FILM-KONZEPTE 65 - Christian Petzold

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Aus der Reihe: FILM-KONZEPTE #65
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Autofahrten

In einem Petzold-Film fahren die Menschen Auto.22 Anders als gewöhnlich erfüllt die Fahrt aber keine dramaturgisch-narrative Brückenfunktion, sondern ganze Schlüsselszenen spielen sich im Inneren des Fahrzeugs ab: »Das Auto als Lebensraum stellt seine Insassen einander in minimalistischer Klarheit und Präsenz gegenüber.«23 Die moderne Welt wird fahrend erlebt. Das Auto ist hier mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es bildet eine autochthone Erzählwelt mit eigenen Regeln. Es ist eher eine Wahrnehmungsprothese und wird zu einem intimen Ort, ist »eine erotische Kapsel«24. Schon der Klang der Stimme ändert sich, die Landschaft fließt nach Belieben vorbei. Wenn Clara (Barbara Auer) und Hans (Richy Müller) in DIE INNERE SICHERHEIT ins Auto steigen, fliehen sie vor der Polizei und werden zugleich zur kleinbürgerlichen Familie, die in Urlaub fährt. Das Auto ist eine Kapsel, die die Außenwelt akustisch dämpft, entrückt und die Sinne betäubt, wo der Blick stier wird und immersiv, vor allem im städtischen Verkehr. Sprechen mit dem Anderen vollzieht sich, indem man die Aufmerksamkeit spaltet und ihn nur für Sekundenbruchteile anblickt. Dabei ist die Wahrnehmung zersplittert und man muss während des Navigierens die Welt im Blick behalten, selbst in den Rückspiegeln, was Petzold ausgiebig zeigt. Edmund Husserl beschrieb einmal eine Wagenfahrt in Ding und Raum phänomenologisch vollkommen treffend als eine perzeptive Möglichkeit, die Landschaft an sich vorbeiziehen zu lassen.25 Darin liegt eine Allmacht. Das Auto lässt uns die Stadt und die Landschaft technisch, bildhaft fühlen, indem es sie in Bewegung versetzt. Es ist dies ein Geschwindigkeitseffekt des Subjekts, der alles Äußere unterordnet. Es ist eine umgekehrte Erhabenheit. Eine willkürliche Verkleinerung des Raums liegt darin. Ganze ästhetische Darstellungsformen werden so neu austariert. Paul Virilio hat dies ausführlich beschrieben.26


Zigarettenpause. Clara und Jeanne warten, bis Hans das Auto repariert hat. Kurze Momente der Ruhe in DIE INNERE SICHERHEIT

Modelle. Semiotische Dramaturgie

Es gibt bei Petzold eine Art semiotischer Dramaturgie. Da ist zunächst das sprachliche Zeichen, der verbal gesetzte Hinweis. Dann kommt die Gestik und Mimik hinzu, die dem sprachlichen Zeichen, den Worten oft widerstreitet, wobei wir meistens als Meta-Beobachter beide Sphären überblicken und in der Differenz der Perspektiven erschließen können, was wie vorgetäuscht wird. Man denke an die Diebstahl-Szene im Supermarkt zu Beginn von WOLFSBURG oder an das Casting in GESPENSTER oder an die Verhandlungsszenen in YELLA. Noch interessanter wird es, sobald die spezifisch filmische Ebene mit Montage und Kameraarbeit hinzukommt. Dann entsteht eine weitere Meta-Perspektive, die die Zuschauer leichter identifikatorisch umfängt. So entstehen Potenzierungen von Deutungen. Auch die Montage kann, wenn etwa die Blickachsen entsprechend verschoben werden, zu einem Zeichen werden. Es entstehen aber bei Petzold unterschiedliche Ontologien von Zeichen: Die verbale, die schauspielerische, die filmische Ebene haben jeweils eine andere Reichweite von Ausdrucksformen und interferieren miteinander. Das etwa kann die Literatur nicht, wenngleich das Verfahren literarisch ist. Man kennt es von Jean-Luc Godard und Alexander Kluge, aber Petzold nutzt es ganz selbstverständlich zum Erzählen, vielleicht vergleichbar mit Robert Bresson27. »An den Bruchstellen der Handlungsstränge, besonders um die Vorgeschichten und Fortgänge der Geschichten, liegen Leerstellen, die in Petzolds Filmen in den seltensten Fällen aufgelöst werden. Die Lebenslinien der Figuren kommen aus dem Nichts und verlaufen sich im Ungewissen.«28 Diese Leerstellen gekonnt zu bedeuten, anzeichenhaft zu umtänzeln, das ist Petzolds Kunst.

