Empörung, Revolte, Emotion

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Aus der Reihe: edition lendemains #50
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6 Bibliographie

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Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht

Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer (Université Bordeaux Montaigne & Aix-Marseille Université)

Aux jeunes, je dis: regardez autour de vous, vous y trouverez les thèmes qui justifient votre indignation – le traitement fait aux immigrés, aux sans-papiers, aux Roms. Vous trouverez des situations concrètes qui vous amènent à donner cours à une action citoyenne forte. Cherchez et vous trouverez!1

(Hessel 2010a: 16).

Abstract

„Hände waschen“, „Abstand halten“, „Maske tragen“ – in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie stehen diverse Forderungen zum Einhalten von Hygienevorschriften auf der Tagesordnung, auf Twitter liegen Hashtags mit Appellen an den Gemeinsinn wie #BleibtZuhause oder #SocialDistancingNow im Trend. Die sanitären Maßnahmen der Gesundheitsbehörden stoßen auf heftigen Widerstand mancher Bürgerinnen und Bürger, die mit Forderungen wie „Corona-Diktatur stoppen“ oder „Maske weg“ gegen Einschränkungen ihrer Grundrechte lautstark protestieren. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie spannungsreich Aufforderungen und emotionale Zustände in manchen Kommunikationssituationen verknüpft sind, etwa wenn die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, das Wechselspiel von Emotion und Aufforderung aus pragmatischer und didaktischer Perspektive näher zu beleuchten. Dabei werden nicht nur sprachliche Merkmale und Realisierungsmöglichkeiten von Aufforderungen jenseits der „klassischen“ Imperativsätze betrachtet, sondern es wird auch der Frage nachgegangen, wie dieser wichtige Sprechakt im Sinne einer „lebensweltbezogenen“ Auffassung von Grammatik zum motivierenden Lerngegenstand eines aufgabenorientierten Fremdsprachenunterrichts werden kann. Am Beispiel eines in der Praxis mit französischen Studierenden erprobten, kompetenzorientierten Unterrichtsmodells im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird das grammatische Thema „Aufforderung“ in eine aktuelle, landeskundlich fundierte DaF-Einheit eingebettet. Darin erarbeiten die Lernenden zunächst den kommunikativen Kontext rund um den gesellschaftlichen Corona-Diskurs anhand authentischer Materialien, bevor sie sprachliche Merkmale emotionaler (Auf-)Forderungen rezipieren, analysieren und aus ihrer Sicht selbst kreativ anwenden. Damit zeigt der Beitrag auf, wie ein Thema, das an lebensnahe Diskurse anknüpft, gerade für fortgeschrittene Deutschlernende in besonderem Maße weiterführendes inhaltliches und sprachliches Lernpotential bietet.

1 Einleitung

In unserem täglichen Leben werden wir mit den unterschiedlichsten Aufforderungen konfrontiert, ohne dass es uns sonderlich auffällt oder gar stört. Kaum haben wir die Wohnung verlassen und wollen ins Freie, steht ein „Ziehen“-Aufkleber an der Eingangstür. Die Straße ist mit Werbeplakaten gesäumt, die uns zum Kauf von Konsumgütern anregen: „Sei frei für Momente in Fake-Fur oder Fleece. Shoppe Weihnachts-Outfits, die du liebst“. In den öffentlichen Verkehrsmitteln werden wir gebeten, uns vorschriftsgemäß zu verhalten: „Wollen Sie aussteigen? Bitte rechtzeitig Druckknopf betätigen“. In der Bibliothek einmal angekommen, können wir kaum einen Schritt machen, ohne von verbotenen Handlungen abgehalten zu werden: „Die Mitnahme von eingeschalteten Mobiltelefonen in die Lesesäle ist untersagt. Die Mitnahme des Garderobenschlüssels außer Haus ist nicht erlaubt. Das Reservieren von Leseplätzen in den Lesesälen ist nicht gestattet […]“ (Schild im Eingangsbereich der Österreichischen Nationalbibliothek)1.

Auch in der mündlichen Kommunikation sind Aufforderungen allgegenwärtig, ob wir sie bewusst zur Kenntnis nehmen oder nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es in fast jeder zwischenmenschlichen Situation einen Anlass gibt, sein Gegenüber verbal dazu bringen zu wollen, etwas zu tun oder zu lassen.

