christoph G. Birngruber, Reinhard B. Dettmeyer

Unbeabsichtigter Schusswaffengebrauch

Clemens Lorei, Christopher Heim

Jagdfieber

Clemens Lorei

Was folgt im Falle eines Falles

Was kommt danach?

Jürgen Sohnemann

Psychische Verletzungen

Frank Hallenberger

Polizeibeamte als Opfer von Gewalt

Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung aus dem Jahr 2010

Karoline Ellrich

Dipl.-Psych., Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)

Zusammenfassung

Der Beruf des Polizeibeamten gilt als einer der belastensten und gefährlichsten überhaupt. Um Erkenntnisse über das Ausmaß und die Entwicklung von Gewalt zum Nachteil von Polizeibeamten im Rahmen der Dienstausübung zu erhalten, wurde Anfang des Jahres 2010 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Kooperation mit zehn Bundesländern eine Befragung von rund 20.000 Polizeibeamten zu Gewalterfahrungen im Dienst durchgeführt. Anhand von vier Leitfragen werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt und vor dem Hintergrund bisheriger Forschungsbefunde diskutiert. Neben einer Beschreibung von Gewaltübergriffen gegen Polizeibeamte werden zudem mögliche opfer- und täterbezogene Risikofaktoren vorgestellt, die die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs bzw. einer Verletzung im Dienst erhöhen.

1 Einleitung

Polizeibeamte1 sind in ihrem täglichen Dienst mit einer Vielzahl von belastenden und gefährlichen Situationen konfrontiert. Obgleich die meisten Polizei-Bürger-Interaktionen friedlich verlaufen, kommt es auch immer wieder zu kritischen Situationen, in denen Polizeibeamte gewalttätig angegriffen werden. In einer Untersuchung von Klemisch et al. (2005) gaben bspw. 63,6 % der befragten Polizeibeamten an, im Dienst schon einmal körperlich verletzt worden zu sein, 55,4 % waren bereits in Lebensgefahr. Dass solche Ereignisse eine starke Belastung für Polizeibeamte darstellen, konnten verschiedene Studien belegen (Hallenberger & Müller, 2000; Hallenberger et al., 2003; Klemisch et al., 2005a; Neugebauer & Latscha, 2009).

Für Deutschland existieren keine offiziellen Statistiken, die das Ausmaß von Gewaltübergriffen zum Nachteil von Polizeibeamten erfassen. Deshalb wird zur Beschreibung des Phänomens oft auf die registrierten Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS, Schlüssel: 621000) zurückgegriffen. Dabei zeichnete sich zwischen 2000 und 2008 ein nahezu kontinuierlicher Anstieg von Widerstandsdelikten um rund ein Drittel ab (34,5 %).2 Diese Entwicklung wurde als Indiz für eine steigende Gewaltbereitschaft Polizeibeamten gegenüber gewertet. Auf Basis dieser Statistik eine Aussage über Gewalterfahrungen von Polizeibeamten sowie deren Entwicklung zu treffen, ist aber aus mehreren Gründen problematisch: Erstens bezogen sich Widerstandsdelikte bis zum PKS Berichtsjahr 2008 auf die Staatsgewalt insgesamt (§§ 111, 113, 114, 120, 121 StGB), wodurch eine differenzierte Betrachtung von Fällen, die sich gegen Polizeivollzugsbeamte richteten, nicht möglich war. Im Jahr 2009 wurden dann bereits Widerstandsdelikte gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113) separat ausgewiesen, die sich zumindest größtenteils auf die Berufsgruppe der Polizeibeamten beziehen. Eine weitere Differenzierung erfolgte im Jahr 2010, in der erstmals Polizeivollzugsbeamte als Opfer von Widerstandsdelikten (Schlüssel 621021) ausgewiesen wurden. Zweitens weist die PKS nur das jeweils schwerste Delikt aus. Liegt neben dem Widerstand auch eine Körperverletzung vor, wird nur letztere in der PKS erfasst. Da bei Körperverletzungsdelikten bislang keine gesonderte Ausweisung der viktimisierten Berufsgruppe erfolgte, können Fälle zum Nachteil von Polizeibeamten hierbei nicht identifiziert werden.3 Folglich repräsentieren die registrierten Fälle von Widerstand weniger schwerwiegende Angriffe auf Beamte. Drittens können auf Basis der PKS keine Aussagen darüber getroffen werden, unter welchen situativen Umständen Angriffe gegen Polizeibeamte erfolgen, welche Gruppen von Polizeibeamten besonders stark von Gewalt betroffen sind und welche Konsequenzen aus den Übergriffen resultieren können. Diese Kenntnisse sind aber notwendig, um Polizeibeamte durch Aus- und Fortbildung besser auf gefährliche Situationen vorzubereiten bzw. im Falle eines Übergriffs entsprechende Hilfeleistungen anzubieten.

