DIAGNOSE F

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Natürlich kannten Neurologen nicht nur Forschungsdaten, sondern auch die Bilder menschlicher Patienten in alten Kinofilmen, wie sie sich unter den Stromstößen der Elektrokrampftherapie aufbäumten und der Menschheit den Eindruck vermittelten, dass in psychiatrischen Kliniken gefoltert wurde.

Völliger Unsinn, das alles. Als ob Muskelrelaxanzien und Vollnarkose nicht längst für einen reibungslosen Ablauf sorgten. Er kannte aus seiner Assistenzzeit selbst noch die Dankesschreiben von Menschen, die nach Jahren schwerster Depression plötzlich aus dem Sumpf ihrer schwarzen Stimmung auftauchten und ihr Leben wieder aufnahmen.

Die Meftaler schien das zumindest für Androiden anders zu sehen. »Einen Moment, bitte. Planen Sie etwa einen unangemeldeten Versuch?«

Mauz lächelte dünn. »Was glauben Sie denn, woher die Daten stammen, auf die Sie sich in Ihren Aufsätzen immer so gern beziehen? Aus experimenteller Forschung, genau. Von Menschen wie mir, die es wagen, zum Wohl der Menschheit auch mal ein paar Risiken einzugehen. Das, meine Liebe, braucht es, um es in der Forschung zu etwas zu bringen.« Und etwas leiser: »Ich bin kein Anfänger. Oder glauben Sie etwa, ich tue das zum ersten Mal?«

»Es tut mir leid, Herr Professor, aber ich weigere mich, bei so etwas mitzumachen.«

Mauz unterdrückte seine aufkommende Wut und begnügte sich mit einem kalten Blick, den sie erwiderte, ohne zurückzuzucken.

Aha! Noch nicht einmal fertig habilitiert, und schon wurde sie frech. Diese Meftaler glaubte wohl, nach eigenem Gutdünken verfahren zu können – auf seiner Station! Das würde Folgen haben. Er kannte genügend Wege, um ihre Reputation zu untergraben, bis sie als gealterte Oberärztin in irgendeiner gottverlassenen Psychiatrie dort draußen ihr Leben fristete. Sollte sie doch irgendwelche verdammten Küchenmaschinen therapieren! Er würde schon einen anderen dienstbaren Geist finden, der für ihn die Fachmagazine mit Erfolgsgeschichten spickte.

»Ich werde die Therapie ohne Sie durchführen«, erklärte er und versuchte noch einmal, sie niederzustarren. »Ihr kläglicher Versuch, sich hinter Paragrafen zu verschanzen, wird mich Ihre Habilitationsschrift noch einmal in neuem Licht betrachten lassen. In einem äußerst kritischen.«

Das schlug ein. Die Meftaler zuckte zusammen und blieb stumm.

Mauz wandte sich dem Androiden zu. »Kyb Tony, folge mir. Und Sie, Meftaler, rufen Krusbaum oder einen anderen Techniker.«

»Herr Professor, ich werde mich nicht zum Mittäter an dieser …«, fing sie schon wieder an.

»Schon gut, Meftaler, ich habe verstanden. Sie sind draußen. Und wissen Sie was? Kommen Sie einfach morgen um neun in mein Büro und holen Ihre Papiere ab.«

Jetzt stand ihr der Mund offen. »Das können Sie nicht machen!«

»Sie werden sich wundern, was ich alles machen kann«, versetzte er gut gelaunt und schritt, gefolgt von der Kyb-Einheit, zum OP.

Eine gute halbe Stunde später war alles bereit. Tom Krusbaum, kybernetisch-technischer Assistent der Abteilung, hatte die notwendigen Gerätschaften um den OP-Tisch versammelt, auf dem Kyb Tony mit Eisenklammern gesichert war, und entfernte mit einem Spezialschraubenzieher die Abdeckplatte zur Masterschnittstelle.

Dann verband er den Androiden mit dem OP-Rechner und lud die üblichen Datensequenzen herunter: Schnittstellenparameter, Erdungspunkte und den ganzen Rest, der Mauz noch nie interessiert hatte.