Cinephilie, Erinnerung, Geschichte als Gegenwart

Seine Filme explizieren kinematografische Erinnerung und bilden einen »cinephilen Echoraum«29, wie Jaimey Fisher es nennt. Sie sind zugleich Fortführungen von Arbeiten, auf die sie sich beziehen, mediale Erinnerungen und Hommagen an die Großen des Kinos, natürlich an Alfred Hitchcock, Jean-Luc Godard, Yasujirō Ozu, Alan J. Pakula, an den wöchentlichen TATORT, den POLIZEIRUF 110 und an die vielen anderen deutschen Kommissar-Serien, aber auch an das amerikanische Kino und das Global Cinema. Visuell, verbal, im schauspielerischen Gestus beziehen sie sich auf die Filmgeschichte als einen kollektiven Gedächtnisraum. Man kann diese Arbeiten in dieser Hinsicht als eine Art cineastisches Übungsfeld filmgeschichtlicher Imagination begreifen, muss es aber nicht. Auch ein nichtakademisches Publikum wird sich mit den Protagonisten identifizieren können. YELLA beispielsweise lässt sich als Auseinandersetzung mit Hitchcocks Ästhetik lesen, wie es Brad Prager30 machte, und sehr viel spricht aus filmästhetischer Sicht dafür. Alternative Lesarten sind aber ebenso möglich. Die für die Postmoderne charakteristische plurale Rezeption gilt auch hier. Sie ist die Bedingung von Petzolds Arbeiten. YELLA ist auch ein Film über die (Alp-)Traumwelten einer unangepassten Sekretärin.

Das Thema der (Wieder-)Erinnerung ist jedoch ebenfalls innerhalb der Handlungswelten Petzolds zentral. Als Barbara ihren ersten Arbeitstag nach der Versetzung in das Provinzkrankenhaus hinter sich hat, fährt sie André mit dem Auto nach Hause. Sie ahnt, dass sie von der Stasi überwacht wird. Gerade das Ausbleiben der Frage, wo sie wohne, wird in ihrer Kurzzeiterinnerung zum Verdacht, den sie artikuliert:

Barbara: An der Kreuzung hätten Sie mich fragen müssen.

André: Was?

Barbara: Rechts oder links.

Jetzt versteht André.

André: Aber wir sind doch richtig!

Barbara schaut ihn nicht an. Schaut nach vorn. Schüttelt den Kopf.31

Dass André so tollpatschig ist und schon beim ersten Gespräch zu zweit aus Verliebt-Sein vergisst, dass er den Unwissenden spielen müsste, macht ihn durchaus sympathisch. Diese Interferenzen zwischen Faktizität und Potenzialität, Wahrnehmung, Erwartung und Erinnerung sind Petzolds narratives Terrain. Sie bilden den Kern seiner probabilistischen Dramaturgie. Was wirklich geschehen ist, wissen wir nicht, es wird – etwa in YELLA – gespensterhaft undeutlich. Dies sind probabilistische Narrative, die wir von Akira Kurosawas RASHŌMON (RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, 1950) kennen, dessen Dramaturgie des Perspektivenwechsels in dem Großprojekt DREILEBEN benutzt wurde, und die ihrerseits in William Faulkners Schall und Wahn (The Sound and the Fury, 1929) einen Vorläufer hat.

Wie in Fortführung von Harun Farockis NICHT OHNE RISIKO (2004) ist es dem Menschen eigen, vor allem die Sprache als ein Verschleierungs- und Manipulationsinstrument erster Güte zu benutzen. Wenn auch die Realität dadurch wie hinter einem Vorhang verschwindet, so zeichnen sich doch die Charaktermerkmale der Protagonisten durch dieses Fading und das aktive Ausblenden-Wollen von Zusammenhängen umso deutlicher ab, weil es immer brüchig ist und verräterisch.

