Buch lesen: «Gesundheit - Begriff, Phänomen, Konstrukt»
Inhaltsverzeichnis
ThPQ 170 (2022), Heft 1
Schwerpunktthema:
Gesundheit – Begriff, Phänomen, Konstrukt
Christian Spieß
Liebe Leserin, lieber Leser!
Matthias Beck
Gesundheit und Krankheit. Zur Mehrdimensionalität eines Geschehens
1 Hinführung
2 Gesundheit und Krankheitsinterpretationen
3 Zum Begriff der Seele und der leib-seelischen Einheit des Menschen
4 Zusammenschau von Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie
5 Zusammenfassung
Klara-Antonia Csiszar
Wohlauf. Existenzanalytische Zugänge und ihre Bedeutung für die Kirchenpraxis
1 Logotherapie und Existenzanalyse – eine kurze systematische Darstellung
2 Fünf Thesen zur Person und ihre Relevanz für die kirchliche Praxis
3 Anmerkungen zum Schluss
Dirk Lanzerath
Gesundheit und Krankheit als normative Begriffe sozialer Praxen. Lernen in und aus der Krise
1 Einführung: Wider die reine Funktionalität
2 Medizinische und lebensweltliche Blicke
3 Deutungshoheit und Deutungspraxis
4 Die Macht der digitalen Verarbeitung und Verbreitung
5 Fazit: Erleben und Selbstauslegung im sozialen Kontext
Manfred Prisching
Die Inszenierung von Gesundheit
1 Machbarkeit des Körpers
2 Die Konstruktion der Gesundheit
3 Der Körper als Darstellung
4 Romantik des Körpers
5 Gesundheit in der Epidemie
6 Beschädigte menschliche Überlegenheit
Thomas Staubli
Gesundheit in der Hebräischen Bibel. Biblisch-anthropologische und sozialgeschichtliche Perspektiven
1 Gesunder (krankheitspräventiver) Lebensstil
2 Glückliche Liebe als günstige Voraussetzung und Rahmenbedingung für Gesundheit
3 Seuchen als Diener Gottes
4 Schluss
Abhandlungen
Michael Quisinsky
Priester in Poitiers. Entwicklungen – Perspektiven – Fragen
1 Fragen an die Entwicklungen in Poitiers
2 Jenseits eines einzigen Modells
3 Andere Wege ausprobieren
4 Ähnliche Anliegen – unterschiedliche Lösungsansätze
5 Weiterführende Fragen
Katja Winkler
Katholisch-soziale Ideen im Wandel. Zum Verhältnis von Glaubenspraxis, christlichen Sozialwissenschaften und katholischer Soziallehre
1 Aktualisierung katholisch-sozialer Ideen
2 Veränderbarkeit katholisch-sozialer Ideen
3 Konkretisierbarkeit katholisch-sozialer Ideen
Manfred Scheuer
Hoffen und lachen. Walter Raberger (1939–2021)
Literatur
Das aktuelle theologische Buch
Besprechungen
Eingesandte Schriften
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Redaktion
Kontakt
Anschriften der Mitarbeiter
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser!
„Bleiben Sie gesund!“ Diese Formel hat sich in den vergangenen beiden Jahren als Bestandteil der Alltagssprache etabliert. Wir verwenden sie nun häufig als Abschiedsgruß, als Schlusssatz von Briefen und Mails oder sogar am Ende der Fernsehnachrichten. Manchmal wird noch ergänzt, Gesundheit sei doch die Hauptsache. Dabei scheinen wir ein gemeinsames Verständnis davon, was Gesundheit ist, vorauszusetzen. Nicht zuletzt in den öffentlichen Diskursen rund um die „Corona-Pandemie“ wurde ein solches geteiltes Verständnis von Gesundheit vorausgesetzt – in diesem Fall gewiss vor allem als Abwesenheit einer schweren Erkrankung. Gesundheit jedoch spielt weit über diese allgegenwärtige aktuelle Herausforderung eine zentrale Rolle für unser Leben und Zusammenleben. Es ist das Anliegen der Redaktion, mit diesem Heft die Vielschichtigkeit von Gesundheit – was wir mit ihr verbinden und wie sie unsere Lebensweisen prägt – genauer zu betrachten. Denn tatsächlich gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was Gesundheit ist und wie wir unterschiedliche – physische, psychische, gesellschaftliche – Dimensionen der Gesundheit miteinander ins Verhältnis setzen oder voneinander trennen können. Welche weltanschaulichen, religiösen, kulturellen Hintergrundannahmen prägen unsere Rede von Gesundheit? Welche soziologischen, bibel- und systematisch-theologischen, ethischen und philosophischen Perspektiven bedingen und konstruieren letztlich das, was wir als Gesundheit bezeichnen?