Krusbaum blickte auf. »Professor? Da fehlt etwas.«

»So? Was denn?«

Inzwischen hatte Mauz Schwierigkeiten, seine zunehmende Ungeduld im Zaum zu halten. Hier ging es nicht mehr um Daten und Behandlungserfolge, sondern um seinen Status als Lehrstuhlinhaber. Die Meftaler, die draußen im Vorraum lauerte, wartete doch nur auf ihre Chance, ihn zu verdrängen! Er konnte ihren Schatten im Türspalt sehen. Hier und heute würde er sie in ihre Grenzen verweisen, sobald das Androidenhirn wieder im Gleichtakt lief.

Der Techniker verzog das Gesicht zu einer Maske der Ratlosigkeit. »Ein paar Datenbanken sind beschädigt, und Backups hat der Besitzer nicht hinterlegt. Wir wissen zum Beispiel nicht, welche Basisspannung an den dezentralen Prozessoren anliegt. Das kann übel ins Auge gehen.«

»Und woher bekommen wir die verdammten Backups?« Mauz schob die Hände in die Taschen seines staubarmen Dienstkittels, um seine Unruhe zu verbergen, doch er hörte selbst, wie ungeduldig sein Tonfall klang.

»Vom Besitzer, Herr Professor. Das wird nur ein paar Tage dauern, wenn er nicht gerade im Urlaub ist.«

Mauz zögerte, doch Meftalers Schatten in der Tür duldete keinen Aufschub. »Fahren Sie fort«, befahl er.

»Ich habe keine …«

»Nehmen Sie einfach die Durchschnittswerte ähnlicher Baureihen und ziehen Sie zehn Prozent ab.«

»Aber das ist …«

»Tun sie es! Ich übernehme die Verantwortung.«

Die Schiebetür zum OP rollte auf und die Meftaler erschien im Durchgang. »Das ist ein klarer Bruch sämtlicher Behandlungsregeln, Herr Professor. Ich verbiete Ihnen, so vorzugehen!«

»Sie haben mir gar nichts zu verbieten!«, blaffte er zurück, und die Welle der Wut, die er mühsam zurückgehalten hatte, schwappte über ihn hinweg. »Feiglinge und Korinthenkacker haben hier nichts zu suchen. Gehen Sie doch Jura studieren, wenn Sie es so mit Paragrafen haben!«

»Ich …«

»Gehen Sie endlich! Oder halten Sie den Mund.« Mit einer zackigen Handbewegung befahl er dem Techniker, die Prozedur zu starten.

Die schweigende Meftaler im Rücken, beobachtete er, wie Krusbaum am Monitor Spannungsparameter einstellte und die Kabel am Kopf des Androiden befestigte. Anders als bei den Menschen ließen sich die Elektroden für die Überspannung direkt anschließen. Der gute alte Klinkenstecker! Auch Menschen sollten einen haben, dachte Mauz.

Krusbaum, die Hand auf der Tastatur, zögerte und blickte zu Mauz. Der nickte, und Krusbaum drückte auf Enter.

Drei Sekunden geschah nichts. Dann stieg ein dünner Rauchfaden aus dem Kopf des Androiden auf, und es stank nach verbranntem Gummi und heißem Metall.

»Was ist …? Drücken Sie den Hauptschalter, verdammt!« Mauz stürzte auf den OP-Tisch zu, doch der Techniker zog bereits die Elektroden des Krampfgerätes ab und betätigte den Not-Aus-Taster der Masterschnittstelle. Vergeblich. Der Rauchfaden wurde kräftiger, und es knisterte im Inneren des Androiden, der Wärme abzustrahlen begann. Wenn der Brand die Akkus erreichte, würde ihnen der ganze OP um die Ohren fliegen.

»Löschen Sie ihn!«

Krusbaum blickte auf. »Dann ist er ganz hin.«

»Egal! Löschen Sie endlich, verdammte Hacke!«

Schulterzuckend griff Krusbaum nach dem CO2-Löscher. Mit ohrenbetäubendem Röhren blies der Löscher eine Wolke unterkühlten Kohlendioxids auf den Kopf des Androiden, der augenblicklich von einer Reifschicht bedeckt wurde. Noch zwei Gasstöße, dann waren Knistern und Rauchfaden verschwunden. Krusbaum gelang es, den Abzug einzuschalten, bevor die Brandmeldeanlage des OPs ansprang. Lärmend verschwanden die Rauchgase nach draußen.

Mauz atmete auf, doch dann fiel sein Blick auf den Androiden, und seine Anspannung kehrte schlagartig zurück. Der Kunststoff des OP-Tischs hatte Blasen geschlagen und war mit dem Kopf von Kyb Tony verwachsen.

