DIE GOLDENE FEDER

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»Naja, das ist nicht so einfach. Die einzelnen Zeichen können mehrere Bedeutungen haben. Es könnte eine Weile dauern, bis ich es entschlüsselt habe.«

»Das ist in Ordnung. Du wirst es schon schaffen.« Ayls Stimmlage steigert sich mit jedem Wort und sie konnte kaum stillstehen.

Ich zeigte auf ein Symbol aus drei nach oben gerichteten lang gezogenen Dreiecken. »Dieses Zeichen heißt eindeutig Feuer. Es hat sich im Laufe der Geschichte kaum geändert und war weit verbreitet. Der Schriftzug davor könnte sowohl Himmel als auch Zimmerdecke bedeuten.«

Ich zupfte an meinem Ohrläppchen. In Gedanken ging ich jedes Symbol durch und verglich die einzelnen Bedeutungen im Kontext. Völlig vertieft merkte ich kaum, wie meine Schultern zu schmerzen anfingen, aber das stetige Fahren mit den Fingern über die Linien half meiner Konzentration.

»Ich glaub, ich habe es.« Grinsend drehte ich mich um.

Ayla und Sahida saßen am Boden und betrachteten etwas, das Ayla mit einem Dolch in den Sand gezeichnet hatte. Kamil kniete daneben, unterhielt sich aber mit Mahir.

Alle sahen gleichzeitig auf. Flink kam Ayla auf die Füße.

Nacheinander deutete ich auf die Zeichen. »Hier steht, wir sollen Feuer an einem bestimmten Punkt an der Decke machen und es werden sich uns wertvolle Schätze offenbaren.«

Ratlos reckten alle die Köpfe nach oben.

»Es sind Linien in die Wände geritzt«, sagte Kamil.

»Sie führen nach unten und dann zu dieser Wand«, ergänzte Sahida.

Ayla nahm ihren Säbel vom Gürtel und kratzte Moos von einer Stelle über uns. »Könnte das gemeint sein?«

Sie hatte einen Kreis freigelegt, in dem das Symbol für Feuer stand. Von Farid ließ sie sich eine Fackel reichen und hielt sie an das Zeichen. Im Bruchteil einer Sekunde nahm der Kreis das Feuer auf und es raste die Linien entlang. Es verbreitete sich in der gesamten Höhle. In Spiralen und Windungen lief es an den Wänden entlang und verschwand hinter einer Felswand.

Erwartungsvoll starrten wir auf die Stelle. Aber nichts geschah.

»Das war’s jetzt?« Sahida klang so enttäuscht, wie ich mich fühlte.

Auf einmal knallte es hinter der Mauer. Ich zuckte zusammen. Unter der Ritze, unter der das Feuer verschwunden war, quoll Staub hervor. Mit einem furchtbaren Grollen sank die Wand vor uns nach unten. Die Händen auf die Ohren gepresst, bestaunte ich den Raum, der sich vor uns auftat.

Die kleine Höhle hatte sich in eine riesige Halle verwandelt, in deren Mitte eine Feuerschale stand, so groß wie die Krone einer Palme. Flackernd erhellte sie die vielen Regale an den Wänden, in denen Hunderte von Schriftrollen steckten.

Tief ein- und ausatmend betrat ich hinter Ayla die Höhle. Es roch staubig und nach abgestandener Luft, aber nicht nach Schimmel. Dies war der ideale Ort, um so alte Dokumente aufzubewahren. Mein Herz wurde ganz weit und in meinen Fingerspitzen breitete sich ein Kribbeln aus. Diese Schriftrollen entpuppten sich wahrlich als Schatz. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Was wohl in diesen Schriftrollen zu entdecken war?

Wie aus weiter Ferne hörte ich Ayla. »Aber das ist doch nicht der magische Schatz. Wie sollten uns diese Texte weiterhelfen?«

Wie im Traum ging ich die Reihen der Regale ab und zog wahllos Schriftstücke aus ihren Fächern. Ich konnte Keilschriften, ägyptische Zeichen und koptische Schriftzüge erkennen. Ein Papyrus mit verblassten Zeichnungen von Pflanzen und Blättern schob ich unter meinen Gürtel.