Den Auftakt bildet eine Skizze der Mehrdimensionalität des Gesundheitsbegriffs aus theologisch-ethischer Perspektive von Matthias Beck (Wien). Grundannahme des Autors ist es, dass Gesundheit nicht ohne Krankheit gedacht werden kann, und so beschreibt er Gesundheit und Krankheit gewissermaßen als korrespondierende Phänomene. Klara-A. Csiszar (Linz) zeigt existenzanalytische Zugänge zum Phänomen Gesundheit auf und greift dabei unter anderem auf die Arbeiten von Viktor Frankl zurück. Sie verweist auf die dimensionale Ontologie als anthropologische Grundlage der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie und geht der Frage nach, welches Potenzial die Auseinandersetzung mit Frankl für eine Weiterentwicklung der kirchlichen Praxis bereithält. Eine umfassende (praktisch-)philosophische Darstellung des Gesundheitsdiskurses entwickelt Dirk Lanzerath (Bonn) in seinem Beitrag. Er fasst Gesundheit (wie auch Krankheit) als Phänomen, das sich zunächst auf Individuen bezieht, aber auch gesellschaftliche Bedeutung hat. Es gibt einerseits einen physischen Bezug oder „Naturbezug“, der andererseits im Rahmen einer gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktion von Gesundheit und Krankheit interpretiert und erschlossen werden muss. Auf eine dramatische historische Veränderung der Gesundheit in der westlichen Moderne weist Manfred Prisching (Graz) hin: Mit den Fortschritten in den Bereichen der Ernährung und der Medizin hat sich die Illusion einer Machbarkeit der Gesundheit etabliert, bis hin zur gesundheitlichen Perfektionierung des Menschen. Die „Corona-Pandemie“ allerdings durchkreuzt sowohl die Machbarkeitsideologie als auch die romantische Naivität einer friedlichen Natur. Thomas Staubli (Fribourg) beschließt mit einem Blick auf die Behandlung des Themas Gesundheit in der Hebräischen Bibel den thematischen Teil dieses Heftes. Auch die Motive einer weit vorindustriellen Kultur zeugen von der anthropologischen Relevanz der Gesundheit und von Ideen einer „gesunden“ Weise des Lebens und Zusammenlebens.
Die Beiträge verorten Gesundheit insgesamt in verschiedenen Spannungsfeldern: Offenbar ist es kaum möglich, einen Begriff der Gesundheit unabhängig von dem ihr in einer Art Komplementarität gegenüberstehenden Begriff der Krankheit zu erörtern. Es scheint in vielen Gesundheitsvorstellungen mehr oder weniger vordergründig um die Abwesenheit von Krankheit zu gehen, auch wenn dies nicht notwendig so sein muss. Ein zweites Spannungsfeld ist jenes zwischen individueller und sozialer Dimension: Wir erleben Gesundheit als je einzelne Menschen an oder in unserer je eigenen Physis und Psyche, aber Gesundheit ist nicht einfach „von Natur aus da“, sondern wir konstruieren sie gesellschaftlich; wir verstehen, interpretieren und bestimmen sie anthropologisch, theologisch, philosophisch, soziologisch, kulturell, künstlerisch etc. Und ein drittes Spannungsfeld ist jenes zwischen Praxis und Theorie, entstanden durch das konkrete Erleben einer krisenhaften Situation für die Gesundheit: Mit der „Corona-Pandemie“ wird auch der Diskurs um Gesundheit „neu aufgemischt“. Die Beiträge zeigen fast durchgängig, wir stark die Praxis des Umgangs mit der Pandemie und ihren Begleiterscheinungen die theoretische Auseinandersetzung mit der Gesundheit prägt.