Ein Kontinuum verläuft von der alltäglichen Fehlleistung, zur Realitätsdiffusion bis hin ins Schizoide und Paranoide. Das erinnert wiederum an Ingmar Bergman. Barbara sehen wir wie eine Fremde mit nassem Haar im Bad sitzen, direkt nachdem sie die Tür ihrer schäbigen Wohnung öffnete. Schon in DIE INNERE SICHERHEIT gibt es zahlreiche dieser Momente, in denen unklar bleibt, ob man eine subjektive Wahrnehmung miterlebt oder ob dies tatsächlich eine bedrohliche Situation ist, wie Schwenk hervorhebt: »Der weiße Volvo der Familie hält an einer großen Ampelkreuzung und scheint plötzlich von vier schwarzen Agentenfahrzeugen umstellt zu werden. Einer der Fahrer steigt aus. Hans glaubt, sie seien überführt und verlässt mit erhobenen Händen das Auto. Für ungefähr zwei Sekunden steht er dem fremden Mann gegenüber. Doch genauso plötzlich, wie sich die Fahrzeuge an der Ampelkreuzung positioniert haben, setzen sie nun ihre Fahrt fort. […] Das befremdliche Ereignis erklärt sich nicht, entfaltet aber dennoch eine bedrohliche Atmosphäre, da es in seiner Rätselhaftigkeit wie eine versteckte Warnung erscheint.«32 Ähnlich handeln die Polizisten zu Beginn von WOLFSBURG, als sie die Nachricht vom Unfall ihres Kindes überbringen, zunächst aber Laura beim Stehlen zu erwischen scheinen.

Ebenso wie Petzold mit der Erinnerung umgeht so auch mit der Erwartung. In allen seinen Filmen geschieht etwas mit den Handelnden, das sie aus der Bahn wirft. Der so sachlich gefilmte Alltag wird unvorhersehbar. Dann unternimmt Petzold aber Experimente mit der erzählten Welt wie mit der Erzählweise gleichermaßen. Manchmal wissen wir nicht, ob das geträumt ist. Und auch die Wege von einer zerbrochenen Taucherfigur zu einer Beinverletzung verlaufen labyrinthisch, wie in UNDINE. Es bleibt stets uneindeutig, weil auch die Prämissen des Erzählens und Darstellens innerhalb des Films variieren und in Frage gestellt werden.

 

In einigen Arbeiten, so in TRANSIT und PHOENIX, stellt Petzold die Geschichte dar, aber nicht als Vergangenheit, sondern als Gegenwart, als Déjà-vu-Erlebnis. Was wirklich war, interessiert nicht. Eher ist Petzold einer, der warnt, dass die katastrophische Geschichte wiederkehren könnte, ganz ähnlich wie dies Walter Benjamin in den Thesen Über den Begriff der Geschichte dachte. Er stellt durch dieses Changieren zwischen den Zeiten die provokante Frage, inwiefern Überwachungsformen der Vergangenheit den heutigen ähneln.

Romantische Motive

Der romantische Mythos der UNDINE findet sich aber in Form des In-das-Wasser-Gehens oder des Aus-dem-Wasser-Rettens schon in WOLFSBURG, BARBARA und YELLA. Dabei braucht es nicht eigens eine ausgearbeitete romantische Ästhetik. Es genügt, wenn die Bilder die Erinnerung zum Klingen bringen. Deren Komposition ist, gerade in WOLFSBURG, überaus sachlich, beinahe dokumentarisch, aber dann bricht der Selbstmordversuch in die Handlung ein und verweist in seiner Poetik am Flussrand in seinen Bildern auf diese Epoche. Das Rauschen der Bäume, in BARBARA oder im Schlussbild von YELLA, verleiht dem Bild synästhetische Qualität, färbt es romantisch, wie wir bereits sahen. Manchmal wird das plakativ, etwa wenn der märchenhafte Pfad im POLIZEIRUF 110: WÖLFE durch einen bedrohlichen Wald gelegt wird, in dem Morde geschehen. Der Soul-Hit Anyone Who Had A Heart (1963) von Dionne Warwick sorgt dafür, dass das Märchenthema subversiv und humorvoll unterlaufen wird, statt in Kitsch abzugleiten (wie es beim Einsatz bedrohlicher Musik der Fall gewesen wäre). Gerade in den TV-Produktionen gönnt sich Petzold diese Leichtigkeit und Unbeschwertheit, wenn etwa unklar ist, ob die Musik zu einer Szene im Polizeirevier intra- oder extradiegetisch erklingt.