Erst als ein Räuspern hinter ihm erklang, fiel ihm die Meftaler wieder ein. Der Schreck, der ihm durch den Körper fuhr, fühlte sich an, als hätte man ihn selbst an das Elektrokrampfgerät angeschlossen.

»Verdammt noch mal, was wollen Sie noch hier?«

»Das wird Folgen haben, Herr Professor.« Ihre Stimme klang wie das zufriedene Schnurren einer Katze. »Der Dekan wird eine Untersuchungskommission einberufen. Der Besitzer verlangt sicher Schadenersatz. Und die E-Blätter werden einmal mehr die Story von der Folterpsychiatrie aufwärmen.

Alles für Ihr übersteigertes Geltungsbedürfnis. Dafür kann man schon mal eine komplette Kyb-Einheit über den Jordan gehen lassen, nicht wahr?« Ihr Ton wurde beißend. »Sagen Sie mir, Professor, war es das wert?«

»Krusbaum, schalten Sie das Ding wieder ein«, krächzte Mauz und deutete fahrig auf den zerstörten Androiden.

Der Techniker kam seinem Befehl nach, aber augenblicklich begann es wieder zu knistern, und er musste erneut den CO2-Löscher aktivieren.

»Ich glaube, der ist endgültig hin, Professor.«

Mauz’ Blick irrte durch den OP. Das Rauschen des Abzugs schien seine Gedanken zu vernebeln, oder hatte er etwas von den Rauchgasen eingeatmet?

Die Meftaler stand noch immer mit verschränkten Armen hinter ihm. In ihrem Mundwinkel zuckte es, und sie schien das Kinn auf einmal höher zu tragen.

»Wie gut, dass ich wie vorgeschrieben das OP-Protokoll aktiviert habe. Damit dürfte klar dokumentiert sein, dass es sich nicht um ein Versagen der Kyb-Psychiatrie handelt, sondern um die eklatante Missachtung zentraler Sicherheitsvorschriften durch eine einzige Person: durch Sie, Herr Professor. Das da ist allein Ihr Werk.«

In diesem Moment fügten sich die Bruchstücke zusammen. Der fehlerlose Bericht seiner Mitarbeiterin, an dem nichts fehlte – außer der fachlichen Diskussion über Elektrokrampftherapie. Ihr gespielter Zusammenbruch, ihre Ratlosigkeit und später der Widerspruch, mit denen sie seinen Narzissmus gekitzelt hatte.

Meisterhaft hatte sie ihn in diese Katastrophe gelotst, als ob er selbst ein Androide wäre. Nicht er, die Meftaler hatte soeben eine Kyb-Einheit über die Klinge springen lassen.

»Sie … Sie …«

Doktor Meftaler verzog verächtlich den Mund und wandte sich zum Gehen. Im Abwenden fügte sie noch hinzu: »Vermutlich wird demnächst eine Professur an der Charité frei. Ich freue mich schon darauf, mich auf Ihre Stelle zu bewerben.«

 

Diagnostischer Kommentar

Die Story ist aus der Perspektive des Professors Doktor Sigmund Mauz geschrieben, der seine emporstrebende Assistentin, die Meftaler, in die Schranken weisen will. Mauz zeigt in seinem Verhalten, Denken und Erleben deutliche narzisstische Züge. Bei sehr starker Ausprägung werden diese als narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.8) diagnostiziert (vgl. hierzu den diagnostischen Kommentar zur Story »Narzissten-Selektion« von Michael Tinnefeld).

Diese Persönlichkeitsstörung dürfte in der Allgemeinbevölkerung die bekannteste sein.

Personen mit dem Vollbild der Störung wirken oft arrogant und anmaßend. Narzissten benötigen permanent Anerkennung, um ihr schwankendes Selbstbild stabilisieren zu können. Wie ein pulsationsveränderlicher Stern kippen sie von absurdem Selbstbewusstsein in massive Selbstzweifel und wieder zurück. Ihr großspuriges und manipulatives Verhalten nutzen sie dazu, ihre Ziele durchzusetzen. Daraus ziehen sie Anerkennung, die sie wiederum benötigen, um besagtes Kippen des Selbstbildes zu vermeiden.

