Buch lesen: «Der Zorn»
DER ZORN
Eine Hommage
Herausgegeben von Helmut Ortner
© 2012 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: Rudolfo Blazek, Frankfurt
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 9783866741966
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
»Zorn macht langweilige Menschen geistreich.«
Francis Bacon
»Der Mut-Mensch kennt den Zorn.
Der Furcht-Mensch die Wut und den Ärger.«
Walter Rathenau
Inhalt
COVER
TITELSEITE
IMPRESSUM
ZITATE
HELMUT ORTNER Von der Freiheit, sich zu erzürnen
Gottesfurcht und Zorngefühle
Verändern wollen der Welt
Die Kultur des Zorns
JUTTA LIMBACH Zorn – Europas erstes Wort
Der Zorn und die Wut
Zorn als positive Antriebskraft
Zorn als Todsünde oder Laster
Mit Zorn und Zärtlichkeit
Der Volkszorn
Die Zukunft den Sanftmütigen?
JÜRGEN WERNER Der Zorn oder: Wie die Unterwelt den Kopf regiert
UTE FREVERT Zorn und Ehre – Eine geschlechterhistorische Perspektive
Zorn und Ehre
Zorn, Ehre und Geschlecht
Die »Zivilisierung« des Zorns
Fazit und Ausblick
WOLF LOTTER Furor Teutonicus oder: Der deutsche Wutbürger. Eine Legende
Der erste Eindruck
Deutsche Wut
Leise Killer
Verwaltungsmassenmörder
Die Wut-Lüge
PETER GLASER Der Zorn der Zeit
Eine neue Arena
Auftritt der Gladiatoren: Gefühle
Desorientierung und neue Wutlust
Wutbürger
Ausweichen, Abschalten
Zivilisierte Zornverarbeitung
Zorn-Zonen
UWE WITTSTOCK Die Dichter des Zorns - Literatur über einen Erregungszustand
CLAUS LEGGEWIE Zorn, Gabentausch, Schuldenerlass. Utopische Gedanken aus aktuellem Anlass
1.
2.
3.
CHRISTIAN NÜRNBERGER Weihe eines Zornigen – und die weltgeschichtlichen Folgen
JÜRGEN BUSCHE »Zorn« und Homer
ALAN POSENER Rückblick auf einen Tag des Zorns
BASCHA MIKA Dumme Wut – kluger Zorn
-
MICHEL DE MONTAIGNE Über den Zorn Ein aktuelles Nachwort, verfasst zwischen 1571 und 1580
ANMERKUNGEN UND QUELLEN
AUTORINNEN UND AUTOREN
AUS DER REIHE »ESSAY« BEI ZU KLAMPEN!
HELMUT ORTNER
Von der Freiheit, sich zu erzürnen
Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den Zorn Gottes oder wir haben wir das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen, mitunter haben wir es in Zusammenhang mit wütenden, altersgereiften Senioren-Wutbürger gebraucht, die gegen den Abriss von Bahnhöfen demonstrieren. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten Begriffe wie die eher klinische Aggression einerseits oder die Empörung andererseits an die Stelle des Zorns. »Mit Aggression hat man einen nahezu technischen Ausdruck in Umlauf gebracht, der den Affektausbruch auf ein letztlich zu therapierendes oder sozialpädagogisch beherrschbares Phänomen reduziert hat«, heißt es scharfsinnig in einem Einführungstext zu einer Tagung des Potsdamer Einstein Forums. Genau so ist es. Und was ist mit der Empörung – so etwas wie die mutlose Schwester des Zorns? Wenn uns etwas empört, dann ist ein Unrecht geschehen, das sich rational aufzeigen lässt. Empörung scheint damit immer auch ein Eintreten für die richtige Seite zu meinen. Das Urteil über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einer Handlung oder einer Situation steht hier im Mittelpunkt, weniger die emotionale Schubkraft, mit der sie sich äußert. »Grundsätzlich sind wir, im produktiven Sinn, gar nicht mehr zornig, sondern nur noch beleidigt«, behauptet Julia Encke. Und so dominieren lautstarke Wutbürger und belastbare Empörte den öffentlichen Diskurs, richtiger: die mediale Wirklichkeit.