Was die Romantik konnte, war, die Ahnung zu inszenieren, Pfade zu legen, Stimmungen zu evozieren. Das macht Petzold mit seinem Team, Kameramann Hans Fromm und der Musik von Stefan Will ganz sachte mit Understatement. Weil das Genre-Wissen schon vorausgesetzt wird und eine reflektierte Rezeption, genügt es, das nur anzudeuten. Der verlorene Schuh in WOLFSBURG erinnert natürlich an ASCHENPUTTEL, wie Petzold selbst anmerkt.

Modelle: Immer wieder kommen Modelle ins Spiel, meistens von Realräumen, so in POLIZEIRUF 110: KREISE oder in UNDINE zu Beginn das Modell Berlins oder die Karte in Lauras Wohnung in WOLFSBURG. Modelle und Karten dienen dazu, sich innerhalb der Welt zu orientieren, diese zu beherrschen, einzugreifen, zu manipulieren. Und gerade an der Fehlerhaftigkeit und dem Spielraum von Repräsentation und Realität ist Petzold interessiert. Ähnlich ist es mit den Plänen, die die Protagonisten haben und die nie geradlinig realisiert werden, man denke an TOTER MANN. Pläne können erahnt und durchkreuzt werden, sie interferieren mit den Gefühlen und Leidenschaften und werden von diesen sabotiert.

Geräusche und Atmosphären. Immersive Sound, Ambience Sound und Musik

Ein guter Teil der subliminalen Atmosphäre vermittelt sich bei Petzold über den Ton und die Musik. Da sind die Geräusche, die von Komponist Stefan Will leicht überpointiert, verstärkt und moduliert werden, so dass sich eine Ahnung ergibt. Es entstehen dadurch geisterhafte Klangkörper, Hintergrund-Klanglandschaften, die dem Optisch-Unbewussten eine akustisch-unbewusste Schicht hinzufügen und aus dieser heraus erzählen. Alan J. Pakulas Komponisten trieben diese Idee weiter als Will, bis in das Hypnotische, Paranoide hinein, so etwa John Williams bei PRESUMED INNOCENT (AUS MANGEL AN BEWEISEN, 1990) und Michael Small in KLUTE (1971) und THE PARALLAX VIEW (ZEUGE EINER VERSCHWÖRUNG, 1974). Multitalent John Carpenter experimentierte in den 1970er und 1980er Jahren mit seinen minimalistischen Kompositionen mit diesem paranoide Stimmung erzeugenden Horror-Sound. Aber bei Pakula wie bei Carpenter entstehen so Werke, bei denen die Musik sich mit ihrer Ästhetik oftmals sehr in den Vordergrund rückt. Will arbeitet in seinen anderen Filmprojekten durchaus ähnlich, etwa in 4BLOCKS (2017–2019), indem er musikalisch stärker akzentuiert. Bei Petzold aber deutet er seine Melodien bloß in leisesten Tönen an, bleibt subtil, auch wenn seine Kompositionen von vielen Zuschauern vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen werden, weil sie zu unscheinbar sind. Wie Iakovos Steinhauer in diesem Band ausführt, sind es auch Kompositionen wie die von Toru Takemitsu, die man als Bezugsgrößen nennen könnte. Man wird wiederum an Ozus Komponisten Kojun Saitō, Takanobu Saitō und Senji Itō erinnert, die diese Kunst des Klingens im Hintergrund meisterlich ausführten, indem sie in diesen hineinkomponierten. Will referiert auch auf Johann Sebastian Bach. In einer der schönsten Szenen hören wir in GESPENSTER Bachs Bäche von gesalznen Zähren unerwartet während einer städtischen Autofahrt im Cabriolet, intradiegetisch.33 In einem Gespräch, das wir in Vorbereitung dieses Bandes mit Christian Petzold geführt haben, verwies er selbst auf die Wichtigkeit der Wiederholung. Aus der Differenz zwischen Moment A und B ergebe sich die Narration und bilde sich in der Erinnerung, so auch beim Einsatz der Musik. Petzold erwähnte auch die Musik, die beim Verlassen der Kirche immer erklinge. Das Ritual des Kinobesuchs wird dadurch zu einem quasi-sakralen Ereignis.