Sie bestimmen gern, was andere zu tun oder zu lassen haben, was als narzisstisches Regelsetzen bezeichnet wird (Rainer Sachse: »Persönlichkeitsstörungen: Leitfaden für die Psychologische Psychotherapie«, Hogrefe, 2018). Selbst sehen sie sich nicht an derartige Regeln gebunden.

Die Eigenarten, die Zusammenleben und Kontakt mit diesen Personen sehr schwer machen, sind gleichzeitig aber wichtige Ressourcen und für viele Berufe notwendige Voraussetzungen zur Erfüllung der Anforderungen. In Chefetagen, wo Entscheidungen mit oft weitreichender sozialer Tragweite getroffen werden müssen, darf man – um im narzisstischen Jargon zu sprechen – nicht allzu zimperlich und empathisch sein.

Entsprechend findet man Personen dieses Menschenschlags unter Managern in Führungsetagen ebenso wie unter Chefärzten – wie es in der Story aufgegriffen wird. Und natürlich in der Politik, wobei wir hier natürlich auch Personen mit anderen Persönlichkeitsakzentuierungen finden.

Neben erfolgreichen Narzissten gibt es noch die Gruppe der gescheiterten und der erfolglosen (R. Sachse: ebd.). Diese träumen lediglich von Ruhm, Einfluss und Macht, scheitern aber immer wieder in und an der Realität. Professor Mauz gehörte bis zu den Geschehnissen in der Story sicherlich zu der erfolgreichen Subgruppe. Möglich, dass sich der Narzissmus der Meftaler gerade als der erfolgreichere herausstellt und der Professor in die Gruppe der Gescheiterten wechselt …

Beiden Gruppen gemeinsam ist die Fokussierung auf eigene Belange und ein verringertes Einfühlungsvermögen.

Überträgt man die Verhaltensauffälligkeiten des Androiden auf einen Menschen, kann eine Zwangsstörung (F42) diagnostiziert werden. Zeigt sich der Zwang überwiegend in Handlungen, wird die F42.1 codiert. Treten die Zwänge auf gedanklicher Ebene auf, ist es die F42.0. Sind Zwänge auf beiden Ebenen relevant, wird die F42.2 vergeben. Erwähnt werden in der Geschichte vor allem wiederkehrenden Zwangshandlungen (z. B. Toilettenspülung betätigen), aber auch die Angst vor bzw. die exzessive gedankliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, sich mit Keimen zu infizieren, was also für die F42.2 spricht.

Die im Titel der Story erwähnte Elektrokrampftherapie stellt oft die letzte Interventionsmöglichkeit bei schweren Depressionen dar, bei denen alle anderen Therapiemethoden nicht gegriffen haben. Dabei zeigt sie sich in vielen Fällen als ausgesprochen hilfreich bei der Symptomlinderung.

Warum sollte diese in Zukunft nicht auch bei Androiden (und anderen Störungen, wie hier der Zwangsstörung) Verwendung finden? Nun ja, darauf gibt die Story eine Antwort: vielleicht bei Androiden besser nicht.


Markus Regler: Ausgefallen

Francesca umklammerte die Tasse und bemühte sich, den Kaffee nicht über dem kleinen Tisch in ihrem Wohnzimmer zu verschütten. Es gelang nicht ganz. Ihre Hände zitterten zu stark.

Ein transparentes, hellblaues Rechteck, in dem Textzeilen von unten nach oben flogen, schwebte plötzlich über der Tischplatte. Die einzelnen Buchstaben wirkten verschwommen und waren kaum zu entziffern. Das Rechteck zerstob in eine Wolke kleiner Lichtpunkte, die sich zu einer neuen Form zusammensetzten.

Nun lief eine Maus aus einem alten Zeichentrickfilm über den Wohnzimmerteppich und brabbelte unverständliche Worte. Francesca lehnte sich stöhnend auf ihrem Sofa zurück und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie sah die Maus weiterhin, bis auch diese sich auflöste und erneut Textblöcke erschienen.

Das ist nicht real!

Die junge Frau atmete tief ein und aus, doch die einstudierten Entspannungsübungen reichten heute nicht aus, um die falschen Sinneseindrücke zu beenden. Sie griff nach einer Dose auf dem Tisch und fischte eine Tablette heraus. Es dauerte ein paar Minuten, bis das Medikament wirkte. Schwer atmend streckte sich Francesca auf dem Sofa aus. Langsam ließ auch der Tremor nach. Ihr Hemd war durchgeschwitzt.

