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«Sei du dein und ich werde dein sein»

Zur Spiritualität des Coming-out

Antoinette Brem

Mein öffentliches Coming-out begann mit einer intensiven und tiefen Liebe zu der Frau, mit der ich auch heute noch, beinahe zehn Jahre später zusammen bin. Spiritualität im Coming-out habe ich seither zur Fülle erfahren: Nie zuvor schien mir das Göttliche so durch meinen Körper und alle Poren zu fahren wie in der Anfangszeit unserer Beziehung und seither immer wieder, nie zuvor öffnete mir eine alles durchwehende Geistkraft mehr die Augen für mein eigenes Selbst, und nie zuvor hatte eine klärende Hand mir den Schleier zwischen meinem inneren Empfinden und dem Aussen der Welt weggefegt wie durch das Entdecken meiner Liebesfähigkeit – als Frau für eine Frau. Und damit endete ein jahrelang tief empfundener Schmerz, weil ich bisher geglaubt hatte, der Liebe nicht fähig zu sein.

In dieselbe Zeit fiel mein Studiumsabschluss. Ein Zitat zum Zusammenspiel von Selbst- und Gotteserkenntnis in einer Vorlesung hatte mich derart berührt, dass ich beschloss, darüber meine Lizentiatsarbeit zu schreiben. Der Mystiker Nikolaus von Kues versuchte im 15. Jahrhundert Mönchen aufzuzeigen, wie sie zur Erkenntnis Gottes gelangen können. Durch alle damals bekannten spirituellen Übungswege hindurch führt Cusanus die Mönche an den einen Punkt, wo er Gott zum Menschen sagen lässt: «Sei du dein und ich werde dein sein!»2 Das heisst so viel wie: An dir vorbei kannst du mich nicht finden. Oder auch: Nimm dich und das, was in dir leben will, radikal ernst – sonst geht dein Leben in die Leere.

Ungefähr zeitgleich mit Cusanus entdeckte ich eine moderne Mystagogin: die schwarze lesbische Dichterin Audre Lorde. Sie nimmt meiner Ansicht nach in ihrer Sprache das Thema des «Sei du dein» auf, weitet es aber vom individuellen Sich-Finden aus auf die Dimension des Gemeinschaftlichen und des Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Audre Lorde spricht von den «erotischen Wegweisern in uns selbst», die uns aus der Fremdbestimmung dahin führen sollen, für uns und für andere, «in Berührung mit der Macht der Erotik in uns selbst», Verantwortung zu übernehmen: «Unsere Handlungen gegen die Unterdrückung werden selbst-bestimmt, von innen her motiviert und mit Macht erfüllt.»3 Die Macht der Erotik vereinigt in sich Spiri­tualität und Sexualität – beide entspringen ihr aus derselben Quelle. |22|

Lesbischsein als Gabe und Aufgabe

Das menschenfreundliche Gottesverständnis des «Sei du dein» deckt sich in einem wichtigen Aspekt mit dem, was ich zur Spiritualität des Coming-out zu sagen habe. Mein Lesbischsein zu leben – ich weiss, dass dies zwar nicht der Beginn, aber eine konsequente Weiterführung meiner Geschichte mit dem Göttlichen, dem innersten Wesenskern ist. Es ist eine Gabe und bedeutet für mich, dass ich mit meinem Leben und ganz besonders in der Beziehung zu meiner Lebenspartnerin meine ureigene Art sehe, göttliche Liebe in der Welt sichtbar zu machen.

Mein Coming-out hat mir ein neues, inneres Bewusstsein gegeben für meine Kraftquellen, aber auch dafür, wie Diskriminierung funktioniert, äussere und verinnerlichte. Von Audre Lorde habe ich gelernt, dass damit auch eine Aufgabe verbunden ist. Sehr klar wurde mir dies an einem Treffen von Lesben in Deutschland 1993. Tags zuvor waren fünf türkische Frauen bei einem rassistisch motivierten Anschlag getötet worden. Wir gingen auf die Strasse. Nicht nur für die Opfer des Brandanschlags, sondern auch für uns. In diesem Akt des Widerstandes trafen das Mystische des «Sei du dein» und das Politische der «Macht der Erotik» zusammen.

Das eigene Leben zur Sprache bringen

Ich wollte von einigen Frauen wissen, inwiefern sie einen Zusammenhang zwischen ihrem Coming-out und ihrer Spiritualität sehen. Dabei habe ich bewusst darauf verzichtet, «Coming-out» näher zu definieren oder mein Verständnis von Spiritualität zu erörtern. Sie selber sollten die beiden Begriffe füllen und mit ihrem eigenen Leben verbinden. Von den 18 angeschriebenen Frauen haben sich 16 entweder schriftlich oder mündlich zu meiner Frage geäussert. Vier Frauen konnten spontan keinen Zusammenhang nennen.