»Hier muss etwas sein«, redete Sahida beruhigend auf Ayla ein. »Vielleicht steht etwas in diesen Rollen.«

»Aber es sind Hunderte. Wie sollen wir da etwas finden und nur Hannah kann sie lesen.«

Oh ja, und das würde ich. Ich konnte schon vor mir sehen, wie ich die Texte studierte. In meiner Fantasie versunken, stolperte ich über etwas. Es war eine Teekanne. Sie sah aus wie aus Gold, klein und bauchig. Ihr Henkel war verschnörkelt und Blumenranken bedeckten ihren Deckel. Ich wollte mich nach ihr bücken, als goldener Nebel aus der Tülle waberte.

Ich stolperte ein paar Schritte zurück, genau gegen Kamil. Er sah meinen erschrockenen Gesichtsausdruck und dann das Kännchen. Er zog seinen Säbel und schob mich hinter sich. Immer mehr goldener Rauch ergoss sich über den Boden und eine Gestalt schälte sich heraus.

Es handelte sich um einen Mann. Und er war nackt. Und er hatte Hörner.

Ich musste mich an Kamils Arm festhalten, um nicht zu schwanken.

Ein splitternackter Adonis mit langgewellten, blonden Haaren und Widderhörnern stand vor uns. Seine Arme und Beine schienen mit Henna bemalt zu ein und er war über und über mit Goldkettchen behängt. Sie baumelten von seinen Hörnern, umschlangen Arme und Taille sowie seinen Hals.

Von oben herab sah er mich an und verdrehte die Augen.

»Ist das etwa ein Dschinn?«, flüsterte ich Kamil ins Ohr.

»Ich fürchte ja«, raunte er zurück. »Aber man muss sich vor ihnen in Acht nehmen. Sie können tückisch und hinterlistig sein.«

»Glaubt mir, Krieger«, mischte sich der Flaschengeist ein, »ich bin nichts davon. Ich wäre einfach nur dankbar, wenn wir das hier schnell hinter uns bringen, damit ich zurück in meine Flasche kann.«

Schnell hinter uns bringen klang gut, aber was wollte er in der beengten Kanne?

»Ich wünsche mir, dass die Sultanin tot ist«, platzte Sahida neben mir heraus.

Erschrocken starrte ich sie an, aber der Dschinn fing nur an, zu lachen.

»Ich kann niemanden töten und niemanden zum Leben erwecken und ich höre nur auf meinen Meister und das bist nicht du.« Gelangweilt sah er mich an. »Sondern die Wassernymphe da.«

»Na gut. Dann wünsche ich mir, dass die Sultanin in den Kerker kommt und die Wachen ihr nicht mehr dienen.«

Der Dschinn blinzelte und verschwand. Nur einen Augenblick später erschien er wieder.

»Es tut mir leid, Meister. Die Sultanin besitzt ebenfalls einen Flaschengeist. Einer ihrer Wünsche war es, vor Magie jeder Art geschützt zu sein.«

»Nein, das kann nicht sein.« Ayla zeigt mit dem Finger auf ihn. »Was nützt du uns, wenn du nicht mal eine Frau ins Gefängnis zaubern kannst?«

Der Dschinn sah mich beleidigt an. »Ruft mich, wenn ihr wisst, was ihr wollt. Ich verschwinde solange in meiner Flasche.« Er löste sich auf.

»Nein, warte!« Ich griff nach dem Nebel, der eben noch ein Arm gewesen war.

Anstatt den Geist zu fassen zu bekommen, drehte sich alles um mich herum. Ich hatte das Gefühl zu schweben und herumgewirbelt zu werden. Als ich klar sehen konnte, staunte ich nicht schlecht. Ich befand mich nicht mehr in der Höhle, sondern unter freiem Himmel in einer Wüste, in der zwei Sonnen am Himmel standen. Ich riss die Augen auf und konnte mich nicht entscheiden, ob ich die beiden Feuerbälle am Himmel oder den aus Sand erbauten Palast vor mir anstarren sollte.

»Hey, was fällt dir ein?« Der Dschinn stemmte die Hände in die nackten Hüften. »Das hier ist mein Reich und du hast nicht mal angeklopft.«

»Ja … ich … es tut …« Weiter kam ich nicht. Mein Gehirn beschäftigte sich mit dem atemberaubenden Anblick.

Der Dschinn griff nach meiner Hand und einfach so befanden wir uns in einem Zimmer mit bunten Teppichen, Kissen und Fellen. Geschmeidig sank er auf einen Kissenberg und griff nach dem Teller mit Weintrauben, der eben noch nicht dort gestanden hatte.