Die Gedächtnislücken und Halluzinationen waren nach dem Ausfall des in ihren Kopf implantierten Chips aufgetreten. Weil ihre Medikation mittlerweile anschlug, wurden sie weniger. Täglich warf sie sich einen bunten Mix aus Pillen ein – Benzodiazepine, Neuroleptika, Antidepressiva, Mittel gegen Kopfschmerzen. Doch noch war die Gehirnstruktur beschädigt und ihre geistige Gesundheit beeinträchtigt. Sie hatte diese Probleme satt.

Der Gedanke an ihren später bevorstehenden Arzttermin rief eine Mischung aus Erleichterung und Nervosität hervor. Mithilfe einer Nanoagenten-Infusion sollte der Chip entfernt werden. Aus Gewohnheit – und um sich zu beruhigen – wollte sie Informationen über die Infusion aus dem Netz abrufen. Doch es fühlte sich an, als ob ihre Gedanken ins Leere griffen. Mit dem defekten Chip konnte sie keine Verbindung mehr herstellen. Kein Reiten auf der Welle mehr. Francesca seufzte.

Sie zog das Smartdevice aus der Tasche und tippte Suchwörter ein. Ihre Finger kamen ihr dabei klobig vor. Ungelenk. Unelegant. Nicht tänzerisch wie das frühere Ballett der Gedanken im Netz. Mühsam entzifferte sie die Texte auf dem Display. Das Lesen war langwierig. Viel umständlicher als das unmittelbare Begreifen, wenn sie die immer und überall zur Verfügung stehenden Informationen als virtuellen Sichteindruck direkt im Sehzentrum ihres Gehirns empfangen hatte.

Die Nanoagenten kappen die Verbindungen des Chips mit den Hirnstrukturen und zersetzen ihn, las sie. Nachfolgend werden die beschädigten Hirnareale regeneriert.

Die junge Frau glaubte, ein Kribbeln an der Stelle ihres Schädels zu spüren, an der der Multilink-Chip unterhalb des Knochens saß. Sie fuhr sich durch die glatten, kinnlangen Haare und tastete über die Operationsnarbe.

Kaum volljährig geworden, hatte sie sich das Implantat besorgt. Sie hatte sich mit Wonne in diese Erfahrung geworfen. Die Erlebnisse übertrafen die Vorhersagen der Hersteller bei Weitem. Es war großartig! Sie und ihre neuen Freunde hatten sich als Pioniere einer epochalen neuartigen Technologie begriffen. Gänger des Netzes hatten sie sich genannt. Doch nun, drei Jahre später, fühlte sich Francesca wie aus einem warmen Nest gefallen und in die kalte Wirklichkeit katapultiert.

Ein kleiner Briefumschlag blinkte auf dem Display des Smartdevices. Francesca tippte darauf. Ein elektronischer Brief von DeepFlow lag vor. Der Hersteller ihres Multilinkchips unterbreitete die Möglichkeit, den Chip auf Kosten der Firma entfernen zu lassen. Dabei handelte es sich um ein zeitlich begrenztes Angebot. Allerdings wollte man das unzureichende Produkt zum Zwecke der Qualitätskontrolle einbehalten.

»Arschlöcher!« Francescas Stimme hallte durch das spartanisch eingerichtete Zimmer.

DeepFlow hatte mit Sicherheit einen fehlerhaften Chip eingepflanzt, aber laut Kaufvertrag bestanden gegenüber der Firma keine Ansprüche. Und nun wollten sie das Ding zurück und es verschwinden lassen!

Ein solcher Eingriff kam für sie nicht infrage. Ihr Hirn war schon lädiert genug. Ihr Arzt hatte erklärt, dass eine operative Entfernung des Chips weitere Schäden nach sich ziehen konnte, und hatte deshalb zum Einsatz der Nanoagenten geraten. Und dieser Scheißladen kam mit einem dermaßen billigen und durchschaubaren Angebot um die Ecke. So ein scheinheiliger Mist! Mit Zornesfalten auf der Stirn löschte sie die Nachricht.

Sie sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihren Arzttermin.

Als sie auf die Straße trat, verrauchte ihre Wut langsam.