Die übrigen Frauen äusserten sich zu drei Themenkreisen: Heimkehr zu mir selbst, Bruch-Erfahrungen, tragendere Beziehungen.

Heimkehr zu mir selbst

Wohl nicht zufällig umschreiben die meisten Frauen ihre Coming-out-Erfahrung mit Begriffen wie «Heimkehr», «Identitäts- und Selbstfindung» und setzen dies in Zusammenhang mit Spiritualität: «Spiritualität heisst für mich, im freundlichen Angesicht Gottes immer mehr die zu werden, die ich im tiefsten meiner selbst bin. Und wenn mein Lesbischsein einen Teil meiner Identität ausmacht, dann ist das Coming-out ein Schritt auf dem Weg zu einem ‹Leben in Fülle› und gehört ganz wesentlich zu meiner Spiritualität.» |23|

«Für mich hat Spiritualität mit Sinn-Suche im Allgemeinen und Coming-out mit Sinn-Suche im Besonderen zu tun. Durch mein Coming-out habe ich das Eingebundensein ins Lebendige ganz stark erfahren und glaube dadurch meine eigene Identität gefunden zu haben (endlich daheim!).»

Die Suche nach der eigenen Identität ist für einige Frauen in einer noch immer weitgehend homophoben Gesellschaft sehr schmerzhaft. Darum ist es besonders wichtig «zu spüren, dass dieser ‹gute Geist› mich auch beim Prozess, eine positive Identität als lesbische Frau zu entwickeln, unterstützt.»

Bruch-Erfahrungen

Drei Bereiche kommen hier zur Sprache: Eine Frau bezieht sich auf ihr Coming-out, das für sie keine Heimkehr zu sich selbst in beglückendem Sinne war, denn die Tragödie ihrer Kindheit scheint sich in vermeintlich sicheren Frauenräumen zu wiederholen: «Meine Mutter war nicht die einzige Frau, die mein Coming-out als Einladung zur Selbstbedienung auffasste.» Die Auseinandersetzung mit Gewalt, ganz besonders mit Frauengewalt, ist für sie «ein zentraler Punkt meiner Religiosität – oder kurz die Frage, wie ich in dieser Welt leben kann. Bei allem was mir zu sehr nach Heile-Welt und Kuscheldecke-Spiritualität aussieht, kriege ich das Gruseln.» Diese Frau entlarvt mit ihrem Coming-out vielschichtig gleich mehrere Mythen: jene von der heilen Familie genauso wie jene von heiler Lesbenwelt. Sie wehrt sich gegen eine «Wir»-Vereinnahmung und fordert uns stattdessen heraus, immer noch genauer hinzusehen, wo Frauen ausgegrenzt werden.

Einige haben die traditionellen Bilder von Gott und vom Religiösen hinter sich gelassen. Sie suchen eine neue Sprache, stimmigere Rituale, die ihrem Frausein und den Brüchen, aber auch den Ganzheitserfahrungen in ihrem Leben und in der Welt gerechter zu werden vermögen. Für sie ist der Weg des Coming-out verbunden mit einem Abschied vom Männergott: «Mein Coming-out hat meine patriarchal geprägte Spiritualität absolut in Frage gestellt. Weibliche Spiritualität ist für mich lebendiger, weil Leben, Lust und Leidenschaft sein dürfen.»

Coming-out hat eine prophetische Dimension. Diese klagt in unserer Gesellschaft und Kirche die Sünde der Homophobie und des Heterosexismus an und fordert Lesben, Schwule und Bisexuelle dazu auf, ihre Liebesfähigkeit nicht zu verleugnen. Für Frauen, die sich einer christlichen Gemeinschaft zugehörig fühlen, ist es schwierig, zwischen ihrem Christin- und Lesbesein zu balancieren; beinahe unlösbar scheint der Konflikt bei Frauen und Männern in (katholischer) kirchlicher Anstellung zu sein: «Ich muss mir gut überlegen, wo und wem ich mich öffentlich zeigen kann, ohne mich selber zu gefährden, zum Beispiel meine Stelle in der Kirche zu verlieren. In der Kirche, wo Menschenwürde und Liebe im Mittelpunkt stehen sollten, wird meine Würde verletzt, weil ich mich nicht so zeigen darf, wie ich bin. So bin ich gezwungen, meine Spiritualität abzuspalten.» In diesem Beitrag wird sehr deutlich, wie die Kirche sich selber ihrer Seele beraubt, indem sie Menschen daran hindert, aus der Fülle ihrer Existenz zu schöpfen. |24|