Ziel des Beitrags

Dass wir es in unserer von Normen und Vorschriften durchdrungenen Gesellschaft gewohnt sind, mit den verschiedensten mehr oder weniger ritualisierten Aufforderungen relativ emotionslos umzugehen, bedeutet noch lange nicht, dass Emotionen und Aufforderung nichts miteinander zu tun hätten. In diesem Beitrag setzen wir uns zum Ziel, das wechselseitige Verhältnis zwischen Emotionen und Aufforderung genauer zu beleuchten und einige Aufforderungsvarianten im Zusammenhang mit dem emotionalen Zustand der Gesprächsbeteiligten näher zu beleuchten: Werden in Aufforderungen Emotionen preisgegeben, bewusst eingesetzt bzw. intensiviert oder gar geweckt? Haben die unterschiedlichen Formen von Aufforderung mit dem emotionalen Zustand der sprechenden Person etwas zu tun? Welche Emotionen können wiederum bei der adressierten Person ausgelöst werden? Dabei sollen die Äußerungssituationen besondere Beachtung finden, in denen die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Wie werden diese Emotionen sprachlich umgesetzt? Gibt es hierfür bevorzugte sprachliche Merkmale?

 

Im empirischen Teil wollen wir uns mit der didaktischen Umsetzung der zuvor dargestellten Überlegungen zum Wechselspiel von Emotion und Aufforderung befassen. Ausgehend von einer Auswahl konkreter Kommunikationssituationen sollen Studierende über die prototypischen Imperativsätze hinaus mit der Pragmatik der Aufforderung vertraut gemacht werden und dadurch nicht nur ihre kommunikative Kompetenz erweitern, sondern auch eine andere, ‚lebensorientiertere‘ Auffassung von Grammatik entwickeln, in der Emotionen auch eine Rolle spielen.

2 Aufforderung und Emotion

Für Dieter Wunderlich „[sind] Aufforderungen wohl mit als die elementarsten Sprechhandlungen anzusehen“ (Wunderlich 1984: 100), für die es stammesgeschichtliche Vorformen gibt (wie Drohgeste, Warnruf, Lockruf). Aus psycholinguistischer Sicht kann Auffordern (engl. to request) „dadurch charakterisiert werden, dass in einer kommunikativen Situation seitens eines Sprechers der Versuch unternommen wird, einen (oder mehrere) Kommunikationspartner zu einer vom Sprecher intendierten Handlungsweise zu veranlassen“ (Graf/Schweizer 2003: 432 / siehe auch Herrmann 2003: 713). Nicht selten werden auch negative Aufforderungen formuliert, die die adressierte Person dazu bringen wollen, eine Handlung zu unterlassen oder bestimmte Zustände nicht zu akzeptieren (cf. Wunderlich 1984: 110–111).

Der direktive Sprechakt „Auffordern“ fungiert also als Oberbegriff für eine breite Palette von Sprechhandlungen: „Die Benennung ‚Aufforderung‘ ist […] in einem weiten Sinne zu verstehen, der neben Befehl, Bitte, Anordnung, Weisung, Ersuchen und Auftrag z.B. auch Ratschlag, Vorschlag, Erlaubniserteilung, Verbot, Anweisung und Instruktion/Anleitung einschließt“ (grammis / letzte Änderung am 18.09.2018)1.

Von der Emotion zur Sprache (und zurück)

Aus psycholinguistischer Sicht definiert Monika Schwarz-Friesel Emotionen als „interne und damit absolut subjektive Eigenschaften des Menschen […], die nicht direkt, sondern nur über ihre Ausdrucksmanifestationen beobachtbar sind“ (Schwarz-Friesel 2007: 44). Dabei keimen Angst, Freude, Traurigkeit, Wut usw. nicht spontan in der Tiefe unserer Psyche auf, sondern entstehen in der Interaktion mit anderen Menschen. Emotionen sind also nicht nur Elemente unseres privaten Innenlebens, von unserer Umwelt scharf getrennt. Sie sind vielmehr innere Reaktionen auf Impulse von außen, die uns so aufwühlen können, dass sie wiederum Auslöser für nicht sprachliche bzw. sprachliche Handlungen werden, die sich auf unsere Mitmenschen beziehen. Fiehler bezeichnet sie als „öffentliche Phänomene in sozialen Situationen interpersoneller Interaktion“ (1991: 11). Somit spielen Emotionen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der sprachlichen Kommunikation, auch wenn das emotionale Erleben nicht explizit zum Thema der Interaktion gemacht wird, sondern sich allein in der Form des Ausdrucks manifestiert (cf. Fiehler 1991: 12).