Petzolds Faible gilt musikalisch aber den Jazz-Balladen und dem Soul. Immer wieder stiftet die Musik assoziative Brücken zwischen den Figuren, den Erzählebenen wie auch zwischen Gegenwart und Erinnerung. Diese Lounge- und Barmusik im Film darf nostalgisch sein und abschweifen, Erzählpausen inklusive, manchmal ist sie sehr präsent, wie I’m Not in Love von 10cc in POLIZEIRUF 110: KREISE. Oder etwa Julie Londons Song Cry Me A River (1955), den Johannes in seinem Zivi-Zimmer im Schwesternwohnheim Ana vorspielt und tanzend mit ihr ins Deutsche übersetzt. Natürlich lässt sich Petzold die Gelegenheit nicht entgehen, den Song auch am Ende des Films einzuspielen, als Johannes mit Sarah Auto fährt. Dadurch wird die Handlung ironisch eingefärbt und die Zuschauer leise in die Wirklichkeit entlassen, die wie eine Kippfigur wirkt. Ähnlich verfährt Petzold in DIE INNERE SICHERHEIT (How Can We Hang On To A Dream, 1967, von Tim Hardin), YELLA (Road to Cairo von Julie Driscoll, 1969, von Brian Auger & The Trinity), TOTER MANN (What the World Needs Now Is Love, 1965, von Burt Bacharach sowie dessen (Theres) Always Something There to Remind Me), POLIZEIRUF 110: WÖLFE (Anyone Who Had A Heart, 1963, von Dionne Warwick) und bedingt in PHOENIX (Kurt Weills Speak Low, 1943; Night and Day, 1932, von Cole Porter u. a.). Jenseits einer Erzählfunktion gelingt es Petzold so, beinahe vergessenen Liedern eine neue Bühne zu bereiten.

Zu diesem Band

Die hier versammelten Texte arbeiten diese Themenfelder exemplarisch aus und entwickeln in detaillierten Analysen, was hier nur angedeutet werden kann. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Christian Petzold, der uns in einem internen Gespräch Möglichkeit gab, über seine Filme zu sprechen.

Der Band wird mit Iakovos Steinhauers musikwissenschaftlicher Perspektivierung von Petzolds Arbeiten eröffnet. Er fragt in »Die Hörbarkeit des Transzendenten in den Filmen Christian Petzolds« nach der akustischen Schicht und weist dieser eine wesentliche Funktion für die Dramaturgie der Filme zu. Diese wird mit einer von Max Beckmann benutzten Wendung als »transzendente Sachlichkeit« beschrieben.

In »Schuld in Christian Petzolds WOLFSBURG« lese ich den Film als eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Auffassungsweisen von Schuld: »Die Kausalitäten sind keineswegs so eindeutig, wie man das gerne hätte im Sinne einer juridischen Rekonstruktion von Schuldigkeit. Die Täterschaft erweist sich im konkreten Fall als äußerst kompliziert und uneindeutig, weil es zahlreiche Faktoren gibt, die zu dem Unfall führten.«

Jaimey Fisher folgt in seinem komparativen Beitrag »Der geschlechtsspezifische Raumsinn bei Christian Petzold: UNDINE, CLEO DE 5 À 7 und Doreen Masseys Macht-Geometrien des relationalen Raums« den ästhetischen Bezügen zu Agnès Vardas Film und arbeitet damit einen Hinweis Petzolds aus. Im Kern geht es Fisher um »die Erfassung von historischen Veränderungen anhand des Zusammenspiels sich verändernder weiblicher, gar feministischer Subjektivität und der Stadt«, wobei der Beitrag Untersuchungen Doreen Masseys folgt.