Ein weiterer Beitrag beschreibt die Folgen dessen, was die kirchliche Lehre zur gleichgeschlechtlichen Liebe Einzelnen antut: «Das Coming-out war für mich zu Beginn eine der grössten spirituellen Erprobungen. Ich sah mich konfrontiert mit der gängigen Meinung, Homosexualität und Glaube bzw. Spiritualität seien nicht vereinbar. Ein Leben ohne Ausrichtung auf das Göttliche konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, es ist mein Lebenselixier. Dann eher mein Leben ‹freiwillig› beenden.» Diese Frau hatte selber schon so viel eigenen Boden, dass sie ihrer inneren Führung mehr vertraute als «den selbsternannten Sprachrohren Gottes: Da war es für mich sehr wichtig, dass die spirituelle Führung in meinem Leben weiterging.»

Tragendere Beziehungen

«Wenn eine Frau die Wahrheit sagt, schafft sie damit die Möglichkeit für mehr Wahrheit in ihrer Umgebung.»4 Adrienne Rich spricht eine Erfahrung aus, die vielen von uns vertraut ist: Indem wir uns selber zeigen, ermutigen wir andere, ehrlicher zu sich und zu anderen zu sein – und dies beschränkt sich nicht auf Lesben und Schwule allein. «In den Momenten, wo ich von meiner Liebe erzählte, spürte ich sehr viel Nähe und ein gutes Einverständnis mit den Menschen – ein tief spirituelles Gefühl.» Beziehungen zu FreundInnen und Bekannten werden nicht nur ehrlicher, vielfach erleben die betreffenden Frauen auch, dass sie an Tiefe gewinnen und vielem standhalten können: «Ich staune oft über die Tiefe, die sich da ergeben hat, wenn Beziehungen mit dem Thema gewachsen sind.» Diese gemeinschaftliche Dimension des Coming-out ist zentral. Gemeinsam bringen wir uns immer mehr an den Ort, wo jede sich selber sein und von dort aus ihre Möglichkeiten entfalten kann.

 

Ein Heilungs- und Befreiungsweg

Eines scheint bei aller Unterschiedlichkeit der Antworten allen gemein zu sein: Im Coming-out haben die Frauen näher zu ihren je eigenen konkreten Lebensthemen gefunden. Meiner Meinung nach ist es dies, was Cusanus mit «Sei du dein» bezeichnet hat. Sie sind sich, anderen und dem, was sie unbedingt angeht (Tillich) dadurch näher gekommen. Nicht immer sind damit nur Glücksgefühle verbunden, für alle aber scheint dies ein Heilungs- und Befreiungsweg zu sein, der sie stärker in Berührung bringt mit ihrer innersten Mitte, der sie in die Gemeinschaft mit anderen, die Ähnliches erfahren haben, ruft, der sie in Berührung mit der «Macht der Erotik», wie Audre Lorde sie versteht, bringt, die es nicht zulässt, Spiritualität von Sexualität abzuspalten. Sehr treffend hat dies eine der Frauen mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: «Mein Coming-out hat mich – und andere – ermutigt, noch mehr mit dem konkreten Leben in Kontakt zu kommen. Es hat mich letztlich noch mehr verwurzelt: in meinem Leben, meinem Körper, meiner Sehnsucht nach Leben in |25| Fülle in diesem konkreten, erdverbundenen Leben, und in der Liebe, der konkreten und der allumfassenden.»

Erschienen in FAMA 1999/3: «Erkundungen zu Spiritualität»

Spiritualitätsboom ohne Erotik

Vreni Schneider Biber

Eines Tages kommt ein Kollege in die Sitzung und erklärt: «Ich ziehe mich jetzt zurück aus der Südafrika-Arbeit. Ich muss mehr zu mir selber kommen.» Etwas später höre ich, er besuche nun Zen-Meditationskurse. Ich werde traurig und wütend, sein Rückzug trifft mich.

Nicht das Lieblose

Ich feiere gerne mit Frauen Gottesdienste, aber je länger je mehr langweilen mich die immer gleichen Kerzen, die bunten Tücher, das ausgegossene Wasser, die schweren Steine. Wo bleibt die Phantasie, die Vielfalt in der Sprache der Gesten? Muss es denn immer ein Sonnenblumenkern sein, den wir mitnehmen und pflanzen sollen? Es gibt doch auch Schneeglöcklein und Tulpen und ihre Zwiebeln und warum nicht auch mal eine ganz gewöhnlich Bohne?

