Die neuen alten Frauen

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Vom grauen zum bunten Vogel. Kompetenzen einbringen in die Gesellschaft
Dorothee Brunner, Annelies Saffran und Barbara Scheffer im Gespräch mit Usch Vollenwyder

Es war auf dem Heimweg von der ersten Zukunftskonferenz der «GrossmütterRevolution» im März 2010 im Kiental im Berner Oberland, wo über fünfzig Frauen in der zweiten Lebenshälfte gemeinsam zwei Tage lang über ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Anliegen und ihre Ideen diskutiert hatten. Angeregt von den vielen Begegnungen und Diskussionen, gingen die Gespräche auch im Zug nach Hause noch weiter. Man erzählte sich Begebenheiten aus dem eigenen Leben, tauschte Erfahrungen aus und realisierte, wieviel Potenzial in den verschiedenen Lebensgeschichten steckte. Das sollte sich für die eigene Zukunft und für die Gesellschaft nutzen lassen.

Einige der Frauen trafen sich wieder und formierten sich als Gruppe, die sich dem Projekt «Neue Frauen-Alterskultur konkret» anschloss. Verbindliche Arbeitsvereinbarungen wurden ­getroffen und Ziele formuliert. Zusammen wollte man sich auf einen Erzähl- und Reflektionsprozess über seine Lebens­ge­schich­te einlassen. In der eigenen Biografie sollten Schwerpunkte und Stärken erkannt und herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt ging die Gruppe der Frage nach, wie sie diese Fähigkeiten für sich selber, ihr soziales Umfeld und im öffentlichen Raum nutzen konnten. Es war der Anfang der Stammgruppe «Kompetenzen einbringen in die Gesellschaft».

Unter dem Titel «Vom grauen zum bunten Vogel», symbolisiert durch ein Bild des leuchtend farbigen Vogels «Livesaver» von Niki de Saint-Phalle, präsentierten vier Frauen um die Initiantin Barbara Scheffer an einer Projekttagung zwei Jahre später das Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Der bunte Vogel sollte die Vielfalt von Kompetenzen zeigen, welche Frauen mit Lebenserfahrung der Gesellschaft zugutekommen lassen. Der Vogel steht dabei mit ausgebreiteten Flügeln fest auf dem Boden: Er ist sicher verankert und gleichzeitig bereit abzuheben – ein Sinnbild für Stärke und Kreativität von älteren Frauen.

Noch einmal zwei Jahre später halten drei Frauen aus dieser Gruppe Rückschau. Im Gespräch mit der Journalistin Usch Vollenwyder erzählen Barbara Scheffer (70), Annelies Saffran (66) und Dorothee Brunner (70), wie sie zu diesem Projekt gefunden und was sie daraus gewonnen haben. Sie erinnern sich an ihre Aufgaben und die Vorgehensweisen während der gemeinsamen Arbeit und sind dankbar für die persönliche Bereicherung, die sie dadurch erfahren haben. Schliesslich zeigen sie die Ergebnisse auf, die sie während dieses Prozesses erarbeitet haben.

Barbara Scheffer: In unseren Gesprächen wollten wir nicht einfach Fakten und Daten aus unserem Leben aufzählen. Vielmehr wollten wir die Geschichten dahinter erkunden. Deshalb schrieben wir unsere wichtigsten Lebensabschnitte auf und dachten schreibend darüber nach. Dann schickten wir einander die Texte per Mail zu. Wir setzten uns intensiv damit auseinander, fragten nach und gaben Feedbacks. In regelmässigen Abständen trafen wir uns zu weiteren Diskussionen – jeweils im privaten Rahmen. Damit machten wir auch äusserlich deutlich, dass wir unsere beruflichen Rollen abgelegt hatten und sich niemand mehr als Berufsfrau einbringen musste.

Annelies Saffran: Für mich war es spannend zu erleben, wie sich aus dem einfachen Erzählen und Aufschreiben heraus Fragen ergaben: Woher kommen wir? Was hat uns geprägt in unserer Kindheit, während der Ausbildung, im Beruf, während der Familienphase? Es war nicht immer einfach, solchen Fragen nachzugehen und löste zeitweise auch Widerstände aus. Da galt es Blockaden zu überwinden, genau hinzuschauen, ehrlich und schonungslos mit sich selber zu sein. Vieles tat weh. Aber es lohnte sich: In diese Phase unserer gemeinsamen Arbeit fiel die Trennung von meinem Mann – nach 33 Jahren. Ich stand vor einem Scherbenhaufen. Beim Schreiben und bei unseren Gesprächen realisierte ich jedoch, dass ich nicht etwa ohne Boden dastand. Im Gegenteil: Ich hatte schon viele schwierige Situationen gemeistert. Diese Erkenntnis gab mir in dieser für mich unglaublich dramatischen und komplizierten Zeit Kraft und Zuversicht.