Über die thematischen Beiträge hinaus finden Sie in diesem Heft einen Aufsatz von Michael Quisinsky, der unter dem Titel „Priester in Poitiers“ den Wandel kirchlicher Praxis angesichts gesellschaftlicher Veränderungen in Frankreich theologisch erörtert. Katja Winkler schließlich reflektiert in ihrem Beitrag tiefgreifende Veränderungen im christlich-sozialen Denken seit der Veröffentlichung der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum vor 130 Jahren. Sie wirbt für eine liberale christliche Sozialethik im kritischen Dialog mit der klassischen katholischen Soziallehre.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestimmt Gesundheit in ihrer berühmten und umstrittenen Definition als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Für uns alle spielt Gesundheit eine entscheidende Rolle im Leben, wenngleich aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlicher Intensität. Wir alle sind herausgefordert, uns eine Haltung zu unserer eigenen Gesundheit anzueignen. Die Redaktion hat bei der Auswahl dieses Themas nicht in erster Linie an die „Corona-Pandemie“ gedacht. Im Zentrum sollte vielmehr ein eigenständiger Zugang zu der Frage stehen, was Gesundheit eigentlich ist. Dass wir bei diesen Überlegungen aber immer wieder auf die unsere Zeit prägende Pandemie stoßen, ist nicht nur eine beiläufige Wahrnehmung, sondern verweist auf die grundlegende Einsicht: Gedanken zu allgemeinen Phänomenen wie Gesundheit können wir immer nur aus unseren konkreten historischen und sozialen Gegebenheiten und Lebensumständen heraus entwickeln.
Ihr
Christian Spieß
(für die Redaktion)
Matthias Beck
Gesundheit und Krankheit
Zur Mehrdimensionalität eines Geschehens
♦ Gesundheit kann nicht ohne Krankheit gedacht und beschrieben werden. Vielmehr stehen beide in einem Wechselverhältnis zueinander. Dieses gilt es immer wieder neu auszutarieren. Die dabei bestimmenden Einflussgrößen sind jedoch vielfältig. Sie reichen von immunologischen, über genetische bis hin zu psychologischen Faktoren. Selbige beziehen sich ebenfalls aufeinander und bedingen sich wechselseitig. Hochinteressant ist nun, dass diese Dimensionen nicht nur in der Medizin die Grundlage für die Wahrnehmung von Krankheit und somit die Herangehensweise an die Behandlung bestimmen, sondern dass sie sich auch in der Weise spiegeln, wie Krankheit über Jahrtausende hinweg verstanden und interpretiert wurde. Am Ende war man sich immer der Ganzheit und der Ganzheitlichkeit des Menschen und damit der Einheit von Körper, Geist und Seele bewusst. (Redaktion)
1 Hinführung
Der Mensch ist niemals ganz gesund. Insofern ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Gesundheit, die beschrieben wird als „ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO) weit überzogen: Gesundheit ist ein ständig neu zu erstellendes Gleichgewicht (Homöostase) zwischen „Angreifern“, wie z. B. Viren, Bakterien, Pilzen oder auch Krebszellen, die jeder Mensch in sich trägt, und dem Immunsystem, das diese Fremdkörper abwehrt. Was passiert, wenn das Immunsystem diese Angreifer nicht erkennt, haben wir in der Corona-Pandemie gesehen. Das Immunsystem reagiert dann entweder gar nicht oder zu schwach, zu stark oder verkehrt. Daher gibt es die sehr unterschiedlichen Krankheitsverläufe. Deswegen muss das Immunsystem mit einer Impfung zielgenau trainiert werden. Der Mensch kann nur überleben, wenn das Immunsystem funktioniert. Das Immunsystem ist an nahezu allen Krankheiten beteiligt. Bei Allergien reagiert es zu stark, bei Autoimmunerkrankungen richtet es sich gegen den eigenen Körper und bei Infektionserkrankungen oder auch Krebs ist es zu schwach und kann die Viren, Bakterien, Pilze oder die entstehenden Krebszellen nicht hinreichend bekämpfen. Bei der AIDS Erkrankung ist das Immunsystem selbst durch den HIV-Virus angegriffen.