Und was ist mit all den Montagsdemos, Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, diesen landesweiten Protest-Ritualen, die, nicht selten begleitet von düsterer Untergangs-Rhetorik, die Bürger-Demokratie (»Wir sind das Volk«) beschwören? Handelt es sich hierbei um gemeinsame Zorn-Erfahrungen oder sind sie allenfalls kollektiver Ausdruck einer »schimpfenden Weltbetrachtung«, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch ein widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Bürgerzorn, Volkszorn, Wählerzorn, Götterzorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist ein Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?
Gottesfurcht und Zorngefühle
Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt in der Diskussion häufig unscharf. Da hilft vielleicht die Arbeit am Begriff, die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander?
Aristoteles zählt Zorn zu seinen elf Grundgefühlen, in der christlichen 6eologie zu den sieben Todsünden. In der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte wird er entsprechend allegorisch dargestellt: in der Ilias des Homer ist der Zorn des Achill ein wichtiges Motiv, Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus, um 250–230), frühchristlicher Apologet, räumt in seiner Schrift De ira dei dem Zorn Gottes eine herausragende Rolle ein. In Abgrenzung zu den fernen und leidenschaftslosen Göttern bei Epikur und der Stoa sei der Zorn des christlichen Gottes, der straft und droht, eine Voraussetzung für die Gottesfurcht, die wiederum Voraussetzung für alle Religion sei. Die Religion ihrerseits ist laut Laktanz die Grundlage von Weisheit und Gerechtigkeit (De ira dei, 12). Gott wäre auch nicht Garant der guten Weltordnung, wenn er – so Laktanz – ob der Missetaten der bösen Menschen nicht erzürnen würde.
Seit Senecas De ira ist Zorn das Paradigma einer zu kontrollierenden Emotion. Im Anschluss an Aristoteles betrachtet er den Zorn als Wunsch, erlittene Kränkungen zu rächen. Aristoteles bemerkt präziser, dass es sich um eine zu Unrecht erlittene Kränkung an einem selbst oder an nahe stehenden Personen handelt, die den Wunsch nach Vergeltung weckt. Zugleich bedroht der Zorn unser Urteilsvermögen und das soziale Gefüge und bedarf deshalb der Kontrolle. Zorn, fordert Seneca, darf keinesfalls Bestandteil einer philosophischen Lebensführung sein, er sollte ganz aus dem Leben der Menschen ausgemerzt werden. Anders als Seneca hält Aristoteles den Zorn nicht für ganz und gar schädlich, befördert er doch die Tapferkeit. Montaigne hingegen weist diese klassische Definition weder ausdrücklich zurück, noch bestreitet er die Destruktivität des Zorns. Anders als die beiden antiken Autoren betont er aber die Autonomie der Emotion gegenüber ihren kognitiven und sozialen Aspekten.
Wir wissen um die Sieben Todsünden: Neid, Trägheit, Wollust, Völlerei, Habgier, Hochmut – Zorn. Doch wer unter Todsünde nicht ein einmaliges Vergehen, einen spontanen emotionalen Ausbruch, sondern eine andauernde, sich immer wieder hervortretende Eigenschaft, gleichsam ein Charakterbild versteht, für den scheint der Zorn im theologischen Lasterkatalog doch etwas deplatziert. Der Zorn Gottes mag theologisch ein heißes Pflaster sein, zumal für Menschen, die es ebenso wenig plausibel wie gerecht finden, dass Gott sich herausnimmt, die Beherrschung zu verlieren und gewaltsam zu handeln, und niemand ihn kritisieren darf. Gottes Zorn entzündet sich vor allem, wenn die Angehörigen seines erwählten Volkes andere Götter anbeten.