Der Filmwissenschaftler Tetsuya Shibutani hat sich in Japan mit zahlreichen Arbeiten, in Retrospektiven und Screenings um den jüngsten deutschen Film verdient gemacht. Er unternimmt in »Die Untote in der Nachkriegslandschaft. Bemerkungen zu Christian Petzolds PHOENIX« einen Vergleich von Fassbinders mit Petzolds Werk am Beispiel der Figur der Untoten. Es geht um den »Nachhall der Geschehnisse, genauer gesagt den Wunsch, etwas nachzuholen, was sie inzwischen verloren haben. Auf dem realen Boden der Nachkriegsgesellschaft entwickelt sich etwas Phantasmagorisches.«

Kayo Adachi-Rabe vergleicht in ihrem Beitrag »Film als Resonanzraum« Luchino Viscontis Erstlingsfilm OSSESSIONE (BESESSENHEIT, 1943) mit JERICHOW, dabei dient Umberto Ecos Begriff des »offenen Kunstwerks« als theoretischer Bezug: »Während OSSESSIONE eine vitale, explosive Dynamik des Lebens und des Gefühls illustriert, ist die Welt von JERICHOW durch ihre introspektive, implosive Statik, in der die unausgesprochene Emotion schwebt, charakterisiert.«

Felix Lenz stellt in »Männliche Melodramen. Christian Petzolds Beiträge zur POLIZEIRUF-110-Reihe: KREISE, WÖLFE und TATORTE« die Geschlechterrollen und die Dramatisierung von Männlichkeit in den Vordergrund: »Im Geständnis verwandelt sich insofern eine zuvor im Mord eskalierende Diskurslücke in Sprache. Die Frage einer umkämpften Geschlechterordnung versteckt sich so hinter der Oberfläche eines Krimiformats.«

Petzolds Kunstwerke fordern die Zuschauer zur aktiven Ergänzung auf. Sie sind narrative Übungsfelder der Fantasie, voller Unbestimmtheitsstellen und Andeutungen. Sie machen die Phantasmagorien im »Zeitalter des Überwachungskapitalismus« (Shoshana Zuboff) erzählbar und dessen städtische »Macht-Geometrien« (Doreen Massey) sichtbar. Sie zeigen, wie die Figuren intellektuellen Widerstand leisten. Der Wind, der sie dabei treibt, ist der der Liebe.