Dorothee Brunner: Für mich war es schwierig, beim Reflektieren und Schreiben konsequent bei mir selber zu bleiben. Ich war oft versucht, bestimmten Vorstellungen nachzuhängen, statt ehrlich über mich selber und mein Leben nachzudenken.

Annelies Saffran: Ganz wichtig waren unsere gegenseitigen Rückmeldungen. Ich bekam so viel Wertschätzung zu hören, dass ich oft dachte: Wow, das stimmt, darauf kann ich stolz sein, diese Phase habe ich gut bewältigt! Eine solch wertschätzende Haltung versuche ich seither auch in meinem privaten Umfeld auszustrahlen. Wenn mir jemand von einer schwierigen Situation erzählt, hake ich nach und lenke den Blick auf das, was gelungen ist. Das gibt dem Gegenüber Selbstvertrauen und Mut.

Dorothee Brunner Wir sind ja drei sehr unterschiedliche Frauen. Jede Biografie ist anders. Wir lernten, trotz unterschiedlicher Lebenserfahrungen respektvoll und eben wertschätzend aufeinander zuzugehen. Es war für mich befreiend zu spüren: Ich werde geschätzt, so wie ich bin, mit der Wahl, die ich für mein Leben getroffen habe. Ich bin frei, meinen eigenen, für mich richtigen Weg zu gehen – auch in der Kirche, auch in der Partei.

Barbara Scheffer: Wertschätzung zeigt sich bereits am Interesse und an der Anteilnahme am Leben anderer. Diese Neugierde haben wir einander signalisiert: Wer bist du? Wie hast du das gemacht? Wie hast du diese Herausforderung gemeistert, jenes Problem bewältigt? Gemeinsam kam die Erkenntnis: Wir haben zwar auch Fehler gemacht, aber alles in allem sind wir vorwärts gekommen. Schwierige Situationen waren schmerzhaft, doch sie haben uns letztlich weitergebracht. Darauf können wir auch für die Zukunft bauen: Wir werden Neues erleben – Schönes und Schwieriges – und werden uns weiter entwickeln! Uns ist bewusst, dass nur wir selber für uns und unser Glück verantwortlich sind. Diese Verantwortung können und wollen wir nicht abschieben.

Annelies Saffran: In der eigenen Lebensgeschichte liess sich ein roter Faden entdecken, dem wir auch die nächsten Jahre entlang gehen werden. Bei mir ist es mein grosses Interesse an ­anderen Menschen. Daraus hat sich mein Menschenbild ent­wickelt: Auf andere zugehen, ihnen mit einer positiven Grundhaltung begegnen und sie dann grundsätzlich annehmen, so wie sie sind. Vielleicht ergibt sich eine Begegnung, eine Beziehung daraus, kürzer oder länger …

Barbara Scheffer: Mein roter Faden – ich habe ihn erst beim freien Erzählen realisiert – ist mein umfassendes interkulturelles Interesse. Von klein auf war ich umgeben von unterschiedlichen Menschen – auf einem Bauernhof in Hessen, wo in der Nachkriegszeit verschiedene Familien zwangseinquartiert waren und auf engstem Raum zusammenleben mussten. Unsere Familie lebte in einem Zimmer, mein Vater hatte als Landarzt zwei Praxisräume, die Toilette war auf der Etage – ein Privileg! Was für meine Mutter der gefürchtete soziale Abstieg war, bedeutete für mich spannendes Abenteuer. Ich entdeckte den ganzen Reichtum verschiedener Kulturen. Ich lernte verschiedene Dialekte, andere Essgewohnheiten, unterschiedliche Lebenswege, fremde Denkweisen kennen. Dieses Interesse ist in mir bis heute lebendig!