 

2 Forschungsfragen

Sowohl in- als auch ausländische Untersuchungen haben sich auf eine präzise phänomenologische Beschreibung typischer Übergriffsituationen zum Nachteil von Polizeibeamten konzentriert (z. B. Bragason, 2006; Brown, 2004; Falk, 2000; FBI, 2010; Jäger, 1988; Ohlemacher et al., 2003).4 In der deutschen Forschung wurde sich dem Thema von unterschiedlichen Perspektiven genähert, wodurch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse mitunter eingeschränkt ist. So finden sich neben Untersuchungen zu versuchten/vollendeten Tötungsdelikten an Polizeibeamten (Ohlemacher et al., 2003; Sessar et al., 1980), auch solche, die eine mehrtägige Dienstunfähigkeitsdauer des Beamten infolge eines Angriffs in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen (Jäger, 1988; Jäger, 1991; Ohlemacher et al., 2003). Andere Studien richteten sich wiederum auf Widerstandsdelikte gegen Polizeibeamte (z. B. Falk, 2000), die zwar nicht zwangsläufig mit gewalttätigen Übergriffen bzw. Verletzungen einhergehen müssen, aber dennoch eine konflikthafte Beamten-Bürger-Interaktion darstellen.

Die letzte umfassende Studie zu Gewalt gegen Polizeibeamte wurde im Jahr 2000 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt (KFN, Ohlemacher et al., 2003). Im Mittelpunkt dieser Untersuchung standen gravierende Gewalttaten zum Nachteil von Polizeibeamten, die durch eine Tötungsabsicht oder eine mindestens siebentägige Dienstunfähigkeit infolge des Gewaltereignisses gekennzeichnet waren. Seitdem beschränkte sich die Informationsbasis zum Ausmaß von Gewalt gegen Polizeibeamte im Dienst auf die registrierten Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt in der PKS. Um aktuelle Daten zu gewinnen, entschied sich das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Kooperation mit zehn Bundesländern5 Anfang 2010, eine neue Befragung zu Gewalt gegen Polizeibeamte durchzuführen. Diese erfolgte online auf Extrapol, einer Informations- und Kommunikationsplattform der Deutschen Polizeien. Insgesamt 20.938 Polizeibeamte haben sich an der Untersuchung beteiligt, was einer Rücklaufquote von 25,1 % entspricht (Ellrich et al., 2010, S. 10). Etwa jeder fünfte Beamte war weiblich. Das Alter der Befragten variierte zwischen 19 bis 62 Jahren und betrug im Mittel 41,3 Jahre. Hinsichtlich der Dienstgruppe kann festgehalten werden, dass die Beamten zum Befragungszeitpunkt am häufigsten dem Einsatz- und Streifendienst angehörten (44,3 %), gefolgt vom Kriminal- und Ermittlungsdienst (23,2 %). Knapp jeder zwölfte Beamte (8,4 %) tat seinen Dienst in besonderen Einsatzeinheiten wie bspw. Hundertschaften (andere Dienstgruppen: 23,9 %). Zudem arbeiteten die Beamten in der Mehrheit der Fälle (72,8 %) in Gebieten, in denen die größte Stadt weniger als 250.000 Einwohner umfasst. Im Vergleich zur gesamten Polizeistärke der zehn beteiligten Bundesländer sind Polizeibeamtinnen, jüngere Beamte sowie Beamte aus westdeutschen Gebieten (darunter Berlin) in der Befragung anteilmäßig überrepräsentiert (Ellrich et al., 2010, S. 14).

Ziel der Untersuchung war es, ein umfassendes Bild zu Gewalterfahrungen von Polizeibeamten im Rahmen ihrer Dienstausübung zu erhalten. In diesem Zusammenhang sollten Erkenntnisse zu den nachfolgenden Fragestellungen gewonnen werden, die zugleich den vorliegenden Beitrag gliedern:

• In welchem Ausmaß sind Polizeibeamte verschiedenen Formen der Gewalt im Rahmen ihrer Dienstausübung ausgesetzt?