Wenn wir uns zum Beispiel über private bzw. gesellschaftliche Missstände so sehr aufregen, dass Empörung in uns wächst, eine Emotion, „die sich an der Verletzung des Gerechtigkeitssinns entzündet […]“ (Millner/Oberreither/Straub 2015: 7), müssen wir irgendwann dem angestauten Unmut Luft machen. Die Empörungsenergien vieler können sich zu einem kollektiven Aufruhr verdichten, bei der konstruktive wie auch destruktive Kräfte freigesetzt werden. Demonstrationen bieten eine Gelegenheit, individuelle Entrüstung bzw. kollektiven Aufruhr sprachlich zu verarbeiten. Zum Beispiel in der Form von Ausrufen mit mehr oder minder beleidigendem Charakter: „Lügenpresse!“, „Corona-Diktatur!1“, die sowohl mündlich (evtl. durch Megafon verstärkt) als auch schriftlich (auf Transparenten) vermittelt werden.

Unserer Empörung freien Lauf zu lassen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Revolte. Der zweite Schritt besteht darin, konkrete Ansprüche zu stellen, um die Sachlage zu verändern, die für unsere Empörung verantwortlich ist: „Rettet das Klima!“, „Kinder an die Macht!“. Insofern befindet sich der direktive Aufforderungsakt ein Stück weiter auf dem Weg zum Handeln als der expressive Sprechakt Exklamation. So bieten zum Beispiel Hausfassaden für militante Anarchisten willkommene Flächen, um ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse zu äußern und gleichzeitig ihre Forderungen zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft bekannt zu geben: „Lebe wild!“, „Wählt das Leben, nicht die Urne!“, „Die Häuser denen die drin (sic) wohnen …“2.

Mit Sprache werden Gefühle und emotionale Einstellungen nicht nur ausgedrückt und benannt, sondern auch „geweckt, intensiviert sowie konstituiert“ (Schwarz-Friesel 2007: 361). Dass der Weg auch von der Sprache zur Emotion gehen kann, zeigt uns Stéphane Hessel mit seinem Pamphlet Indignez-vous! (Empört Euch!) (Hessel 2010a/b), indem er seine Leserschaft dazu aufruft, emotional wach zu werden und sich dann für eine gute Sache zu engagieren:

C’est vrai que les raisons de s’indigner peuvent paraître aujourd’hui moins nettes ou le monde trop complexe. Qui commande, qui décide? […] Mais dans ce monde, il y a des choses insupportables. Pour le voir, il faut bien regarder, bien chercher. Je dis aux jeunes: cherchez un peu, vous allez trouver. La pire des attitudes est l’indifférence, dire "je n’y peux rien, je me débrouille". En vous comportant ainsi, vous perdez l’un des composantes essentielles qui fait l’humain. Une des composantes indispensables: la faculté d’indignation et l’engagement qui en est la conséquence.3 (Hessel 2010a: 14)

Wenn sich Empörung in Engagement verwandelt, werden auch (Auf-)Forderungen laut. Inwiefern die emotionale mit der sprachlichen Ebene zusammenhängt, soll im Folgenden näher untersucht werden.

Pragmatik der Aufforderung

Als Oberbegriff für eine ganze Reihe von direktiven Sprechhandlungen (befehlen, bitten, vorschlagen, abraten …) lässt sich die Aufforderung relativ gut definieren. Schwieriger gestaltet sich die Aufgabe, wenn es darum geht, die Vielfalt ihrer sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten pragmatisch zu erklären.