Dass die Gestalt sie an jemanden erinnerte, bemerkte sie erst, als der Mann fast an ihr vorbei war. »Masquerade? Bist du das?«

Der Nickname war passend gewählt. Die Hautverfärbung rings um seine Augen war unverkennbar, obwohl der Avatar des Mannes schlanker, kräftiger und mindestens zehn Jahre jünger war als sein Alter Ego im echten Leben.

Der Mann musterte sie. Dabei legte er den Kopf leicht schief. Eine Geste, die man bei Multilinkusern häufig beobachten konnte.

Er ruft ab, dachte Francesca und spürte einen Stich im Bauch. Er sucht im Netz nach mir.

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Onrovi. Wir haben uns länger nicht mehr getroffen, oder? Wo bist du denn gerade?«

Na, hier vor dir, wollte Francesca antworten, als ihr klar wurde, dass Masquerade gar nicht ihren physischen Aufenthaltsort meinte. Sie war für ihn nicht online gelistet. »Ich bin nicht im Netz. Ich hatte Probleme mit dem Chip. Er hat sich selbst abgeschaltet. Aber sicher kann ich bald wieder …«

»Ich habe im Moment keine Zeit. Muss weiter und noch ein wenig arbeiten.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung über dem Kopf, die wohl andeuten sollte, dass seine Arbeit virtueller Natur war. Ohne Gruß ließ er Francesca stehen.

Konsterniert sah sie ihm nach. Mit Masquerade hatte sie einen ihrer höchsten Freundschafts-Scores gehalten. Doch sie war raus. Raus aus dem Netz. Durch die Maschen gefallen.

Francesca ging weiter und dachte über die psychischen Beeinträchtigungen nach, die ihr der Arzt attestiert hatte. Wir haben noch zu wenig Informationen zu Ihrer Art von Beschwerden, Frau Ivorno. Durch das Versagen von Multilinkeinrichtungen verursachte psychische Störungen sind bislang kaum untersucht. Die Einflüsse sind vielfältig. Es können organische Schäden zugrunde liegen, der Verlust des Chips selbst kann traumatisieren, der Wegfall des gewohnten Umfelds ruft Stress hervor.

Natürlich hatte sie sich elend gefühlt. Sie hatte mit dem Ausfall auf einen Schlag ihr gesamtes soziales Umfeld verloren. Die Verbindung zum Netz hatte plötzlich gefehlt. Den ständigen Zugriff auf Information und Zerstreuung gab es nicht mehr. Sie hatte nichts mit sich anzufangen gewusst. Massive Entzugserscheinungen quälten sie.

Die ärztliche Analyse ergab, dass sich der Multilinkchip wegen einer Fehlfunktion selbst abgeschaltet hatte. Minimale Verletzungen der Hirnmasse in seiner Umgebung deuteten darauf hin, dass es zu einer erhöhten Wärmeabgabe gekommen war.

Eine Ursache hatte der Arzt nicht nennen können. »Möglicherweise hat Ihr Körper eine Abstoßungsreaktion gezeigt, die den Chip in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Blutwerte stützen diese These. Allenfalls eine Untersuchung des Implantats selbst könnte die Frage endgültig beantworten. Davon möchte ich aber abraten. Die Gefahr weiterer Verletzungen durch eine Inbetriebnahme oder Extraktion des Chips ist viel zu hoch.«

Die Lösung war die Infusion von Nanoagenten, und heute war es endlich soweit. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Eine halbkugelförmige Haube hing an einem Dutzend Kabeln über Francescas Kopf. Das Behandlungszimmer war blütenweiß eingerichtet, und die blankgeputzten, weiß lackierten Gerätschaften glänzten steril im Licht der Behandlungslampe. Ein leises Brummen ging von der Haube aus.

Doktor Marcin Malecha betrat das Zimmer und griff nach dem Tablet, auf dem ihre Krankenakte geöffnet war. Er blätterte in der Akte, indem er über das Display wischte. Dabei hinterließ er feuchte Schlieren. »Ich möchte mir heute noch einmal Ihre Gehirnstruktur in der näheren Umgebung des Chips ansehen, zur abschließenden Vorbereitung des Eingriffs«, sagte er schließlich, leckte sich die Lippen und zog das Bedienfeld der Haube zu sich heran.