• Wie hat sich die Gewalt gegen Polizeibeamte in den Jahren 2005 bis 2009 entwickelt?

• Durch welche Merkmale sind

a) die von Gewalt betroffenen Beamten,

b) die Täter, die den Angriff ausgeübt haben und

c) die Situationen, in denen es zu Gewalt gegen Polizeibeamte gekommen ist, gekennzeichnet?

• Welche Folgen haben Gewaltübergriffe für den betroffenen Beamten?

3 Ergebnisse

3.1 In welchem Ausmaß sind Polizeibeamte verschiedenen Formen der Gewalt im Rahmen ihrer Dienstausübung ausgesetzt?

Gewalt kann ein weites Spektrum unterschiedlicher Formen umfassen. Nicht nur im körperlichen Angriff oder im Einsatz von Waffen spiegelt diese sich wider. Auch Drohungen oder Beleidigungen können als Gewalt definiert werden. Wie oft Polizeibeamte im Jahr 2009 solchen Formen von Gewalt im Dienst ausgesetzt waren, zeigt Abbildung 1.

Insgesamt 80,9 % der Beamten wurden im Rahmen ihrer Dienstausübung beschimpft oder beleidigt, wobei etwa jeder fünfte dies mindestens einmal im Monat erlebte. Etwas niedriger liegen die Raten für Drohungen mit 65,4 %, wobei auch hier die Mehrheit der Befragten dieser Gewaltform selten (einmal/einige Male) ausgesetzt war. Polizeibeamte sind demnach relativ häufig mit verbaler Gewalt konfrontiert. Alle anderen abgebildeten Gewaltformen erleben Beamte im Dienst hingegen deutlich seltener. Dass mit zunehmendem Schweregrad der Gewalt der Anteil an betroffenen Beamten abnimmt, findet sich auch in anderen Untersuchungen (vgl. auch Bosold, 2005; Manzoni, 2003). Etwas mehr als ein Drittel aller Befragten berichtete, leichte körperliche Gewalt in Form von Schubsen, Stoßen bzw. Festhalten, Anpacken erlebt zu haben, während etwa jeder fünfte bzw. sechste Beamte mindestens einmal innerhalb des Jahres 2009 von Bürgern getreten und/oder geschlagen wurde. Noch gravierendere Formen wie die Drohung oder der Einsatz von Waffen/gefährlichen Gegenständen sind im Vergleich dazu eher selten. Trotzdem gab knapp jeder elfte Beamte an, innerhalb von einem Jahr mindestens einmal mit Waffen oder gefährlichen Gegenständen angegriffen worden zu sein. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass Beamte einem weiten Spektrum an gewalttätigen Übergriffen im Dienst ausgesetzt sind, wobei verbale bzw. leichte körperliche Formen dominieren.

Abbildung 1


3.2 Durch welche Merkmale sind die von Gewalt betroffenen Beamten gekennzeichnet?

Nachdem dargestellt wurde, in welchem Ausmaß Polizeibeamte von Gewalt im Dienst betroffen sind, soll der Frage nachgegangen werden, ob die Wahrscheinlichkeit angegriffen zu werden, für alle Beamten gleich groß ist, oder ob es bestimmte Faktoren gibt, die das Risiko, Opfer zu werden, beeinflussen. Gerade unter präventiven Gesichtspunkten ist es von Bedeutung zu wissen, ob Merkmale des Beamten mit der Angriffswahrscheinlichkeit in Beziehung stehen. So können nach Schmalzl (2005, S. 10) bspw. Nachlässigkeiten im Auftreten, Fehler bei der Eigensicherung sowie mangelnde Koordination mit dem Streifenpartner als „Gewalt-Beschleuniger“ auf Seiten des Beamten fungieren, die einen Übergriff wahrscheinlicher machen.