»Warum bist du hier?«

»Ich habe nach deinem Arm gegriffen …«

»Nein, ich meine, warum bist du hier?«

Verständnislos sah ich ihn an.

»Was willst du hier? Warum willst du helfen?«

Ich setzte mich auf ein Kissen. »Ein Brief von Ayla hat mich hergebracht.«

»Aber jetzt hast du mich. Ich kann dich nach Hause bringen.«

Ich zögerte. An diese Möglichkeit hatte ich gar nicht gedacht. Er könnte mich zurück zaubern. Dann müsste nur einer der anderen an der Kanne reiben, um sich etwas zu wünschen. War meine Aufgabe nicht mit dem Öffnen der Höhle erledigt? Ich würde mein Studium weiter führen und …

Ja, was und? Was sollte ich denn zu Hause? Ich konnte doch diese fantastische Welt nicht einfach vergessen und Ayla im Stich lassen.

»Ich muss Ayla helfen«, sagte ich.

Der Dschinn nickte. »Aber wobei denn?«

»Die Sultanin zu stürzen.«

»Was für ein edles Ziel.«

Ich hatte die Nase voll. »Wenn du etwas weißt, das ich wissen sollte, dann spuck es aus.«

»Ich bin nicht die Armenspeisung.«

Ich schnaubte. »Ich wünsche mir, dass du mir alles erzählst, was ich wissen muss.«

»So sei es.« Er schnippte mit den Fingern und vor mir waberte die Luft wie Wasser.

Ein Bild entstand. Es zeigte eine ältere Frau in einem prächtigen Raum. Sie trug ein grünes Gewand mit goldenen Stickereien. Kein Schleier bedeckte ihr Haar. Man sah, dass es mit weißen Strähnen durchzogen war und sie es streng hoch gebunden hatte. Vor ihr knieten mehrere Männer und redeten auf sie ein. Mit einer Geste brachte sie alle zum Schweigen. Hinter ihr saß auf einem hohen Lehnstuhl ein kleiner Junge von neun oder zehn Jahren und spielte mit seinen Händen.

Ungläubig betrachtete ich ihn. Er hatte Aylas Augen und den gleichen Schwung der Lippen.

Das Bild wechselte. Nun sah ich Ayla, etwas jünger, aber eindeutig sie. Sie lächelte einen jungen Mann an. Seine Kleidung sah pompös aus. Er nahm ihre Hand und küsste sie. Ich konnte erkennen, wie Ayla rot wurde. So sah eindeutig Liebe aus.

Wieder änderte sich das Bild. Diesmal sah ich Ayla mit rundem Bauch. Liebevoll streichelte sie über die Wölbung, während sie durch einen Garten ging. Die Sultanin schlenderte mit mehreren anderen Frauen hinter ihr her und der missgünstige Blick, den sie Ayla zuwarf, ließ mich schaudern.

 

Ein neues Bild erschien. Ayla und ihr Geliebter standen an der Wiege eines Neugeborenen. Sie lächelten. Doch die Stimmung kippte, als der Sultan zu husten begann. Es wurde so schlimm, dass er sich ein Tuch gegen den Mund presste und den Raum verließ.

Das nächste Bild überraschte mich leider nicht. Ayla kniete neben dem Bett ihres Mannes. Sie hielt seine Hand und schluchzte. Bei dem Anblick ihres schmerzverzerrten Gesichts stiegen mir Tränen in die Augen.

Ich war froh, als das Bild verschwand. Auch das nächste heiterte mich keineswegs auf. Ayla kniete auf dem Boden und hielt sich die Wange, auf der man den Abdruck einer Hand erkennen konnte. Vor ihr stand die Sultanin. Sie hielt die Hand eines weinenden Jungen. Ich schätzte ihn auf circa fünf Jahre. Wachen zerrten die schreiende und tobende Ayla weg. Ich konnte noch sehen, wie sie sich losriss und um ihr Leben rannte, dann verschwand das Bild.

Schwer atmend blieb ich zurück und starrte vor mich hin. »Sie hat mir nichts gesagt.«

»Sie hat Angst. Überall lauern die Spione der Sultanin.«

Der Dschinn wechselte von seinen Weintrauben zu Pfirsichen.

Ich konnte sie verstehen. Zwar hatte ich noch keine Kinder, aber der Schmerz in Aylas Gesicht, als sie ihren Sohn zurücklassen musste, sprach für sich. Wenn mein Entschluss bisher nicht festgestanden hatte, so tat er es jetzt.