Dorothee Brunner: Mein roter Faden ist unser Familienhalt. Ich war eine urtypische Frau – mit Mann und Kindern, einer kleinen Familie. Ich arbeitete im Haushalt, unterstützte meinen Mann und war zufrieden. Mein eigenes Leben habe ich erst viel später in die eigenen Hände genommen. Heute habe ich vier Enkelkinder. Die Familie ist mir durch alle Höhen und Tiefen eine Quelle der Freude und Zufriedenheit geblieben.

Barbara Scheffer: Noch etwas: Wir haben den gleichen Humor. Wir haben ernsthaft diskutiert und gearbeitet und trotzdem viel gelacht. Das hat vielen Ereignissen in unserem Leben auch ein bisschen von ihrer Schwere genommen.

Im weiteren Gespräch haben Barbara Scheffer, Annelies Saffran und Dorothee Brunner den Phasen in ihrem Leben nachgespürt, welche für sie besonders prägend waren. Sie sprachen von Dreh- und Angelpunkten, die sie auf einen anderen Weg brachten; von Zufällen, die ihrem Leben eine neue Wende gaben. Sie erzählten von Türen, die sich öffneten und von anderen, die sich schlossen. Sie erinnerten sich an schöne und schwierige Momente in ihrer Biografie, die so wichtig waren, dass sie sie bis heute nicht vergessen haben. Prägend erlebten sie aber auch ihr familiäres Umfeld und den gesellschaftlichen Kontext, in welchem sie jung waren.

Annelies Saffran: Meine ersten sechs prägenden Jahre verbrachte ich in Südfrankreich – in einem liebevollen, warmherzigen Umfeld. Das war ein Glück. Durch die Geschäftstätigkeit meines Vaters kam ich mit Menschen aus ganz Europa zusammen. Zurück in der Schweiz, fiel ich als Kind geschiedener Eltern und mit meiner Sprache mit dem französischen Akzent auf. Lebenswelten prallten aufeinander. Zum ersten Mal wurde ich mit Vorurteilen konfrontiert. Ich litt unter autoritären Lehrern und einer rigiden religiösen Erziehung. Das änderte sich erst 1968, als ich ein halbes Jahr in Kalifornien lebte: Lustvolle Auseinandersetzungen und Gespräche in einem multikulturellen Umfeld aktivierten in mir brachliegende Fähigkeiten. Ich begann, mich aktiv in gesellschaftspolitische Fragen einzumischen und Position zu beziehen.

Dorothee Brunner: Die 68er-Jahre gingen völlig an mir vorbei. Die Jugendunruhen nahm ich als kriegerischen Ausnahmezustand wahr. Ich lebte in einer anderen Welt, in meiner kleinen Familienwelt! Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich mich politisch gar nie irgendwo eingebunden gefühlt hatte.

Barbara Scheffer: Bei mir war das Gegenteil der Fall. Ich lebte damals in Frankfurt und war in verschiedenen Projekten der alternativen Jugend- und Drogenarbeit tätig. Die Gesellschaft war im Umbruch, uns stand die Welt offen. Ich war sehr engagiert in der Bewegung der 68er, allerdings ohne mich einer Ideologie zu unterwerfen. Ich war schon als Kind sehr eigensinnig und hatte mich dagegen gewehrt, wenn mich meine Grossmutter in den Kindergarten begleiten wollte. Später verliess ich die Uni, weil mir die Professoren zu autoritär waren. Gegen den Widerstand meiner Eltern wurde ich Sozialarbeiterin. Als junge Frau mochte ich die linken Männer nicht und die rechten noch weniger. Ich wollte auch nie Kinder haben. Allen Trends zum Trotz lebte ich nicht in einer Wohngemeinschaft. Ich ging immer meinen eigenen Weg.

 

Dorothee Brunner: Diesen eigenen Weg musste ich zuerst ­finden. Mit knapp 22 Jahren hatte ich geheiratet und wurde schwanger. Irgendwann realisierte ich, dass ich alles mache, wie es schon meine Mutter gemacht hatte. Unbewusst überlegte ich ständig, ob ich ihr wohl genügen würde. Nach meiner Scheidung Mitte dreissig wusste ich: So, jetzt muss ich für mich selber einstehen. Als erstes will ich jetzt wissen, wer und wie eigentlich ich selber bin. Diese Entwicklung, die mit meiner Scheidung einherging, war für mein weiteres Leben entscheidend.