Generell kann bei personenbezogenen Faktoren zwischen sichtbaren und nicht sichtbaren Merkmalen unterschieden werden. Zu ersteren gehören bspw. Geschlecht, Körpergröße oder Alter des Beamten, welche für den Bürger unmittelbar erkennbar sind. Die Konfrontation mit einem dienstälteren Beamten bspw. könnte zu anderen Reaktionen auf Seiten des Bürgers führen als bei jungen Beamten. Möglicherweise wird den Anweisungen älterer Polizeibeamter stärker Folge geleistet, weil diesen mehr Kompetenz zugesprochen wird. Dadurch reduziert sich wiederum das Risiko einer Eskalation zwischen Polizei und Bürger. Nicht sichtbare Merkmale manifestieren sich hingegen erst in der Interaktion mit dem Bürger. Faktoren, die hier eine Rolle spielen, sind Einstellungen und Kompetenzen, die Auswirkungen auf das Verhalten des Beamten und somit auch des Bürgers haben. So könnten bspw. Beamte, die sehr risikobereit sind, ihre Eigensicherung stärker vernachlässigen, wodurch sie leichter Ziel eines Angriffs werden. Hingegen tragen bestimmte soziale und kommunikative Kompetenzen möglicherweise zu einer Deeskalation von Situationen bei, und verringern somit das Risiko eines Gewaltübergriffs.

Inwiefern bestimmte Merkmale der Beamten mit der Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden, in Zusammenhang stehen, soll nachfolgend untersucht werden. Da keine Informationen zu Einstellungen und Kompetenzen, also den nicht sichtbaren Merkmalen, der Beamten zur Verfügung stehen, beschränken sich die Analysen auf sichtbare Faktoren. Hier liegen die üblichen demografischen Angaben zu Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht und Herkunft des Beamten vor. Als Opfer von Gewalt werden all jene Beamte betrachtet, die im Jahr 2009 mindestens einmal körperlich angegriffen wurden (schubsen, festhalten, schlagen, treten). Dies trifft knapp auf die Hälfte aller Befragten (50,7 %) zu. Die Auswahl erfolgte aus zwei Gründen: Erstens werden diese Formen von Gewalt verglichen mit dem Einsatz von Gegenständen/Waffen relativ häufig erlebt. Zweitens wird die physische Integrität der Beamten durch solche Gewalterfahrungen beschädigt, so dass es sich um folgenreiche Angriffe handelt. Um festzustellen, welche Faktoren das Viktimisierungsrisiko beeinflussen, wurde auf die Methode der logistischen Regression zurückgegriffen. Diese Form der Analyse erlaubt es, den Einfluss einer Variablen (z. B. Geschlecht) unter Berücksichtigung des Einflusses anderer Merkmale (z. B. Alter) festzustellen. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, wurden dabei zwei Modelle berechnet. Das erste konzentriert sich ausschließlich auf die genannten persönlichen Merkmale des Beamten, während der zusätzliche Einfluss von tätigkeitsbezogenen Faktoren (Dienstart, Tätigkeitsgebiet) im zweiten Modell berücksichtigt wird. Diese Faktoren beschreiben den Arbeitsalltag der Beamten und determinieren somit zu einem gewissen Teil, welchen Situationen die Beamten in ihrem Dienst üblicherweise ausgesetzt sind. Zur Interpretation des Einflusses der einzelnen Variablen wird auf den Exponentialkoeffizienten B (Exp(B)) als Kennwert verwiesen. Erreicht dieser Werte über 1, ist von einer das Verletzungsrisiko erhöhenden Wirkung des jeweiligen Faktors auszugehen. Werte unter 1 sprechen hingegen für einen risikomindernden Einfluss.

Tabelle 1


Beamtenbezogene Einflussfaktoren auf einen körperlichen Angriff 2009 (logistische Regression; abgebildet: Exp(B))
Modell 1Modell 2
Geschlecht: männlich1.826***1.655***
Alter: unter 30 Jahre Alter: 30 bis unter 50 Jahre Alter: ab 50 JahreReferenz 0.408*** 0.156***Referenz 0 583*** 0.300***
Größe: klein (unter 176 cm) Größe: mittel (176 bis unter 183 cm) Größe: groß (ab 183 cm)Referenz 1.098* 1.145*Referenz 1.109* 1.177**
Gewicht: leicht (unter 78 kg) Gewicht: mittel (78 kg bis unter 91 kg) Gewicht: schwer (ab 91 kg)Referenz 0.959 0.955Referenz 0.943 0.904
Migrationshintergrund1.280*1.313*
Dienstgruppe: andere Dienstgruppe: besondere Einsatzeinheit Dienstgruppe: Einsatz- und Streifendienst (inkl. Fußstreife)Referenz 6 460*** 5.247***
Einsatzgebiet: ländlich/städtisch (unter 250.000 Einwohner) Einsatzgebiet: mittelstädtisch/großstädtisch (ab 250.000 Einwohner)Referenz 0.929
N Nagelkerkers R218.101 .08518.101 .243