Ich wünschte mir meinen zweiten Wunsch und schneller, als ich blinzeln konnte, herrschte Dunkelheit um mich herum. Angenehme Kühle umfing mich. Weit weg hörte ich leise Stimmen und Schritte.

Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter. »Was ist hier los?« Ayla flüsterte instinktiv. »Wo sind wir?«

Meine Augen hatten sich an das Zwielicht gewöhnt. Wir hockten in einem langen Flur hinter einer riesigen Vase.

»Wir sind im Palast«, antwortete ich ein wenig kleinlaut.

»Was?« Aylas Stimme hallte zu laut von den Wänden wider. »Du verschwindest einfach für Stunden in dieser verdammten Teekanne und dann zauberst du uns ausgerechnet hierher?«

Vorsichtig spähte Ayla um den Blumenkübel. Es kam niemand. Alles blieb still.

»Eigentlich sollte uns der Dschinn direkt zu deinem Sohn bringen.«

»Bist du verrückt geworden? Woher weißt du überhaupt …« Sie schüttelte den Kopf. »Was hast du dir nur gewünscht?«

»Dass er uns in den Palast zaubert.« Ich hätte wohl etwas präziser sein sollen.

»Dann können wir ja froh sein, nicht direkt vor der Sultanin gelandet zu sein.«

Ayla war zu Recht wütend. Kamil hatte mich ja gewarnt. Aber nun waren wir hier, also konnten wir unsere Chance auch nutzen. Ich kroch hinter der Vase hervor und lief den Gang entlang.

»Hannah. Komm sofort zurück.«

Ich achtete nicht auf sie. Sie würde mir schon folgen.

Lange mussten wir nicht suchen. Nachdem wir ein paar vorbeikommenden Grüppchen ausgewichen waren, fanden wir eine Tür mit zwei Wachposten davor. Keine andere Tür im Palast wurde bewacht. Das musste sie sein.

Schnell zogen wir uns in den Gang zurück, aus dem wir kamen. Was sollten wir jetzt tun, um in das Kinderzimmer zu gelangen?

Ayla kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich glaube ganz fest, dass du nicht ohne Grund hier bist. Deine Aufgabe kann nicht damit beendet sein, dass du die Höhle geöffnet hast.«

Bei diesen Worten sah sie mir fest in die Augen. Dann zog sie das Tuch über meine Haare, nahm meine Hand und führte mich um die Ecke.

Die Wachposten vor der Tür unterhielten sich leise. Erst als wir vor ihnen standen, sahen sie uns prüfend an.

»Was wollt ihr?«

»Die Sultanin schickt uns«, sagte Ayla. »Der Kleine hat Albträume und wir sollen mit ihm reden.«

Ich konnte den Männern ansehen, dass wir sie nicht überzeugten.

»Wenn wir wissen, was ihm fehlt, werden wir ihm einen Trank bereiten.« Die Blicke der Männer zuckten zu mir. Ich zog die Schriftrolle aus meinem Gürtel und hielt die Luft an. Hoffentlich lugte nirgends eine Strähne meines Haares unter dem Tuch hervor. Dann zuckte der eine mit den Schultern und trat zur Seite. Wir gingen hinein und die Tür schloss sich.

Zwei Gesichter wandten sich uns zu. Die des Jungen und einer älteren Frau. Die beiden saßen auf dem Boden und spielten mit Holztieren. Ich konnte hören, wie Ayla zitternd einatmete. Sie ließ sich zu dem Jungen auf den Boden sinken, streckte ihre Hand aus und streichelte ihm über die Wange. Tränen liefen ihr Gesicht hinunter.

»Mama?«

Ayla riss die Augen auf und schluchzte laut. Ich musste schlucken und auch die andere Frau brauchte einen Augenblick, um ihre Sprache wiederzufinden.

»Bist du es wirklich, Ayla?«

»Ja, Nabila. Wie kann es sein, dass Racheed sich an mich erinnert?«

»Nabila hat jeden Abend von dir erzählt«, sagte der Junge.