Barbara Scheffer: Ich wollte nie heiraten. Dann verliebte ich mich in einen Schweizer, gab in Frankfurt eine Kaderposition auf und kam in die Schweiz, weil mein Partner als halber Ägypter in Deutschland einem alltäglichen Rassismus ausgesetzt war. Das war 1975, es herrschte Rezession. Auf die Vorurteile, denen ich als Deutsche begegnete, war ich nicht vorbereitet. Wir heirateten, damit ich hier bleiben und arbeiten konnte. Die drei Söhne meines Mannes im Alter von dreizehn, fünfzehn und sechzehn Jahren lebten ebenfalls bei uns. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich, die ich nie Kinder haben wollte, hatte plötzlich eine ganze Familie. Die Kinder meines Mannes wurden auch zu meinen Kindern. Sechzehn Jahre später wurde ich geschieden. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Gleichzeitig staunte ich über meine Sicherheit und die Klarheit, mit der ich wusste: Ich will diese Trennung für mich.

Annelies Saffran: Für mich war die Scheidung die letzte grosse Zäsur in meinem bisherigen Leben. Meine Beziehung, in der ich mich so geborgen gefühlt hatte, brach einfach weg. Erst mit der Zeit konnte ich mir eingestehen, dass ich auch Illusionen nachgehangen war. Jetzt bin ich langsam dabei, mir meine Geborgenheit selber zu schaffen. Das ist ein langer Prozess, und er ist noch nicht zu Ende.

Barbara Scheffer: Ich hatte neben meinem Mann und den Söhnen glücklicherweise immer auch mein eigenes Leben gelebt. Ich ging meinem Beruf nach, war in der feministischen Bewegung tätig, hatte einen eigenen Freundeskreis – deshalb bedeutete meine Scheidung nicht den Bruch mit meinem sozialen Umfeld. Der Beruf spielte in meinem Leben immer eine sehr grosse Rolle und ich erachte es als grosses Geschenk, dass ich dank meinem Mann in der Schweiz leben und arbeiten durfte. Als Dozentin und Supervisorin an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich konnte ich mit meinem Team zusammen eine unglaublich grosse Freiheit nutzen. Der gesellschaftliche Aufbruch fand seine Fortsetzung auf der beruflichen Ebene und setzte auch bei mir persönlich vieles in Bewegung.

Annelies Saffran: Ich arbeitete als junge Frau zunächst als Flugbegleiterin auf dem Flughafen Kloten und war später in einem Reisebüro tätig. Ich genoss das Unterwegs-Sein zwischen den Kulturen; ich genoss es, neue Landschaften und Städte kennenzulernen. Reisen wurde für mich ein Lebenselixier – bis heute. Schliesslich arbeitete ich nach einer längeren Familienpause und verschiedenen Freiwilligenengagements bis zu meiner Pensionierung als Kundenbetreuerin in einem Wirtschaftsfachverlag.

Dorothee Brunner: Ich hatte eine Ausbildung als kaufmännische Angestellte gemacht; es kam mir aber nicht in den Sinn, als Frau und Mutter Karriere machen zu wollen. Meine Fähigkeiten stellte ich in den Dienst der Familie. Ich folgte einem sehr traditionellen Frauenbild, zu Küche und den Kindern gehörte auch die Kirche. Als ich angefragt wurde, ob ich in der Kirchenpflege mithelfen würde, wurde ich um mindestens zwanzig Zentimeter grösser. Ich merkte: Man traut mir etwas zu – auch ausserhalb meiner Familie. Es war die Bestätigung, dass ich überhaupt wahrgenommen wurde. Dass ich schliesslich auch beruflich Fuss fassen konnte, war für mein weiteres Leben sehr prägend. Ich fand eine Stelle in einem Behindertenwohnheim, das damals neu gebaut wurde, und blieb dort bis zu meiner Pensionierung als Betreuerin tätig.

Annelies Saffran: Wichtig scheint mir, mit unserer Lebensgeschichte versöhnt zu sein. Ich bin überzeugt, dass es uns nur dann gelingt, innerlich weiterzuwachsen.

Dorothee Brunner: Weiterwachsen bis zum Ende … Dazu gehört die Überzeugung, dass es nie zu spät ist, um nochmals aufzubrechen und Neues zu wagen. Oder nachzuholen, was man verpasst hat und bedauert. Mir gefällt das Motto von Martin Luther: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» Denn es hört nie auf, das Leben. Es geht immer weiter.