Ein zweites System, das für die Gesundheit entscheidend ist, ist das der Genetik-Epigenetik-Verschaltung. Gene (beim Menschen etwa 25.000) sind die Grundlage für die Information im Körper, aber noch nicht die ganze Information. Gene müssen aktiviert und inaktiviert werden. Diese aktivierenden oder inaktivierenden Faktoren nennt man epigenetische Einflüsse. Wenn zum Beispiel ein Gen geschädigt ist, entsteht noch keine Krankheit. Diese entsteht erst dann, wenn das beschädigte Gen durch epigenetische Zusatzinformationen aktiviert wird. Für die hier diskutierte Frage von Gesundheit und Krankheit ist dieses Faktum deshalb so bedeutsam, da alle Menschen genetische Veränderungen haben (zum Teil todbringende). Wenn aber diese Gene nicht aktiviert werden, geschieht nichts. Daher sind alle Menschen wohl genetisch krank, aber doch meistens insgesamt gesund. Epigenetische Einflüsse geben oft den Ausschlag, sie können in der Umwelt liegen, in der Ernährung, in dem Maß an täglicher Bewegung, aber auch in den Lebensstilen, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Inneren des Menschen mit seinem Denken und Fühlen. Im Gehirn wird das Denken und Fühlen repräsentiert, daher ist folgendes Zitat hier angebracht: „Das Gehirn hat […] direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden“1. Das Gehirn denkt und fühlt zwar nicht (der Mensch denkt und fühlt), aber in ihm werden das Denken und die Emotionalitäten verschaltet und repräsentiert.
Aber nicht nur das Denken und Fühlen haben Einfluss auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Lebensstile. So bringt es der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer auf den Punkt. Er lautet: „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.“2 Dort heißt es unter anderem: „Daß zwischenmenschliche Beziehungen Einfluß auf die Aktivität von Genen und auf biologische Abläufe haben, hat sich auch für das Immunsystem als zutreffend erwiesen. Stress und Depression verändern die Genaktivität nicht nur bei zahlreichen Immunbotenstoffen (Zytokinen), sondern auch in Zellen des Immunsystems (T-Zellen und Natural-Killer Zellen), sodass deren Abwehrkraft gegenüber Erregern und gegenüber Tumorzellen entscheidend vermindert ist.“3 Die Medizin weiß seit langem, dass durch seelische Belastungen, dauerhafte Konflikte oder auch durch Depressionen das Immunsystem unterdrückt werden kann und so Krankheiten leichter entstehen. Heute erkennt man bereits die genetisch-epigenetischen Interaktionen „hinter“ dem Immunsystem. Auch hier vermerkt Joachim Bauer, dass „der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab[stellt], die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind“4.
Das Wissenschaftsgebiet der Psychoneuroimmunologie befasst sich mit diesen Zusammenhängen. Dieses Wissenschaftsgebiet ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass man nicht nur die Auswirkungen des Innenlebens des Menschen auf das Immunsystem kennt, sondern auch die dahinterliegenden genetisch-epigenetischen Mechanismen. Daher könnte man heute auch von einer Psychoneurogenetik sprechen. Gerade bei Krebserkrankungen, die alle einen genetischen Hintergrund haben, sind diese epigenetischen Einflüsse von großer Bedeutung.5 Die epigenetischen Einflüsse im Inneren des Menschen betreffen nicht nur die psychologische, sondern auch die existenziell-spirituelle Dimension des Menschen. Wie später zu zeigen ist, hängen Phänomene wie innerer Friede, Freude, Stimmigkeit sowie auf der anderen Seite Unruhe, Zerrissenheit, Unfrieden, Angst auch mit dem Gottesverhältnis des Menschen zusammen. Diese inneren Befindlichkeiten wirken wiederum auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen ein.
Wenn man nicht genau definieren kann, was Gesundheit eigentlich ist, kann man sich dem Phänomen vom Mangel an Gesundheit, von Krankheiten und Krankheitsinterpretationen her nähern.