»Ich habe seine Erinnerung wachgehalten« bestätigte die Ältere. »Wie seid ihr bloß hier hereingekommen?«

Ayla sah mich an. »Warum sind wir hier, Hannah?«

»Die Sultanin hat ein großes Fest geplant. Alle Kalifen und Adlige dieses und der Nachbarländer sind im Palast. Ihr müsst diesen Männern und Frauen die Wahrheit sagen. Jeder wird sehen, dass du nicht lügst. Der Junge ist dein Ebenbild.«

Entgeistert sah Ayla mich an. »Das ist verrückt und viel zu gefährlich für Racheed.«

»Das ist die einzige Chance, die wir haben.«

»Ich sag Nein.« Aylas Stimme war hart wie Stein. »Wir müssen jetzt gehen«, wandte sie sich an ihren Sohn. »Aber ich verspreche dir, dass ich wiederkomme.«

Beide weinten, aber Ayla riss sich los und zerrte mich zur Tür.

Weit kamen wir nicht. Wir hatten die Wachen vor dem Kinderzimmer kaum hinter uns gelassen, da versperrten uns andere den Weg. Sie sprachen kein Wort, packten uns und stießen uns vorwärts.

»Es tut mir wirklich leid, Ayla.« Ich entschuldigte mich seit Stunden, aber sie schwieg.

Ayla hatte die Knie an die Brust gezogen und starrte zu dem vergitterten Fenster in drei Meter Höhe. Das Loch vermochte es kaum, das Licht des neuen Tages in unsere Zelle zu bringen. Wenigstens herrschte so eine angenehme Kühle in unserem Gefängnis.

Ich tigerte von einer Seite zur nächsten und überlegte, ob ich den Dschinn rufen und ihm meinen Wunsch sagen sollte. Aber was hatte ich schon für eine Wahl. Ich musste Ayla und dem kleinen Racheed helfen.

»Dschinni!«

Ayla zuckte zusammen.

»Dschinni, ich brauche deine Hilfe!«

»Deshalb musst du nicht so brüllen.«

Ich wirbelte herum. Der Flaschengeist trat aus dem Schatten der Mauer.

»Weißt du eigentlich, dass ich einen Namen habe?«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Das habe ich mir gedacht. Du hast ja auch nie danach gefragt. Warum auch? Es ist ja nicht wichtig.«

Ich hob die Hand. »Ist ja schon gut. Du kannst mir deine gesamte Lebensgeschichte erzählen, aber erst einmal musst du uns auf das Fest der Sultanin zaubern.«

»Was?« Ayla sprang auf.

»Es geht nicht anders. Du und Racheed habt nicht länger Zeit, aufeinander zu warten. Er braucht seine Mutter.«

»Von mir aus«, mischte sich der Dschinn ein. »Aber dieser Wunsch ist wirklich verschwendet.«

»Wieso das?«

»Ihr werdet auch so auf das Fest gebracht.«

Fragend und leicht genervt sah ich ihn an.

»Ihr seid die Hauptattraktion. Also besser gesagt: Eure Hinrichtung wird es sein.«

»Was?« Diesmal waren Ayla und ich uns einig.

»Du musst uns hier weg wünschen, Hannah.«

Schwere Stiefelschritte erklangen auf dem Flur. Mein Blick schweifte zwischen der panischen Ayla und dem gelangweilten Dschinn hin und her.

»Bitte.«

»Noch nicht.«

Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und der Dschinn verschwand. Wachen brachten uns zum großen Fest.

Der riesige Saal erstrahlte durch Hunderte Kerzen, einem Meer aus Blumen und der prächtigen Kleidung der Anwesenden. Alle, die unser Kommen bemerkten, starrten uns an. Frauen zeigten mit dem Finger auf mich und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir eine andere Haarfarbe. Gespräche erstarben und die Musik setzte aus. Eine Frau trat aus der Masse hervor und stellte sich neben den Stuhl des jungen Sultans. Die falsche Mutter hob die Hand und das Getuschel hörte auf.

»Diese beiden Frauen«, ihre Stimme trug durch den ganzen Raum, »haben versucht, meinen letzten verbliebenden Sohn zu ermorden. Sie schlichen sich heute, geschützt durch einen Zauber, in den Palast. Meine Wachen konnten Schlimmeres gerade noch verhindern.«

Das Geflüster setzte wieder ein.

»Um aller Welt zu zeigen, wie ich mit solch abscheulichen Attentätern verfahre, wird es hier und jetzt eine öffentliche Hinrichtung geben.«

Ein Mann mit Armen, so stark wie Baumstämme, trat zu uns. Er wollte nach meinem Handgelenk greifen, aber ich wich ihm aus.