In der einschlägigen Literatur werden verschiedene Faktoren genannt, die bei der Wahl der Formulierung eine entscheidende Rolle spielen (cf. Weigand 1984; Wunderlich 1984; Herrmann 2003; Graf/Schweizer 2003). So sollte genau darauf geachtet werden, welches hierarchische Verhältnis zwischen den Kommunikationsbeteiligten besteht, ob sie auf Kooperation oder Konkurrenz eingestellt sind, in wessen Interesse die intendierte Handlung ausgeführt werden soll, inwiefern die besagte Handlung einen dringenden, bindenden Charakter hat, ob die Aufforderung explizit an eine bestimmte Person adressiert ist oder sich an ein breiteres Publikum wendet usw. Werden die genannten Faktoren miteinander kombiniert, ergibt sich ein extrem komplexes Bild. Es kann zum Beispiel sein, dass Sprecherin X angesichts ihres Alters oder ihrer sozialen Stellung über eine höhere Position verfügt, die es ihr erlaubt, wenig Rücksicht auf Adressaten Y zu nehmen, und sich trotzdem für eine diplomatischere Vorgehensweise entscheidet, ohne Imperativmodus. Direkte Aufforderungen können nämlich leicht „Reaktanz“, d.h. „aversive Reaktionen“ auslösen (cf. Herrmann 2003: 725) und sind keine Garantie für eine höhere Effizienz. Differenzierte sprachliche Mittel sind umso mehr angesagt, als die Aufforderung für beide Beteiligten ein Risiko bedeutet, schließlich setzen sie ihr „Gesicht“ aufs Spiel:

Bei einer expliziten Aufforderung kann der Sprecher sein Gesicht verlieren, wenn der Adressat ihr nicht folgt; und der Adressat kann sein Gesicht verlieren, wenn er seine Handlungen nicht mehr selbst bestimmt. Daher folgen die Sprecher in der Wahl der Äußerung einer Strategie, die die Effektivität so groß wie möglich und den Gesichtsverlust so niedrig wie möglich macht. (Wunderlich 1984: 112)

Laut Fandrych und Thurmair hat sich sogar das besondere Risiko, das mit diesem im zwischenmenschlichen Austausch unumgänglichen Sprechakt prinzipiell verbunden ist, auf die Sprachentwicklung ausgewirkt:

Das große formale Spektrum für Aufforderungshandlungen ist vermutlich deshalb entstanden, weil eine Aufforderung, die ja vom Angesprochenen eine Handlung verlangt, immer potenziell gesichtsbedrohend ist. Also haben sich sehr viele unterschiedlich direkte (und unterschiedlich höfliche) Formen herausgebildet. Welche Form im konkreten Fall adäquat ist, hängt vom Kontext, den an der Kommunikation Beteiligten und insbesondere von der Textsorte ab. (Fandrych/Thurmair 2018: 276)

Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Pragmatik der Aufforderung ins Interesse der Forschung gerückt und in ihrem Facettenreichtum untersucht worden. Dennoch ist die emotionale Komponente bis jetzt kaum explizit herangezogen worden, wenn auch die immer wiederkehrende Frage des Höflichkeitsgrads der Aufforderung ein Zeichen dafür ist, dass Empfindungen hier eine besondere Rolle spielen. Dass eine sprachliche Handlung, die so tief im menschlichen Zusammenleben verankert ist, nicht nur distanziert und emotionslos realisiert werden kann, scheint in der Tat naheliegend. Dabei kann es sich um den nicht intentionalen Ausbruch eines realen Affekts handeln (emotional communication), oder aber um das intentionale, strategische Signalisieren einer wahren bzw. gespielten Empfindung (emotive communication)1.

3 Einblick in einige Aufforderungsvarianten

In den Publikationen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Thema auseinandergesetzt haben, herrscht Konsens über die grammatische Heterogenität der Aufforderungssätze. Was die aufforderungsgeeigneten Sätze betrifft, sind sie „kaum exhaustiv angebbar. Deshalb sollte auch nicht versucht werden, solche Sätze zusammenhängend darzustellen“ (Wunderlich 1984: 113). Diese Ansicht findet ihre Bestätigung in einer etwa zum gleichen Zeitpunkt erschienen Studie von Edda Weigand, in der sie über 100 Varianten zusammenträgt, um jemanden aufzufordern, den Rasen zu mähen. Angesichts der Menge von möglichen Varianten kommt Weigand zu dem Schluss, dass sich die Einheit des Sprechakts nicht grammatisch definieren lässt: „Die Vielfalt der Äußerungsmöglichkeiten macht deutlich, dass sich kein sprachlicher Nenner finden lässt, der diese Äußerungsmenge intensional definieren könnte“ (Weigand 1984: 83).