Das Gewöhnliche, das Alltägliche, das Profane ist für mich der Ort und die Sprache des Spirituellen. Dabei meine ich nicht das Banale, sondern das Einfache; nicht das Kitschige, sondern das Schöne; nicht das Zufällige, sondern das Gesuchte; nicht das Lieblose, sondern das Gepflegte.

Ohne Menschen ist Spiritualität in all ihren Formen für mich geist-los und lieb-los. Ich sah einmal eine Fotografie von einer wunderschönen Frau aus weissem Marmor. Das Faszinierende an diesem Bild, das, was es für mich zu einem Ort von Spiritualität machte, waren die Menschen, die diese Statue betrachteten: völlig versunken in das Schauen der Schönheit, in das Begehren nach Vollkommenheit. Die Fotografin bzw. der Fotograf hat Anbetung dargestellt, völlig profan.

Nüchtern, alltäglich, beziehungsreich

Für eine Veranstaltung wurde ich angefragt, kurz darzustellen, was ich unter Spiritualität verstehe und lebe; da hat mich eine Kollegin angesprochen: «Du hast doch keine Ahnung von Spiritualität.» Ich wusste, was sie meinte. Sie kannte mein Misstrauen |26| gegenüber allem, was majestätisch, erhaben, tiefsinnig, in frommer Sprache und falscher Demut daherkommt. Ich habe versucht zu sagen, was ich meine, wenn ich etwas mit der Ruach, Gottes Geistkraft, in Verbindung bringe. Da geht es um Kampf, um Gerechtigkeit, um Leidenschaft, um Grenzen-Überschreiten, um Weinen und Lachen, um Sagen und Hören, um Übersetzen, um Entdecken und Nachdenken. Es gibt eine Beschreibung der Weisheit im biblischen Buch der Sprüche. Da erscheint sie als einladende, bewirtende Frau. Die Weisheit, die Sophia, ganz alltäglich, grosszügig allerdings, zugeneigt, offen. Eines hat mich an diesem Buch immer fasziniert: Eine gewisse Nüchternheit und Alltäglichkeit, mit der wichtige Beziehungen, Situationen und Verhaltensweisen von Menschen angesprochen werden, mögen sie nun das Miteinander unter Menschen oder mit Gott betreffen. Dieses Buch redet über gelebte Spiritualität und deshalb über Beziehungen.

Bewegung zu den Menschen hin

Spiritualität, die für sich allein, als Haltung des Rückzugs von andern, gepflegt wird, macht mich zutiefst misstrauisch. Ausdrücke wie «meine innere Mitte suchen», erwecken bei mir die Lust auf sarkastische Überlegungen. Mercy Oduyoye, eine feministische Theologin aus Ghana, hat in Harare an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates im Jahr 1998 die Befürchtung ausgesprochen, dass das boomende Christentum in Afrika wie eine Zwiebel sein könnte: Wenn man sie öffnet, schält, ist am Schluss nichts mehr da. Manchmal verdächtige ich gewisse spirituelle Abenteuer, die Menschen empfohlen werden, dass sie zum Zwiebelschälen führen, und Menschen schliesslich leer, enttäuscht über sich selber und den Geist, den man ihnen gestohlen hat, zurücklassen.

Reiche können sich solche Spiritualität leisten, weil sie die entdeckte Hohlheit flugs mit materiellen Gütern füllen können. Arme brauchen nicht die Entdeckung ihrer Armut, sondern die Zusage, dass sie die Fülle des Geistes bekommen, wie es die erste Seligpreisung in der Bergpredigt Jesu verheisst. Spiritualität hat für mich mit Suche zu tun, mit Bewegung, aber nicht in mir selber, sondern mit der Suche nach Gerechtigkeit, mit der Bewegung zur Welt und den Menschen hin. Dafür brauche ich die Ruach, den Geist und die Weisheit. Sie weckt in mir Zorn und Wut, Sehnsucht und Leidenschaft.