2 Gesundheit und Krankheitsinterpretationen
Der Versuch einer adäquaten Interpretation von Krankheitsphänomenen ist im Laufe der Geschichte immer wieder vorgenommen worden.6 Er entspricht dem Bedürfnis des Menschen nach einem tieferen Verständnis von Krankheiten. Geht man in der biblisch-abendländischen Geschichte zurück – nur diese wird hier betrachtet –, dann zeigt sich, dass auf Fragen nach einer adäquaten Interpretation von Krankheiten unterschiedliche Antworten gegeben wurden.7
In Frühkulturen (bis hin zum Neuen Testament) war man der Auffassung, dass böse Geister und Dämonen den Menschen überfallen, besetzen und erkranken lassen. Im Alten Testament ging man davon aus, dass Gott die Krankheiten schickt, er sie als Heilender aber auch wieder nehmen kann. Neben einer Schuld-Strafe-Äquivalenz wurde ihr Sinn auch in Erziehungs-, Prüfungs- oder Läuterungsabsichten Gottes gesehen. Krankheiten bekamen ausdrücklich religiöse Bedeutung.8
Im Neuen Testament wird Krankheit ebenfalls vor dem Hintergrund der Beziehung des Menschen zu Gott gesehen. Wenn gesagt wird, dass der Engel des Herrn Herodes Agrippa schlägt, der dann, von Würmern zerfressen, stirbt (Apg 12,23), dass diejenigen, die den Herrn auf die Probe stellen, durch Schlangenbisse umkommen (1 Kor 10,9), dass Paulus ein Stachel ins Fleisch getrieben wird – ein Bote Satans, der ihn mit Fäusten schlagen soll –, damit er sich nicht überhebt (2 Kor 12,7), dann zielt das Interesse der Darstellungen auf die existenziellen Erfahrungen, welche mit Krankheiten verbunden sind. Rein natürliche Krankheitsursachen werden nicht angeführt, es fehlt eine objektivierend-wissenschaftliche Betrachtung. Ferner spielt die Annahme einer Besessenheit durch Dämonen eine bedeutsame Rolle. Umgekehrt wird Heilung auf göttliches Handeln und den Glauben des Menschen zurückgeführt.
Nicht selten wird Krankheit als Folge der Sünde angesehen (Joh 5,14; 1 Kor 11,30 ff.), doch ist es dem Menschen verwehrt, eigenmächtig den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit herzustellen (Joh 9,1–3). Krankheiten werden damit einer eindeutigen menschlichen Interpretation entzogen. Dem Betroffenen soll nicht zusätzlich die Last einer Schuld aufgebürdet werden. Hingegen dürfen sich die Gesunden nicht in der falschen Gewissheit wiegen, der Umkehr nicht zu bedürfen. Der Zusammenhang Sünde – Krankheit kann gegeben sein, eine eindeutige Aussage darüber ist aber dem Menschen verwehrt. Wichtiger als die Frage nach der Ursache ist die nach der finalen Bedeutung. Diese kann darin bestehen, dass die Herrlichkeit Gottes anhand von Heilungen offenbar wird (Joh 9,3), oder aber sie liegt – wie im Fall des Paulus – im „pädagogischen“ Bereich: Er soll sich wegen der an ihn ergangenen Offenbarungen nicht überheben (vgl. 2 Kor 12,7).