 

»Aber das haben wir doch schon in den letzten beiden Sitzungen gemacht.«

Ihr Arzt tippte konfus auf das Bedienfeld. Er schien immer wieder Auswahlschritte rückgängig machen zu müssen. »Ich möchte gerne detailliertere Aufnahmen erstellen. Je mehr wir über Ihren Fall in Erfahrung bringen, desto besser können wir Erkrankten in Zukunft helfen.«

Francesca sah ihn irritiert an. Waren das Schweißperlen auf seiner Stirn? »Das haben Sie mir schon erklärt. Wieso wiederholen wir die Untersuchung nochmals? Ich dachte, wir führen heute die Nanoagenten-Infusion durch?«

Er starrte sie schweigend an. Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Nun … ja, das machen wir auch noch. Jedenfalls brauche ich ein paar ergänzende Werte.« Er konzentrierte sich wieder auf das Bedienfeld. Die Haube senkte sich ab, bis sie knapp über Francescas Schädel zum Stillstand kam.

Wieso wirkte er so nervös? Sie hatte ihn stets entspannt und freundlich kennengelernt. Selbst wenn sie herumzickte, war er immer ruhig geblieben. Was für Messungen mochten das sein, die er in den letzten Sitzungen noch nicht durchgeführt hatte?

»Ich verstehe, dass Sie Angst haben«, fuhr er fort. »Der Eingriff ist psychisch belastend, und in Ihrem Zustand werden Ängste möglicherweise verstärkt. Sie empfinden dann Emotionen, die überhaupt keine Grundlage in der Realität haben. Sie haben doch Ihre Tabletten genommen?«

War das der Grund? Gaukelte ihr Geist eine Bedrohung vor, die es gar nicht gab? Sie blinzelte, musterte den Mann vor sich. Es war warm hier unter der Behandlungslampe. Schwitzte er deshalb? War er nervös, weil er um ihren labilen Zustand wusste? Natürlich hatte sie Angst vor der Infusion. Aber deswegen musste sie doch nicht hinter jedem Busch einen Mörder sehen. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

Die Haube senkte sich etwas weiter ab, sodass Francesca gerade noch darunter hindurchsehen konnte. Sie wischte ihre feuchten Finger an der Hose ab und trommelte mit ihnen auf ihrem Oberschenkel. Das Brummen der Haube schwoll an, als Doktor Malecha mit einem letzten energischen Fingerdruck die Eingabe abschloss. Daraufhin beobachtete er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen die Darstellungen auf dem Bildschirm des Bedienfelds. Er wirkte wieder ausgeglichen.

Für Sekundenbruchteile flackerte eine durchscheinende Gestalt in Francescas Gesichtsfeld auf. Sie blinzelte mehrmals. War das erneut eine Halluzination?

Dann war unvermittelt das Netz zurück. Nur einen winzigen Augenblick lang, aber sie spürte die Informationsströme deutlich. Verloren geglaubte Erregung mischte sich mit Angst. »Was tun Sie mit meinem Chip?«

Der Arzt schreckte auf. Irritiert schwenkte sein Blick von ihr zu seinem Display und zurück. Mit fahrigen Handbewegungen bearbeitete er das Bedienfeld. Seine Stirn glänzte wieder vor Schweiß.

Schmerz bohrte sich in Francescas Kopf. Er aktiviert den Chip! Das ist gefährlich, das hat er mir selbst gesagt! Panik schwappte in ihr hoch. Dann riss die Verbindung ab.

»Es ist alles in Ordnung«, versuchte der Arzt sie zu beruhigen, doch es klang nicht besonders glaubwürdig.

»Ich hatte Kontakt!«

Er sah sie an. »Das kann nicht sein. Das muss Einbildung sein.«

Wieder schien sie Anschluss an das Netz zu bekommen. Sie nahm Stimmen wahr. Bekannte Stimmen, die durcheinanderredeten. Waren das Sprachnachrichten, die unkontrolliert abgerufen wurden? Das Stimmengewirr brach abrupt ab. Francesca fiel auf, dass sie ihre Augen fest geschlossen hatte. Sie schlug sie auf.

Der Arzt streckte ihr in der flachen Hand eine gelbe Pille entgegen. »Nehmen Sie die, das wird helfen.«

Der Schmerz hinter ihrer Stirn wuchs an, verwandelte sich zu einem scharfen Stechen. Die Erinnerung an den Tag, an dem ihr Chip versagt hatte, brach wieder hervor. Sie schrie auf. Genauso hatte es sich angefühlt. Das soll endlich vorbei sein!