Aus allen Erfahrungen, mehr noch aus den bitteren als aus den schönen, sind die drei Frauen gestärkt hervorgegangen. Sie bewältigten Krisen, lösten Probleme und überwanden Hindernisse – jede auf ihre Art, und alle auf eine gute Art. Aus diesem Bündel von Eigenschaften und Fähigkeiten und aus den gesammelten Erfahrungen hat sich bei allen drei Frauen eine unglaublich grosse Lebenskompetenz ergeben. Sie umfasst die verschiedensten Bereiche und befähigt, der Zukunft mit Gelassenheit entgegenzusehen. Neben dieser allgemeinen Lebenskompetenz haben sich aufgrund verschiedener Lebensstationen ebenfalls konkrete Fähigkeiten herauskristallisiert. Diesen besonderen Kompetenzen gehen Annelies Saffran, Barbara Scheffer und Dorothee Brunner im weiteren Gespräch nach.

Dorothee Brunner: Ich war in früheren Jahren eine abhängige, verunsicherte Frau. Erst durch all die Erfahrungen bin ich zu der Frau geworden, die ich heute bin. Als ich mich auf den eigenen Weg machte, musste ich zuerst an meiner Selbstkompetenz arbeiten: Wie nutze ich meine Zeit? Wie gestalte ich sie? Was nehme ich für mich, was gebe ich meinem Umfeld? Wie und wo kann und will ich mitarbeiten? Ernsthaft, nicht einfach so ein bisschen … Ich will nicht mehr von aussen gesteuert werden und das machen müssen, was die Werbung oder andere mir sagen. Nein, ich muss gar nichts. Was ich jetzt mache, liegt in meinem eigenen Ermessen.

Barbara Scheffer: Diese Selbstkompetenz ist mir auch ganz wichtig: Ich will auf keinen Fall mehr lauter Termine haben und fremdbestimmt durch den Alltag gehen. Selbstverständlich bin ich bereit, gewisse Kompromisse einzugehen. Ich versuche die Balance zu finden zwischen kreativer Selbstbestimmung und den Verbindlichkeiten, die ich einhalten will. Aber grundsätzlich bin ich es, und nur ich, die über mein Leben bestimmt.

Annelies Saffran: Ich erachte es auch als eine Kompetenz, dass ich gut mit der neuen Freiheit als geschiedene und pensionierte Frau umgehen kann. Ich löse mich von Zwängen und Pflichten, von Grenzen und Vorgaben. Ich gehöre der Welt – das spüre ich auch immer wieder, wenn ich auf Reisen bin. Diesen Freiraum geniesse ich ebenfalls zu Hause: Ich habe jetzt Zeit für meine ureigenen Interessen, für meine Kurse und Weiterbildungen, fürs Lesen und Schreiben.

Dorothee Brunner: Um diesen Freiraum nach seinen Bedürfnissen zu nutzen, muss man aber zuerst spüren, wer man ist und was man will. Viele Menschen haben vielleicht nie die Gelegenheit dazu. Bei mir dauerte es auch seine Zeit, bis ich mich ganz bewusst mit mir selber auseinanderzusetzen begann. Dann erst lernte ich, meine Energien auch für mich selber freizumachen – und nicht immer nur für die anderen. Auf diesem Weg will ich weitergehen. Ich bin offen geworden.

Barbara Scheffer: Bei sich selber bleiben – dazu fällt mir eine wichtige Kompetenz ein: Ich fand mich nie attraktiv, das wurde mir von den Eltern auch so gesagt. Natürlich wollte ich geliebt werden, auch wenn ich nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprach. Viele Menschen beginnen aus diesem Grund heraus, sich zu verbiegen und sich anzupassen. Dass man wagt, zu sein, wie man ist, und zu sich selber steht – das ist eine Fähigkeit, die es sich anzueignen lohnt.

Dorothee Brunner: Das lernte ich während meines beruflichen Engagements als Betreuerin. Im Team lernte ich, mich auszusprechen. Nicht mehr zu warten, bis eine Situation eskaliert. Ein Anliegen zu vertreten, es auf den Tisch zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, etwas Unangenehmes auszulösen.

Annelies Saffran: Als ich nach meiner Diagnose Diabetes als junge Frau eine Tagung der Diabetes-Vereinigung besuchte, traf ich zum ersten Mal überhaupt auf Leidensgenossinnen in meinem Alter. Das aktivierte in mir neue Kräfte: Ich ging auf die Bühne und sagte, ich würde gern eine Gesprächsselbsthilfegruppe gründen. An diesem Tag entstanden gleich zwei Gruppen und ich bekam Vertrauen, dass man ein gutes Leben auch mit diesen Einschränkungen haben kann. Die Auseinandersetzung mit meiner Krankheit hat mich Wesentliches fürs Leben gelehrt.