»Nehmt zuerst sie.« Ich zeigte auf Ayla.

Sie funkelte mich an, trat aber mit hoch erhobenem Kopf vor.

Mein Herz legte einen Sprint hin, als ich zusah, wie er sie zum Schafott führte.

»Kann er sie gut sehen?«, flüsterte ich.

»Ja, das er kann er.« Der Minidschinni auf meiner Schulter wisperte direkt in mein Ohr. »Wenn das mal gut geht.«

Der Henker zwang Ayla auf die Knie. Sie musste ihren Kopf auf den Stein vor ihr legen. Ich steckte mir die Knöchel meiner Finger in den Mund, um nicht »Stopp!« zu schreien. Warum tat er denn nichts? Der Scharfrichter hob das Beil. Mein Herz stockte. Ich atmete ein, um doch noch zu rufen.

»Halt!« Der junge Sultan sprang von seinem Thron.

Der Henker ließ das Beil sinken. Die Sultanin wollte ihn packen und ihm den Mund zuhalten, aber er hüpfte zur Seite.

»Ich wünsche, dass ihn alle hören und die Wahrheit hinter seinen Worten erkennen.«

Der winzige Dschinn nickte.

»Ihr dürft sie nicht hinrichten. Sie ist meine Mutter.«

Der Saal hielt den Atem an.

»Die Sultanin lügt, wenn sie behauptet, ich sei ihr Sohn. Sie ist nicht meine Mutter, sondern meine Großmutter. Der letzte Sultan war mein Vater.«

Stimmen im Saal wurden laut. Die Kalifen glaubten ihm dank des Zaubers. Sie erkannten die Ähnlichkeit und wussten, dass sie jahrelang getäuscht worden waren.

»Sie ist eine Hexe!«

Die Stimmung im Raum kippte. Die Menschen zeigten auf die alte Sultanin.

»Sie sollte man köpfen. Sie hat uns betrogen.«

Die Alte wich zurück. Ihr Lippen formten Worte, die ich nicht verstand. Eine graue Rauchwolke erschien und aus ihr schälte sich ein Stiermann. Mit Hörnern, Hufen, einem Schwanz und menschlichem Oberkörper. Er trug nur einen Lendenschurz und ebensolche Kettchen wie mein Dschinn. Dann klatschte der Flaschengeist in die Hände und er und die Sultanin verschwanden.

»Sie hatte noch einen Wunsch frei?«, krächzte ich. Mir wurde heiß und kalt. »Warum hat sie nicht alles rückgängig gemacht?«

»Du hast dir gewünscht, dass alle die Wahrheit erkennen. Ein Dschinn kann den Wunsch eines anderen nicht so einfach aufheben.«

Ich sah mit einem Lächeln dabei zu, wie sich Ayla und Racheed in den Armen lagen. Zögerlich traten die Kalifen und Adligen auf sie zu. Ayla sprach mit ihnen. Nickte und schüttelte den Kopf.

Neben mir hatte der Dschinn sich wieder in Menschengröße gezaubert.

Mit schief gelegtem Kopf sah ich ihn an. »Die Sachen stehen dir gut.«

Er trug einen goldenen Kaftan und seine Hörner waren verschwunden. Er sah wie einer der Gäste aus.

»Es tut mir leid, dass ich keinen Wunsch mehr übrig habe, um dich frei zu wünschen, Haffidh Tamim.«

»Bist du verrückt geworden? Was soll ich denn mit Freiheit? Ich bin unsterblich. Was sollte ich denn als Mensch tun? Mir eine Anstellung suchen?« Er schnaubte. »Und woher kennst du meinen Namen?«

»Er steht auf deiner Kanne.« Ich grinste.

»Dass du keinen Wunsch mehr frei hast, bedeutet auch, dass ich dich nicht zurück nach Hause schicken kann.«

»Ja, ich weiß.« Ich verbot mir, an meine Eltern zu denken. Ich würde schon einen Weg finden, ihnen zu sagen, dass es mir gut ging.

»Ich hoffe nur, dass meine Nachbarin meinen Kater füttert.«

»Meinst du diesen hier?« Er hielt ein schnurrendes braunes Bündel auf dem Arm und reichte mir meinen Charlie. »Das ist ein kleines Geschenk von mir.«

Mit einem »Wir sehen uns wieder« verschwand er.