Im außerbiblischen Bereich will Hippokrates eine bestimmte, aus dem Gleichgewicht geratene Säftekonstellation (Humoralpathologie) für Krankheitsentstehungen verantwortlich machen,9 und der griechisch-römische Arzt Galen sucht auf der Basis seiner ersten Entdeckungen zum Blutkreislauf – Grundlage für die wissenschaftliche Medizin der Neuzeit10 – die Bewegungen des Blutes therapeutisch zu nutzen. Im Mittelalter werden Krankheiten wiederum in religiösem Kontext gesehen und zwar im „Dienst“ am religiösen Heil des Menschen.11 Als Ursachen kommen Besessenheit durch den Teufel oder Hexerei in Betracht und Krankheiten werden als Strafe Gottes angesehen.12
Der Mensch wird im Mittelalter – besonders bei Hildegard von Bingen – als in Einheit mit dem Kosmos stehend betrachtet. Da Krankheiten im Kontext des menschlichen Gottesverhältnisses gesehen werden, kann sich eine gestörte Harmonie zwischen Mensch und Gott in Krankheiten ausdrücken. Gesundheit ist daher nicht ohne innere Umkehr und Wiederherstellung dieser Harmonie zu erreichen. Die Bewegung von der Gesundheit zur Krankheit und von der Krankheit zur Gesundheit wird als Abbild des menschlichen Weges vom Paradies zum Erdendasein und von diesem zurück in die Ewigkeit gesehen. Christus ist als Christus medicus letztlich der Arzt des Menschen.13
Mit Beginn der Neuzeit, dem Entstehen eines neuen Weltbildes und dem Aufkommen der experimentellen Naturwissenschaft ändert sich das Bild vom Menschen. Er fällt, religiös gesehen, aus der Einheit mit dem Kosmos heraus. Auf der Basis fortschreitender naturwissenschaftlicher Erkenntnis – vornehmlich als Folge des mechanistischen Weltbildes Isaac Newtons – wird auch in der Medizin das zunächst von René Descartes vorgestellte und von Julien-Offray de Lamettrie weitergeführte Maschinenmodell vom Menschen im 18. Jahrhundert zum Paradigma von Krankheit und Gesundheit. Strukturelle Veränderungen im menschlichen Körper, die man an Leichen feststellen konnte, werden rückwirkend auf lebende Menschen extrapoliert und für Krankheitsentstehungen verantwortlich gemacht (Strukturpathologie).14 Materielle Deformationen gelten als Krankheitsursachen.
Als Gegenbewegung zu dieser statischen Sicht vom Menschen tritt bereits im 17. Jahrhundert eine vitalistische Strömung auf, die dem Menschen ein inneres Lebensprinzip, eine Art „Seele“ zubilligt.15 Jedoch stehen das 18. und 19. Jahrhundert weiterhin unter dem Eindruck einer mechanistischen Vorstellung vom Menschen. Die Entdeckung von Bakterien und anderen Mikroorganismen ermöglicht neue Interpretationen von Krankheiten.16 Schließlich werden im 20. Jahrhundert funktionelle Gründe (Funktionspathologie) für die Entstehung von Erkrankungen verantwortlich gemacht. Man geht davon aus, dass die Funktionen von Organen oder von bestimmten Regulationsmechanismen gestört sind und dadurch Krankheiten entstehen. Als Ursache solcher Funktionsstörungen werden unterschiedliche Parameter genannt: virale und bakterielle Infektionen, genetische Dispositionen, Schädigungen durch radioaktive Strahlen und schließlich auch seelische Ursachen.
Es war Sigmund Freud, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts derartige seelische Faktoren als Ursache für bestimmte Erkrankungen verantwortlich machte. Innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte, die zu Verdrängungen in dem von Freud postulierten Unbewussten führen, drücken sich seiner These nach in Krankheitsphänomenen aus. Mit dieser Annahme wurden – wissenschaftlich gesehen – erstmals seit Beginn der Neuzeit immaterielle Gründe für Krankheitsentstehungen angeführt. Während Freud sich vornehmlich mit neurotischen Erkrankungen befasste, begann sich die aus seinen Erkenntnissen hervorgehende psychosomatische Medizin auch mit organischen Erkrankungen zu beschäftigen. Sie maß den von Freud angesprochenen Konflikten auch Bedeutung für die Entstehung von körperlich-organischen Erkrankungen zu.
Die psychosomatische Medizin, die bis heute über keine einheitlichen Konzepte verfügt, macht seelische Konflikte zusammen mit biologischen und soziologischen Komponenten für Krankheitsentstehungen verantwortlich. Es werden bio-psycho-soziale Konzepte favorisiert. Mit dieser Konzeption bemüht sich die psychosomatische Medizin, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des „Menschen als Maschine“ zu übersteigen und diesen in seiner leib-seelischen Einheit im Kontext seiner Umgebung ernst zu nehmen. Sie strebt damit nach einer ganzheitlichen Sicht des Menschen. Ob diese Ganzheitlichkeit erreicht wird, ist im Laufe der folgenden Ausführungen zu klären.