Barbara Scheffer: Besondere Kompetenzen erwarb ich ebenfalls, als ich im Behindertenbereich tätig war. Das war für mich eine grosse Herausforderung. Aber in der Arbeit mit geistig Behinderten lernte ich Fähigkeiten wie Bedachtsamkeit, Achtsamkeit und Langsamkeit – Fähigkeiten, die ich vorher nicht gehabt hatte.

Dorothee Brunner: Aus dieser Zeit habe ich auch ein Schlüsselerlebnis. Ich war mit einem Bewohner im Rollstuhl im Garten des Behindertenwohnheims unterwegs und sagte zu ihm: Jetzt gehen wir doch noch schnell … In diesem Augenblick kam der Direktor vorbei und meinte: Wir machen hier überhaupt nichts schnell. Er hatte recht. Wenn ich etwas schnell machen wollte, klappte es bestimmt nicht. Druck erzeugt Gegendruck.

Annelies Saffran: Meine Erfahrung zeigt mir, dass man letztlich an allem wachsen, reifen und Kompetenzen entwickeln kann. Deshalb können wir getrost auch den nächsten Lebensab­schnitt angehen und uns auf den Prozess des Altwerdens und schliesslich des Sterbens einlassen. Wir haben ja schon viele schwierige Hürden genommen!

Barbara Scheffer: Zu unserer grossen Lebenskompetenz gehört tatsächlich unsere Anpassungsfähigkeit. Wir wissen, dass wir uns auch neuen Situationen anpassen können. Ich denke zum Beispiel an das fragile Alter. Ich habe Vertrauen und fühle mich kompetent, auch diesen Lebensabschnitt aktiv zu packen. Noch muss ich allerdings trainieren. Ich habe Mühe, um Hilfe zu bitten, und versuche deshalb mit allen Hilfsmitteln und Möglichkeiten, selbständig zu bleiben. Aber ich weiss: Eines Tages ist das nicht mehr möglich. Auf diesen Tag möchte ich vorbereitet sein.

Annelies Saffran: Mir ist dabei meine Kompetenz als Patientin sehr wichtig. Als Kind hatte ich einen Herzfehler, als junge Frau erkrankte ich an Diabetes. Heute bin ich überzeugt, dass ich mich und meinen Körper am besten kenne. Die Ärzteschaft hat für mich eine beratende Funktion. Entscheiden und verantworten was mich betrifft – das übernehme ich. Dafür bin ich zuständig.

Barbara Scheffer: Diese Patientenkompetenz ist mir im Hinblick auf meinen nächsten Lebensabschnitt ebenfalls ganz wichtig. Ich bin verantwortlich für meinen Körper. Ich bin deshalb auch bei einer Sterbehilfeorganisation und möchte sagen können, wann mein Leben zu Ende gehen soll. Das ist mit meinem jüngsten Sohn so besprochen. Ich habe auch eine Patientenverfügung hinterlegt.

Dorothee Brunner: So weit bin ich nicht. Ich habe es zwar bei den Eltern erlebt, wie angenehm es ist, wenn Verfügungen vorhanden sind. Wir wussten um ihre letzten Wünsche und konnten sie ihnen erfüllen. Ich denke natürlich immer wieder daran: Irgendwann geht mein Leben zu Ende, vielleicht morgen schon. Es kommt, wie es kommen wird. Und dann überlege ich auch: Was will ich hinterlassen? Was wird bleiben, wenn ich einmal nicht mehr bin? Welche Spuren? In letzter Zeit ertappe ich mich sogar dabei, dass ich eine Melodie höre und mir der Gedanke kommt: Das wäre doch Musik für meine Beerdigung.

Barbara Scheffer: Das ist auch eine Kompetenz, die sich aus unserer Lebenserfahrung ergeben hat: Wir sind fähig, uns mit dem Tod auseinanderzusetzen. Ich kann morgen gehen, weil ich mein Leben gelebt habe und gut gelebt habe. Ich hinterlasse Spuren. Aus dem, was ich bei meiner Geburt mitbekommen habe und was mir das Leben gebracht hat, habe ich etwas Gutes gemacht. An meiner Beerdigung soll das Lied erklingen, das ich mir bei allen Übergängen in meinem Leben immer wieder aufgelegt habe: «New Orleans Function» von Louis Armstrong. Dar­in wird zuerst wird getrauert und geweint, danach getanzt und gefeiert. Das ist für mich ein wichtiges Symbol für das Leben überhaupt.