*** p < .001, ** p < .01, * p < .05

 

Männliche Beamte weisen ein signifikant höheres Risiko auf, körperlich attackiert zu werden, verglichen mit ihren Kolleginnen. So wurden 52,1 % aller männlichen Beamten im Jahr 2009 mindestens einmal körperlich angegriffen, Beamtinnen hingegen nur zu 45,2 %. Weiterhin lässt sich ein Effekt des Alters auf die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erleben, festhalten. Während etwa zwei Drittel aller unter 30jährigen Beamten (69,6 %) Opfer eines Angriffs im Dienst wurden, trifft dies nur auf rund ein Drittel aller über 50jährigen Beamten zu (31,8 %; Beamte zwischen 30 und unter 50 Jahren: 52,4 %). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass die Körpergröße des Beamten einen risikoerhöhenden Effekt hat, wohingegen das Gewicht nicht mit dem Viktimisierungsrisiko in Zusammenhang steht. Weisen die Beamte einen Migrationshintergrund auf, d. h. dass mindestens ein leibliches Elternteil nicht deutscher Herkunft ist, finden sich ebenfalls etwas höhere Viktimisierungsraten verglichen mit deutschen Beamten ohne Migrationshintergrund. Wie das zweite Modell zeigt, spielt neben den genannten personalen Faktoren auch die Dienstgruppenzugehörigkeit eine bedeutsame Rolle. Einsatz- und Streifendienstbeamte haben ein mehr als fünffach (69,6 %), Beamte besonderer Einsatzeinheiten sogar ein über sechsfach (73,3 %) höheres Risiko, körperlich angegriffen zu werden, verglichen mit anderen Dienstgruppen (z. B. Kriminal- und Ermittlungsdienst: 22,3 %). Hingegen hat die Größe des Tätigkeitsgebietes, gemessen an der Anzahl der Einwohner, den Analysen zufolge keinen Einfluss auf das Risiko einer Opferwerdung.

Als ein Maß zur Bestimmung der Güte der Vorhersage des Viktimisierungsrisikos anhand der im Modell berücksichtigten Variablen, kann der Anteil an aufgeklärter Varianz (hier: Nagelkerkers R2) betrachtet werden. Wie deutlich wird, klären ausschließlich demografische Merkmale mit 8,5 % nur einen Teil der Varianz auf (Modell I). Der Anteil steigt um fast das Dreifache an (24,7 %), wenn zusätzlich die Dienstgruppenzugehörigkeit berücksichtigt wird. Folglich scheinen personenbezogene Merkmale einen geringen Einfluss auf das Risiko, körperlich angegriffen zu werden, zu haben. Bedeutsamer sind strukturelle Faktoren wie die Dienstgruppe und die damit in Zusammenhang stehenden Aufgabengebiete. Dass Beamte aus dem Einsatz- und Streifendienst häufig Opfer von Gewalt werden, bestätigt sich auch in früheren Untersuchungen (z. B. Falk, 2000; Griffiths & McDaniel, 1993; Manzoni, 2003). Da sie tagtäglich mit emotional aufgewühlten, betrunkenen, aggressiven und hilflosen Bürgern interagieren, ist ein erhöhtes Risiko für einen Angriff nicht überraschend. Gleiches gilt auch für besondere Einsatzeinheiten, die mit Einsätzen betraut sind, welche ein hohes Gewaltpotential bergen (z. B. Demonstrationen). Schwerer zu erklären sind die gefundenen Unterschiede im Viktimisierungsrisiko bezüglich des Geschlechts, des Alters, des Migrationshintergrunds und der Körpergröße. Im Folgenden sollen verschiedene Erklärungsansätze für die Befunde angeboten werden, die es in zukünftigen Studien zu untersuchen gilt.