Unbezwingbarer Geist des Protests

Letzthin habe ich ein Fotobuch aus Südafrika gefunden: Am 9. August 1956 standen 20 000 Frauen vor dem Regierungsgebäude in Pretoria, um gegen das Passgesetz zu protestieren. Sie waren von überall her gekommen und standen nun dicht gedrängt in grossen Halbkreisen und warteten darauf, dass ihre Führerinnen die Petition ablieferten. Wie im Apartheidstaat üblich: Der Premierminister hat die Frauen nicht empfangen. Seither heisst dieser Tag «Frauentag», und für viele Frauen, die vorher nicht politisch waren, war es der Beginn des Kampfes um das Menschsein. So erzählt |27| es auch Helen Joseph, eine weisse Mittelstandsfrau, damals 51 Jahre alt, in ihrem Buch «Allein und doch nicht einsam». Als Protest haben die Frauen ihre Arme zum ANC-Gruss erhoben und so eine halbe Stunde still zusammengestanden. «Nach der Protestkundgebung gingen die Frauen – genau so ruhig und diszipliniert wie sie gekommen waren – die Treppe zur der Strasse hinunter; nur sangen sie jetzt. Und dann waren die Gartenterrassen wieder leer – nicht wirklich leer, denn etwas von dem unbezwingbaren Geist des Protests muss zurückgeblieben sein. Und vielleicht ist er immer noch da, auch wenn man ihn nicht sehen und nicht greifen kann.»5 So ist der Terrassenplatz vor dem verhassten Regierungsgebäude zu einem Ort der Spiritualität geworden. Ich kenne noch andere solche Orte, und sie machen mich jeweils andächtiger als Kapellen und Kirchen mit Kerzen und Weihrauch, Wandgemälden und Kanzeln. Es sind Orte, an denen Zeuginnen und Zeugen des Kampfes um die Gerechtigkeit gedacht wird. Das könnten Kirchen auch sein, wenn sie nur nicht von uns Menschen zu Orten des Rückzugs, der Feigheit, der Anpassung, zu Orten schwelgender, spiritueller Vernebelung gemacht worden wären.

Fürbitte

Eine der intensivsten spirituellen Erfahrungen ist für mich das Gedenken in einem liturgischen Rahmen. Es gibt dafür mehrere Formen, zwei von ihnen habe ich als sehr hilfreich für widerständige Gruppen empfunden und zwar gerade auch, wenn Menschen darunter sind, denen religiöse Sprache und Formen fremd sind. Die eine ist das Gedenken für Menschen, die im Kampf um Gerechtigkeit gestorben sind. Da mag es denn heissen: «Ich denke an … die … gesagt, getan, bedeutet hat.» Die andere ist das Gedenken an jene, die kämpfen, leiden, hoffen. Die Fürbitte in verschiedenen Formen und in so profaner Sprache, wie möglich, ist eine grosse Hilfe gegen die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, die Resignation, die alle bedroht; sie setzt sich mit den Mächten der Ungerechtigkeit auseinander. Auf einer Tagung haben wir jeweils am Morgen und am Abend einen Moment der gemeinsamen Besinnung angeboten. Beim ersten Mal waren wir kirchlich sozialisierten Teilnehmenden so ziemlich unter uns. Beim dritten Mal waren auch die bekennenden A-Kirchlichen dabei und haben das Gedenken mitgetragen. Eine Freundin aus dem linken Spektrum hat zu mir gesagt: «Darum beneide ich euch. Ihr habt eine gemeinsame Sprache, in der Dinge gesagt werden können, die verbinden.»

Sprache der Liebe

Spiritualität hat etwas mit Übersetzen, Deuten und Sprache zu tun. Eine Spiritualität, die sprachlos macht oder gar die Sprachlosigkeit als höhere Form der Vergeistigung anpreist, steht für mich in der Gefahr, lieb-los zu werden. Sprachverweigerung ist intensivste Liebesverweigerung. Das hat mich ein Ehepaar gelehrt, dessen Streitigkeiten |28| jeweils so ausgetragen wurden, dass der Mann schwieg, von einer Woche bis zu zwei Monaten. Während einer solchen Phase, wurde ich zum Essen eingeladen. Das Gespräch ging im Dreieck über mich. Ich bin noch nie so nahe an einen hysterischen Schreianfall geraten. Schweigen kann seine Zeit haben, Schweigen kann wohltuend und sogar verbindend sein, aber es braucht die Deutung der Sprache, die Begrenzung durch Sprache, sonst wird Schweigen chaotisch und tödlich.

Ich habe grosse Hemmungen beim Tanzen im gottesdienstlichen Rahmen und habe mich gefragt, warum. Zum einen bin ich extrem scheu, wenn es darum geht, dass andere mich anschauen wenn ich mich bewege, und zum andern kommt es mir so künstlich vor. Pina Bausch, die Choreografin aus Wuppertal, erzählt, dass sie in Mexiko in einen Saal geführt wurde, wo Hunderte von Paaren – junge, alte – getanzt haben. Gesittet sei es zugegangen, aber im Saal habe eine fast greifbare Erotik geherrscht: «Es war so schön; ich habe weinen müssen.»

Vielleicht fehlt mir im heutigen Spiritualitätsboom die Erotik, die Sprache der Liebe.

Erschienen in FAMA 3/1999: «Erkundungen zu Spiritualität»