 

Annelies Saffran: Mein Sinnbild für den Tod ist ein Gedicht von Silja Walter. Darin schreibt sie, sie möchte Schnee sein im August und sich singend dabei zusehen, wie sie langsam von den Rändern her vergeht. Dieses Bild gefällt mir. Ich bin nicht im traditionellen Sinne religiös. Aber ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit unseren Vorfahren, mit den Nachkommenden und mit dem Leben überhaupt. Ich betrachte den Sternenhimmel, das Universum und denke: Aus Staub hat sich alles gebildet und wird irgendwann wieder zu Staub – das macht mich zuversichtlich. Das war aber nicht immer so. Wegen meines Herzfehlers hatte ich als Kind eine grosse Sterbeangst. Ich verlor zudem zwei Cousins an Muskeldystrophie. Angegangen bin ich diese Ängste erst, als ich die Diagnose Diabetes erhielt und mein Leben umstellen musste.

Barbara Scheffer: Bei uns im Dorf war der Umgang mit dem Tod noch ganz offen. Die Toten wurden im Hof aufgebahrt, wir berührten sie, und klare Rituale gaben Sicherheit. Für mich ist der Tod nichts Schreckliches, auch der eigene nicht. Ich habe die Begabung, Menschen loszulassen. Ich kann Sterbenden sagen, dass sie jetzt gehen dürfen. Das war meine Rolle bei meinen Eltern, bei meinem Bruder vor zwei Jahren und sehr früh auch schon bei meinem Tanzstundenfreund. Eine nachhaltige Erfahrung war ebenfalls die Begleitung der sterbenden Mutter meiner kenianischen Freundin in ihrem eigenen Umfeld. Eine solch loslassende Begleitung wünsche ich mir auch einmal bei meinem eigenen Sterben.

Dorothee Brunner: Mir war es ein grosses Bedürfnis, meine ­Eltern in Deutschland auf ihrem letzten Lebensabschnitt zu begleiten. Ich konnte mir eine Auszeit von einem halben Jahr nehmen und war wochenweise immer wieder bei ihnen. Natürlich spürte ich die Grenzen, aber meine Schwester und ich bekamen auch viel Unterstützung und Hilfe. Und es hat sich alles abgerundet, der Kreis hat sich geschlossen. Diese Erfahrung hat mir auch für meine Zukunft Vertrauen und Zuversicht gegeben.

Annelies Saffran, Dorothee Brunner und Barbara Scheffer sind Fachfrauen ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie sind bereit, ihre erworbenen Kompetenzen weiterzugeben. Sie sollen nicht nur ihnen selber und ihrer Familie, sondern auch ihrem weiteren Umfeld und letztlich der Gesellschaft zugutekommen. Das Tätigkeitsfeld mag in der nachberuflichen Zeit kleiner geworden sein; es ist ihnen deshalb nicht weniger wichtig. Im letzten Teil des Gesprächs erzählen die drei Frauen von ihren Projekten und Träumen, von ihren freiwilligen Engagements und ihrem Einsatz für andere.

Dorothee Brunner: Ich bringe meine Kompetenzen in meine Umgebung ein, zuerst und am wichtigsten in die Familie. Ich freue mich über meine vier Enkel. Während sie sich in einem gewissen Alter mit ihren Eltern reiben und diese das aushalten müssen, bleiben sie für uns Grosseltern weiterhin wunderbare Kinder, genauso wie sie sind. Da kann ich vermitteln, die positiven Seiten sehen! Ich nehme auch Anteil am Geschehen in der Schule.

Annelies Saffran: Meine Kompetenzen bringe ich auch zuerst in meine Kleinfamilie ein. Mein Sohn hat sich vor anderthalb Jahren von seiner Partnerin getrennt. Meine Enkelin, die jetzt dreieinhalb Jahre alt ist, habe ich durch die ganze schwierige Zeit begleitet und sehe sie weiterhin regelmässig. Ich geniesse jede Sekunde mit ihr. Wenn ich mit ihr unterwegs bin, bin auch immer sofort im Gespräch mit anderen Müttern, Grossmüttern und Kindern. Es hat mit meiner Persönlichkeit, mit meinen Kompetenzen zu tun, dass ich das Vertrauen nicht nur von meinem Sohn, sondern auch von der Mutter seiner Tochter geniesse. Dafür bin ich sehr dankbar.