Für das Erlernen der deutschen Sprache bildet diese Vielfalt eine Herausforderung, denn die Lernenden müssen zunächst erkennen, dass es sich bei Sätzen ohne Imperativmodus überhaupt um Aufforderungen handelt, dann sollten sich Fortgeschrittene unter ihnen mit diesem Formenreichtum besser vertraut machen. So kommen wir nicht umhin – Wunderlichs Warnung zum Trotz – uns der Schwierigkeit zu stellen und zumindest einen Teil der aufforderungskompatiblen Sätze hier zusammenzutragen.


Tabellarische Übersicht der Hauptvarianten
Fang an! Fangen wir an! Fangt an! Fangen Sie an!
Verbzweitsatz im Indikativ Präsens Du gehst jetzt ins Bett!
Verbzweitsatz im Indikativ Präsens mit Modalverb Du sollst nicht töten.
Du wirst erst mal schön ruhig sein!
Verbzweitsatz mit Konjunktiv 1 Man nehme zwei Eier, etwas Sahne […].
Subjektloser Passivsatz Jetzt wird geschlafen!
Interrogativsatz (+/- Modalverb; +/- Konj. 2) Kannst du mir bitte das Salz reichen?
Infinitivsatz Einsteigen bitte! Nicht hinauslehnen!
Infinitivsatz (mit zu + haben/sein) Du hast zu gehorchen!
Aufgepasst! Stillgestanden! Hiergeblieben!
Dass du mir nicht wegläufst!
Verbloser Satz Tür zu! Hände hoch! Auf die Plätze, fertig, los!

Wie umfangreich die Palette der eingeführten Varianten sein soll, hängt vom Sprachniveau der Betroffenen ab und bleibt dem Ermessen der Lehrperson überlassen (siehe als mögliche Umsetzung Punkt (3) des Unterrichtsvorschlags im didaktischen Teil dieses Beitrags).

 

Aufforderungsvarianten werden gewöhnlich als „Ersatzformen“ des Imperativsatzes bezeichnet, ein Terminus, der dem Phänomen nicht ganz gerecht wird: „Aufforderungssätze dürfen nicht mit dem Sonderfall Imperativsatz gleichgesetzt werden. Aufforderungen können syntaktisch ganz unterschiedlich realisiert werden, Imperativsätze sind nur eine von vielen Möglichkeiten“ (Duden 4 2016: 904). Da die meisten Grammatiken aber semasiologisch (von der Form zum Inhalt) aufgebaut sind, führt die Formenvielfalt zu einer zersplitterten Darstellung dieses sprachlichen Phänomens. Der pragmatische Reichtum der Aufforderung, und damit auch die emotionale Komponente, wird jedoch erst wahrgenommen, wenn mehrere Ausdrucksweisen zur Auswahl stehen, andernfalls bleibt diese Dimension weitgehend unberücksichtigt. Die seltenen onomasiologischen Grammatiken, die von den Redeabsichten bzw. von den sprachlichen Inhalten zu den sprachlichen Mitteln ausgehen, widmen der Aufforderung auch viel mehr Aufmerksamkeit. Die Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache verfügt über ein eigenes Kapitel „Aufforderungen“ (Engel/Tertel 1993: 64–74). Die Grammatik in Feldern, in zehn Kapitel („Felder“) unterteilt, widmet der Aufforderung ein ganzes Feld (Buscha et al. 1998: 239–294). Im Rahmen einer aufgabenorientierten Fremdsprachendidaktik bieten solche Grammatiken wertvolles Material für den Aufbau einer Unterrichtseinheit (siehe Teil 4 dieses Beitrags „Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung“).

Im Folgenden wollen wir uns auf zwei Varianten mit sehr unterschiedlichen syntaktischen Merkmalen konzentrieren und ihr Verhältnis zur Emotion näher beleuchten: zum einen die Infinitivformen, in denen das (ungebeugte) Verb im Vordergrund steht, zum anderen die „Reduktionsformen“, bei denen gar kein Verb vorkommt. Beide Satzformen sind auf Transparenten (Spruchbändern auf Demonstrationen) sehr beliebt: „CORONA-DIKTATUR STOPPEN“5. „Maske weg“6. „Freiheit Grundrechte“7.