Hinweise darauf, dass Polizistinnen seltener Opfer von Gewalt im Dienst werden, finden sich auch bei Bosold (2005), Bragason (2006) und Burke und Mikkelsen (2005). Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass die Angreifer, welche überwiegend männlich sind, größere Hemmungen haben, eine Beamtin anzugreifen als einen Beamten. Eine zweite Erklärung wäre, dass Beamtinnen mit anderen, weniger gewaltreichen Aufgaben betraut sind als ihre Kollegen. Hinweise auf eine geschlechtsstereotype Aufgabenverteilung, wonach Beamtinnen insbesondere in Situationen eingesetzt werden, die den Umgang mit Kindern oder Frauen erforderlich machen, finden sich bspw. bei Rustemeyer und Tank (2001). Drittens könnte es sein, dass männliche Beamte ihre Kolleginnen gerade in gefährlichen Situationen aus einem „männlichen Schutzgebaren“ heraus, vor einem Angriff verschonen wollen und sich schützend vor sie stellen („Ritterlichkeitshypothese“, Manzoni, 2003, S. 64). Des Weiteren besteht seit dem Eintritt von Frauen in die Polizei die Annahme, dass Beamtinnen aufgrund ihrer Sozialisation kommunikativer, empathischer, unterstützender und weniger aggressiv seien als ihre Kollegen (Rabe-Hemp, 2008). Folglich könnte vermutet werden, dass Beamtinnen aufgrund dieser Kompetenzen gerade in Konfliktsituationen stärker deeskalierend wirken, wodurch sich ihr Risiko angegriffen zu werden, senkt. Allerdings findet bspw. die Hypothese, wonach Beamtinnen sich dem Bürger gegenüber stärker unterstützend verhalten, nur teilweise empirische Bestätigung (ebd.). Vielmehr scheinen Frauen, verglichen mit ihren männlichen Kollegen, weniger Drohungen und Gewalt in Interaktionen mit dem Bürger einzusetzen (Garner et al., 1996; Manzoni, 2003; Rabe-Hemp, 2008; Schuck & Rabe-Hemp, 2005). Da sich der Gewalteinsatz von Bürger und Polizei gegenseitig bedingen (z. B. Garner et al, 1996; Manzoni, 2003), könnten Beamtinnen deshalb eine niedrigere Angriffsrate aufweisen.

Der Befund, dass jüngere Beamte häufiger Opfer von Gewalt im Dienst werden als ältere, kann vor dem Hintergrund anderer Untersuchungen als relativ gesichert gelten (vgl. z. B. Bososld, 2005; Bragason, 2006; Griffiths & McDaniel, 1993; Kaminski & Sorenson, 1995; Manzoni, 2003). Naheliegend ist die Vermutung, dass ältere Beamte mit anderen Aufgabenbereichen betraut sind als jüngere, so dass letztere auch ein höheres Risiko aufweisen, einen Angriff zu erleben. Der Vergleich beider Modelle (s. Tabelle 1) spricht zumindest teilweise für diese Erklärung, da sich die Koeffizienten durch die Aufnahme des Tätigkeitsbereichs abschwächen. Eine weiterer Grund für die gefundenen Unterschiede könnte darin liegen, dass ältere Beamte wegen ihrer Diensterfahrung besser in der Lage sind, die Gefährlichkeit bestimmter Einsatzsituationen bzw. Bürger einzuschätzen und entsprechend präventiv zu agieren, wodurch eine potenzielle Eskalation verhindert werden kann. Zudem wäre es möglich, dass gerade jüngere Beamte unter dem Druck stehen, sich beweisen zu müssen. Möglicherweise reagieren sie auf Provokationen seitens der Bürger weniger gelassen, sprechen folglich schneller Drohungen aus, und fördern damit einen Konflikt.

Obgleich durch die Festlegung einer Mindestkörpergröße von Polizeibeamten implizit davon ausgegangen wird, dass die Körpergröße von Bedeutung für den Beruf sein kann, wurde diese Vermutung bislang kaum empirisch geprüft. Die wenigen Studien, die auch Körpergröße und Gewicht des viktimisierten Beamten mit berücksichtigt haben, liefern diesbezüglich inkonsistente Befunde (vgl. z. B. Garner et al., 1996; Griffiths & McDaniel, 1993; Rabe-Hemp & Schuck, 2007). Insofern sind die hier erzielten Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren. Einige der zuvor im Zusammenhang mit dem gefunden Geschlechtseffekt diskutierten Erklärungen könnten auch hier eine Rolle spielen. Demnach mögen bspw. Selektionseffekte dafür verantwortlich sein, dass größere Beamte häufiger angegriffen werden, da sie gerade aufgrund ihres Körperbaus besonders häufig in gefährlichen Situationen eingesetzt werden oder sich bei diesen zumindest im Vordergrund aufhalten. Andererseits greift möglicherweise auch das polizeiliche Gegenüber absichtlich den größeren Beamten an, da von ihm die größere Gefahr auszugehen scheint. Eine weitere Erklärung wäre, dass die Beamten selbst aufgrund des Wissens um ihre körperliche Kraft weniger vor Konfrontationen zurückschrecken.