Barbara Scheffer: Ich denke auch, dass unser Einfluss auf die nächsten Generationen nicht zu unterschätzen ist. Mein Geschenk an meine sieben Enkelkinder war seit jeher Zeit für sie. Im letzten Jahr habe ich zu ihnen gesagt: Wenn ihr mich sehen wollt, dann telefoniert und wir machen ab, zu was ihr Lust habt. Mit meinem ältesten Enkel diskutiere ich über politische Vorlagen – er fragt dann, wie ich abgestimmt hätte. Meine Enkeltochter, von der ich glaubte, sie würde sich hauptsächlich fürs Schönsein interessieren, wollte kürzlich mit mir ins Kino, in einen schweren und düsteren Film. Sie sagte nachher: Weisst du, du bist immer noch die Oma für das Besondere. Ich freute mich darüber. Meine Lebensweise und Ansichten sind in unserer Grossfamilie offenbar auch in der jüngeren Generation noch gefragt.

Dorothee Brunner: Ich lebe auch ausserhalb meiner Familie meine soziale Ader. Ich suche zwar keine entsprechenden Engagements, aber ich komme immer wieder in Situationen, wo meine Kompetenzen als Begleiterin gefragt sind. Jetzt achte ich aber darauf, dass die Situation auch für mich stimmt. Nur wenn es mir gut geht, kann ich andere wirklich unterstützen.

Barbara Scheffer: Ich hole einen kleinen Fünfjährigen, der unten im Haus wohnt, vom Hort ab, wenn die Hortzeiten und die Arbeitszeiten der Mutter nicht vereinbar sind. Dann spiele ich mit ihm, bis seine Mutter heimkommt. Ich merke, dass mein Radius insgesamt kleiner geworden ist, aber von den Werten und meiner Haltung her ist mein Engagement genau gleich wichtig geblieben. Es macht mir sogar Spass, in einem kleinen, überschaubaren Rahmen zu handeln und zu ermutigen, positiv zu verstärken, Vertrauen und Zuversicht auszustrahlen. In diesem Sinn kann ich der Mutter des Kleinen ebenso viel geben wie dem Jungen. Sie soll wissen, dass sie das gut macht, dass sie eine gute Mutter ist.

Dorothee Brunner: Mein Engagement bezieht sich hauptsächlich auf die Gemeinde, in welcher ich sehr integriert bin. Ich lanciere nicht die grossen Würfe, aber ich suche das Gespräch, die Zwischentöne, die Anliegen der Menschen. Ich bin in der Kirchgemeinde engagiert und helfe mit bei der Gestaltung der Altersnachmittage. Daneben bin ich in der Ortspartei, im Vorstand der SVP. Vielerorts kann ich meine verschiedensten erworbenen Kompetenzen einbringen. Wichtig ist mir auch das Projekt «Wohnen für Ältere». Dort kann ich auch aufgrund meiner beruflichen Erfahrungen mithelfen.

Barbara Scheffer: Die beruflichen Fähigkeiten kann und will man mit der Pensionierung ja nicht einfach ablegen! Dazu gehören bei mir meine politische und interkulturelle Kompetenz sowie meine Empathie für Menschen. Das Wissen um so viele verschiedene Lebenssituationen hilft mir in vielen Bereichen. Mein Leben lang war ich in der Friedensarbeit, der Entwicklungszusammenarbeit und der feministischen Bewegung tätig. Dieses Engagement setze ich in meinem Bekannten- und Freundeskreis sowie in unterschiedlichen Gruppierungen fort. Eine wichtige Kompetenz, die ich jetzt einbringe, ist meine Fähigkeit, mit dem Tod umzugehen. Ich bin in die Gruppe «Krisenbegleitung in der Nacht» eingebunden, die Sterbende und alte Menschen nach Operationskrisen begleitet. Das ist ein klares ehrenamtliches Engagement, verpflichtend auch, wofür ich zwei Nächte im Monat aufwende. In dieser Gruppe von zwanzig Personen haben wir einmal im Monat Intervision. Da kann ich mich einerseits weiterbilden, aber andererseits auch etwas einbringen.

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