1 Siehe hierzu: The Berlin School and Its Global Contexts. A Transnational Art Cinema, hg. von Jaimey Fisher und Marco Abel, Detroit/Michigan 2018. — 2 Siehe hierzu: Johanna Schwenk, Leerstellen – Resonanzräume. Zur Ästhetik der Auslassung im Werk des Filmregisseurs Christian Petzold, Baden-Baden 2012, S. 10: »Dieses kontrollierte Setzen von Leerstellen schafft den Spielraum für eine zweite, unmittelbare Realitätsebene zwischen den Zeilen.« Schwenk spricht auch von einem »Minimalismus« (S. 10) und folgt den Leerstellen mit Wolfgang Isers und Roman Ingardens Theorie der Unbestimmtheitsstellen. Das »literarische Werk wird von seinem Rezipienten erst erschaffen, indem er an Stelle der Auslassung seine Imagination setzt.« (Ebd., S. 13). Zur erzähltheoretischen Debatte siehe: Roman Ingarden, »Konkretisation und Rekonstruktion«, in: Rezeptionsästhetik, hg. von Rainer Warning, München 1975, S. 42–70; Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Gesammelte Werke, Bd. 13, hg. von Rolf Fieguth und Edward M. Swiderski, Tübingen 1997, insbes. § 11, S. 54–61; allgemein dazu: Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1965 sowie Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, insbes. S. 267–280. — 3 Siehe hierzu etwa: Brad Prager, Christian Petzold:YELLA, München 2021; Über Christian Petzold, hg. von Ilka Brombach und Tina Kaiser, Berlin 2018, dort auch eine ausführliche Bibliografie (ebd., S. 251–259); Jaimey Fisher, Christian Petzold, Urbana 2013; Karl Prümm, »Der Geisterfotograf. Ein Porträt des Autors und Regisseurs Christian Petzold«, in: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Heft 47. Bewegungen im neuesten deutschen Film, Marburg 2010, S. 52–77, hier S. 65, https://doi.org/10.25969/mediarep/2342 (letzter Zugriff am 10.10.2021). — 4 Christian Petzold/Bernd Stiegler/Alexander Zons, »›Das Kino ist die Zukunft, es schaut immer zurück.‹ Ein Gespräch mit Christian Petzold«, in: AugenBlick, Heft 75/76, Marburg 2001. — 5 Diesen Begriff prägte der Regisseur selbst. Siehe dazu: Christian Petzold, »›Bleiben ist Niederlage‹. Interview mit Julian Hanisch«, in: Tagesspiegel, 5.1.2009, https://www.tagesspiegel.de/kultur/kino/christian-petzold-bleiben-ist-niederlage/1409778.html (letzter Zugriff am 15.10.2021) sowie den Beitrag von Kayo Adachi-Rabe in diesem Band. — 6 Prümm, Der Geisterfotograf (s. Anm. 3), S. 54. — 7 Christian Petzold; Christina Tilmann, »Die Welt wäre schöner, wenn Frauen die Macht hätten«, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.5.2018, https://www.nzz.ch/feuilleton/die-welt-waere-schoener-wenn-frauen-die-macht-haetten-ld.1387690?reduced=true (letzter Zugriff am 13.12.2021). — 8 In Japan ist es üblich, die Drehbücher von Filmen als kleine Buchpublikationen zu veröffentlichen, so wie man das auch bei den Opern-Libretti oder Theatertexten macht. Das wäre auch ein Verfahren, das man sich bei Petzold wünschte. Wie ergiebig das sein kann und wie sehr auch eine Lektüre des ›bloßen‹ Drehbuchs fesselt, zeigt die Publikation desselben von BARBARA (Christian Petzold, Barbara, Berlin 2012). — 9 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt am Main 1985, S. 85. — 10 Prümm, Geisterfotograf (s. Anm. 3), S. 61. — 11 Darauf wies auch Petzold in seinem Gespräch mit dem Autorenkreis dieses Bandes vom 18.8.2021 hin. Als eine Referenz für TOTER MANN nennt Petzold Claude Chabrols QUE LA BÊTE MEURE (DAS BIEST MUSS STERBEN, 1969). — 12 Siehe hierzu: Thomas Abeltshauser, Christian Petzold, »Auf Liebe und Tod«, in: epd film, 30.6.2020, https://www.epd-film.de/themen/interview-christian-petzold-ueber-seinen-film-undine (letzter Zugriff am 2.2.2022). — 13 Prümm, Geisterfotograf (s. Anm. 3), S. 64. — 14 Ebd., S. 65. — 15 Christian Petzold, TRANSIT, 2018, DVD, Bonusmaterial, 00.21.35–00.22.12. — 16 Siehe hierzu Carl Gustav Jung, »Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge«, in: ders., Die Dynamik des Unbewussten, Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von Marianne Niehus-Jung, Franz Riklin u. a., Solothurn und Düsseldorf 1995, S. 457–553; ders., Die Dynamik des Unbewussten, Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von Marianne Niehus-Jung, Franz Riklin u. a. Solothurn und Düsseldorf 1995 sowie Andreas Becker, Yasujirō Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film. Resonanzen, Prämissen, Interdependenzen, Bielefeld 2020, hier Kap. 6, »Spiritueller Raum«, S. 179–200. — 17 Schwenk, Leerstellen – Resonanzräume (s. Anm. 2.), S. 84. — 18 Christian Petzold, »›Ein Raum, in dem wir heimisch sind.