Ebenfalls mit Vorsicht zu interpretieren, ist der gefundene risikoerhöhende Effekt bezüglich des Migrationshintergrundes, da die Fallzahlen niedrig sind.6 Die gefundenen Unterschiede können sowohl auf Seiten des Beamten selbst als auch auf Seiten des Bürgers gesehen werden. Möglicherweise haben Beamte mit Migrationshintergrund aufgrund mangelnder Akzeptanz ein ausgeprägteres Bedürfnis, sich den Respekt des Bürgers zu verschaffen, und reagieren entsprechend härter, wenn sich die Bürger ihnen gegenüber respektlos verhalten. Andererseits könnte es auch der Fall sein, dass dem Beamten von Seiten des Bürgers Fremdenfeindlichkeit entgegengebracht wird, wodurch die Situation verschärft wird.

3.3 Wie hat sich die Gewalt gegen Polizeibeamte in den Jahren 2005 bis 2009 entwickelt?

Ein zentrales Anliegen der Studie war es, Hinweise auf die Entwicklung von Gewaltübergriffen gegen Polizeibeamte zu erhalten. Wie erwähnt, ist zwischen 2000 und 2008 ein Anstieg von Widerstandsdelikten gegen die Staatsgewalt festzustellen, die als Hinweis auf eine zunehmende Gewaltbereitschaft Polizeibeamten gegenüber gewertet wurde. Um detailliertere Informationen zur Entwicklung von Übergriffen zum Nachteil von Polizeibeamten zu gewinnen, wurden die Beamten gefragt, wie häufig sie in den Jahren 2005 bis 2009 von einem Übergriff betroffen waren, der zu einer mindestens eintägigen Dienstunfähigkeit geführt hat. Die Auswahl des Referenzzeitraums von fünf Jahren kann damit begründet werden, dass die Erfassung der Übergriffe retrospektiv erfolgte, d. h. die Beamten rückblickend angeben sollten, wie oft sie in dieser Art angegriffen wurden. Es ist anzunehmen, dass Gewaltereignisse sowie deren Umstände (z. B. Ort des Übergriffs, Anzahl der Täter) innerhalb der letzten fünf Jahre verlässlicher erinnert werden können als solche, die schon deutlich länger zurückliegen. Auf Grund dessen wurde auch das Kriterium der Dienstunfähigkeit infolge eines Angriffs gewählt, wodurch besonders schwerwiegende bzw. folgenreiche Gewalterfahrungen identifiziert werden sollten.

Von allen befragten Polizeibeamten erlebte etwa jeder achte (12,9 %) innerhalb von fünf Jahren zumindest einen Übergriff, der einen Dienstausfall von mindestens einem Tag zur Folge hatte. Dabei ist der Anteil an viktimisierten Beamten zwischen 2005 und 2009 von 2,6 % auf 4,5 % kontinuierlich gestiegen (s. Abbildung 2). Die durchschnittliche Anzahl an Übergriffen pro Opfer bleibt über die Jahre hinweg dabei relativ konstant (2005: 1,09; 2009: 1,16). Eine differenzierte Betrachtung der Übergriffe nach der Dauer der Dienstunfähigkeit weist allerdings auf unterschiedliche Entwicklungsverläufe hin. Besonders schwere Angriffe, in deren Folge die betroffenen Beamten über zwei Monaten dienstunfähig waren, sind über die Jahre auf insgesamt niedrigem Niveau konstant geblieben. Die Quote an Übergriffen mit einer Dienstunfähigkeitsdauer von mindestens einer Woche bis maximal acht Wochen weist innerhalb der ersten vier Jahre ebenfalls relativ stabile Werte auf. Lediglich von 2008 (0,9 %) auf 2009 (1,3 %) ist eine deutliche Zunahme zu verzeichnen. Insofern ist hauptsächlich die Zunahme von Übergriffen mit maximal sechstätiger Dienstunfähigkeit für den gefundenen Anstieg zwischen 2005 und 2009 verantwortlich.