Die Pille flog in hohem Bogen davon, als sie die dargebotene Hand beiseite schlug. »Ich will Ihr Zeug nicht!« Sie griff an die Haube.

Der Arzt wollte sie daran hindern, aber sie stieß ihn in einer heftigen Reaktion von sich. Er wich einen Schritt zurück, ließ sie gewähren, während sie sich unter der Haube hervor und aus dem Behandlungsstuhl arbeitete. Dabei zuckten seine Arme unkontrolliert, als ob er sich nicht entscheiden konnte, sie beschwichtigend zu berühren oder unangetastet zu lassen. Erst als sie vor dem Display stand, sprang er nach vorn und schlug auf den Ausschalter.

Der Bildschirm erlosch. Aber einen Herzschlag lang hatte sie die Anzeigen gesehen. Ausleserate, Downloadgeschwindigkeit, Datensicherung.

Sie wirbelte um ihre Achse, packte den Mann am Kittel. »Haben Sie meinen Chip ausgelesen? Bin ich nicht schon kaputt genug?«

Er löste ihre Hände von seinem Kragen. Sein Gesicht war starr. »Ich weiß nicht, was Sie da reden. Ich habe Ihren Chip vermessen. Mehr nicht.«

»Der Chip war aktiv! Ich habe das Netz gespürt! Wollen Sie mich verarschen?« Die letzten Worte brüllte Francesca. Was fiel diesem Quacksalber ein, an ihr herumzumanipulieren?

»Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.« Doktor Malecha wandte sich dem Schreibtisch zu.

Mit einem groben Griff drehte sie ihn zu sich herum. »Sie sagen mir auf der Stelle, was das sollte! Was gehen Sie meine Daten an? Was wollen Sie damit?«

Die Tür flog auf und die Assistentin stürzte herein.

Der Arzt richtete sich steif auf. »Bitte verlassen Sie meine Praxis. Ein solches Verhalten kann ich nicht akzeptieren.«

Vor Wut unfähig zu einer Erwiderung wollte Francesca den Mann nochmals packen. Die Assistentin aber drängte sie zurück und bugsierte sie unsanft aus den Praxisräumen.

Francesca stürmte die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss hielt sie sich am Geländer fest, beugte sich vornüber, würgte.

Hoffentlich kotze ich nicht auf die Stufen.

Sie trat hinaus auf die Straße. Die frische Luft tat ihr gut, der Kopfschmerz flaute langsam ab. Mit zittrigen Beinen machte sie sich auf den Heimweg.

Sie verstand die Welt nicht mehr. Hatte dieser Mistkerl tatsächlich versucht, ihren Chip auszulesen? Warum setzte er ihre Gesundheit aufs Spiel? Was hatte er davon?

Mit Erschauern fielen ihr ihre Feelgoods ein, kurze Aufzeichnungen von Gefühlszuständen, in denen sie besondere – auch intime – Momente festgehalten hatte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

War der Kerl auf der Suche nach solchen Datensätzen? Geilte er sich daran auf? Ihr Arzt war ihr gar nicht wie ein Perverser vorgekommen. Im Gegenteil, er hatte bei allen Gesprächen und Untersuchungen ein höchst professionelles Verhalten an den Tag gelegt.

Bis auf heute. Sie schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn.

Ein Rempler schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie stellte fest, dass sie gewohnheitsmäßig das neben ihrem Wohnkomplex gelegene Einkaufszentrum betreten hatte. Es wimmelte von Menschen. Dies war zwar der kürzeste Weg zu ihrer Wohnung. Aber heute überlegte sie ernsthaft, den Umweg um das Gebäude zu nehmen. Die vielen Menschen, die ständigen Berührungen behagten ihr überhaupt nicht. Sie wollte allein sein und nachdenken.

Ein bunter Lichtreflex flackerte durch ihr Gesichtsfeld. Mehrere farbige Flecken folgten und verschwanden wieder. Francesca griff sich erschrocken an den Kopf. Eine erneute Halluzination konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Einer der Reklameprojektoren hatte sie wohl geblendet. Oder hatte etwa der Chip wieder reagiert?

Francescas Atem ging schneller. Es war nicht möglich, das Implantat aus der Ferne zu aktivieren, oder? Sie sah sich um. Die beiden Frauen dort an der Safttheke? Spielten die nicht mit einem technischen Gerät herum?