‹ Interview mit Christian Petzold«, in: Über Christian Petzold, hg. von Brombach/Kaiser (s. Anm. 3), S. 19–61, hier S. 34. — 19 In unserem Autorengespräch vom 18.8.2021 sprach Petzold auch über die Geschlechterperspektiven in JERICHOW. Man blicke normalerweise auf den Körper der Frau (hier Nina Hoss), diesmal sehe man aber die Brüste von Benno Fürmann und Hoss sei bedeckt. Es mische sich dadurch auch eine homoerotische Sicht ein. Dazu sei Laura eine Art ›Währung‹, Ali werde auch für seine Leidenschaften bestraft (00.06.00–00.10.00). Die kindliche Perspektive, die etwa bei Wim Wenders den Alltag vermittelt und ihn manchmal humorvoll auflädt, fehlt bei Petzold nahezu gänzlich. Wenn junge Menschen auftauchen, dann sind es Jugendliche oder sie werden von Erwachsenen angeblickt. Petzold nimmt deren Sicht aber nicht ein. In dieser Hinsicht ist Petzold an der Genese der Geschlechterrollen wenig interessiert, betrachtet sie retrospektiv, vom Erwachsenen her. — 20 Scham ist die Angst, den Erwartungen der Anderen nicht zu entsprechen. Siehe dazu meine Ausführungen in: Becker, Yasujirō Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film (s. Anm. 16), Kap. 9, S. 233–266. Allgemein zu einer Geschichte der Scham am Beispiel der Literatur siehe: Ulrich Greiner, Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, Reinbek bei Hamburg 2014 sowie León Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, übers. von Ursula Dallmeyer, Berlin u. a. 1981. — 21 Sobald Petzold diesen Schichtkonflikt (so etwa auch in JERICHOW) verlässt, deckt sich eine Distanz auch über die Darstellung der Sexualität. Körperlichkeit wird dann, mit anderen Worten, als entfremdete gezeigt. So liegt das Pärchen in DIE INNERE SICHERHEIT mit Mänteln angezogen im Bett, ähnlich wie in TRANSIT (01.13.14–01.14.20), wo sich Georg (Franz Rogowski) und Marie (Paula Beer), angezogen im Bett, küssend verabschieden. Die Szene in WOLFSBURG, als Laura mit nacktem Rücken am Strand gezeigt wird, ist zugleich die, in der sie das Messer erblickt und wohl den Mord erdenkt. — 22 Dieser Aspekt wurde in der Literatur und der Kritik immer wieder thematisiert. Siehe dazu: Martina Knoben, »Kritik zu Jerichow«, in: epd film, 1.1.2009, https://www.epdfilm.de/filmkritiken/jerichow (letzter Zugriff am 2.2.2022). — 23 Schwenk, Leerstellen – Resonanzräume (s. Anm. 2), S. 42. — 24 Zitiert nach David Denk, »POLIZEIRUF 110 aus München. Alle wollen ausbrechen. KREISE ist der erste Sonntagskrimi von Regisseur Christian Petzold«, in: Süddeutsche Zeitung, 28.6. 2015, https://www.sueddeutsche.de/medien/polizeiruf-110-ausmuenchen-alle-wollen-ausbrechen-1.2537216 (letzter Zugriff am 2.2.2022). — 25 Siehe dazu Edmund Husserl, Ding und Raum, Husserliana, Bd. XVI, hg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973, § 83, S. 283 sowie meinen Aufsatz in diesem Band. — 26 Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986. — 27 Siehe dazu auch: Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, hg. von Julian Hanich und Hans Jürgen Wulff, München 2012; Fabienne Liptay, »Leerstellen im Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung«, in: Bildtheorie und Film, hg. von Thomas Koebner und Thomas Meder, München 2006, S. 108–134. — 28 Schwenk, Leerstellen – Resonanzräume (s. Anm. 2), S. 31. — 29 Jaimey Fisher, »Petzolds PHOENIX, Fassbinders MARIA BRAUN und die filmische Archäologie der Nachkriegszeit«, in: Über Christian Petzold, hg. von Brombach/Kaiser (s. Anm. 3), S. 191–212, hier S. 194. — 30 Prager, Christian Petzold. Yella (s. Anm. 3). — 31 Petzold, Barbara. Drehbuch (s. Anm. 8), S. 16–17. — 32 Schwenk, Leerstellen – Resonanzräume (s. Anm. 2), S. 30. — 33 Zu Bachs Musik siehe auch Iakovos Steinhauers Text in diesem Band. Dass Stefan Will in einem Interview sich auch als Fan von Bernhard Hermann beschreibt, sei kurz erwähnt, dass das Projekt Not a Machine, an dem Will beteiligt ist, Immersive Sound anbietet, ebenso. Zum Interview siehe Stefan Will, »›Tatort‹-Gespräch mit dem Filmkomponisten Stefan Will (FREUD, 4 BLOCKS, DIE PROTOKOLLANTIN)«, 21.1.2021, https://podcast5821b3.podigee.io/2-neue-episode, (00.22.00f.). Siehe hierzu auch Wills Youtube-Kanal https://youtube.com/channel/UCfnzKSuQsheb8nHa5fR9dyQ und seine Homepage http://stefanwillmusic.com/ sowie die des Projekts Not A Machine, https://www.notamachine.com/ (letzter Zugriff am 2.2.2022)

 
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