Theologen sind da freilich in einem Dilemma: sie wissen nie so recht, wie sie Gottes Zorn erklären sollen. Verliert er nicht – anders als der normal Sterbliche – niemals die Kontrolle über sich selbst? Ist er nicht stets in einem Zustand vollkommener göttlicher Gelassenheit? Nein – lehren uns die gottesfürchtigen Welterklärer: alle Verse, die Gott Grimm, Wut und Zorn zuschreiben, sollen wir als Metaphern deuten. Göttlicher Zorn ist lediglich eine andere Bezeichnung für göttliche Gerechtigkeit. Gott bestraft Übeltäter und Götzendiener auf gelassene Weise – mit gerechtem Zorn.
Aber mit der göttlichen Gerechtigkeit ist es so eine Sache. Wo war Gott in Ausschwitz? Wo in den stalinistischen Straflagern? Wo in Srebrenica? Wo beim Schrecken des Tsunamis? Es war für mich ernüchternd und abstoßend, sich einen allmächtigen Gott vorzustellen, der tatenlos zusah, wie Menschen systematisch ermordet wurden, die Naturgewalt Zehntausende in den Tod riss. Alle die Tragödien und Katastrophen der Vergangenheit hier anzuführen, bei der die Götter aus Gründen, die uns ihre apodiktischen Jünger nicht erklären wollen, abwesend waren, würden eine mehrbändige Dokumentation beanspruchen. Wem hier erhebliche Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit kommen, der wird dem christlichen Gott auch den Alleinvertretungsanspruch auf gerechten Zorn absprechen. Ich gehöre zu den Zweiflern.
Mit oder ohne Gott: Zorn ist allgegenwärtig. Ob wir ihn nun unterdrücken oder zum Ausdruck bringen, er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn, seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden. Wo Zorn des Einzelnen sich bündelt und zum Zorn der Menge wird – zur Revolte.
Nicht zu übersehen ist: der Zorn erscheint derzeit wieder verstärkt in der öffentlichen Debatte: etwa in Peter Sloterdijks Zorn und Zeit, der auf die neuen »Zornkollektive der Beleidigten« verweist, die sich in den nordafrikanischen Ländern ebenso formieren, wie in den westlichen Finanzmetropolen in Form der Occupy-Bewegung. Wir selbst müssen einen gerechten Zorn entwickeln – so Sloterdijk – in seiner gewaltig erzählten Zeitanalyse. Auch André Glucksmann spricht in seinem Buch Hass – Die Rückkehr einer elementaren Gewalt vom »monolithischen Zorn«. Die Renaissance des Begriffs »Zorn« geschieht dabei unter gegenwartsdiagnostischen Vorzeichen.
Verändern wollen der Welt
Meine persönlichen Zornes-Erfahrungen sind die eines stillen, kognitiven Erzürnens über allerlei Zumutungen von Unrecht, Dreistigkeit und Niederträchtigkeit, die uns die politische Klasse, die globalen Finanzjongleure, beseelte Ideologen und religiöse Fundamentalisten täglich bescheren. Es sind die bekannten Gefühle und Gefühlsäußerungen, die sich einstellen, wenn man der Auffassung ist, dass unsere Welt mitunter in Schieflage ist. Es ist mein ganz und gar privater, persönlicher gerechter Zorn. »Wer mit der Welt, ungerecht und unfertig, wie er sie vorfindet, keinen faulen Frieden schließen will, kann nicht zufrieden sein«, schreibt Karl-Markus Gauß in seinem Buch Ruhm am Nachmittag, in dem zu lesen immer anregend und aufregend ist. Dass dieses Gefühl der Unzufriedenheit sich naturgemäß vielfältig Bahn bricht, sollten wir als eine gesunde emotionale Reaktion, ein Gefühlsleben im Augenblick, ein spontanes Verändern wollen der Welt deuten.
Zahllos sind die Anlässe, die Menschen in Rage versetzen, wütend und zornig machen. Betrachtet man das Gefühlsfeld der Unzufriedenheit auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden (»ein aggressiver Mensch«). Wie aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann man diesen Prozess beschreiben? Geht dem eigentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist Hass Kennzeichen des lang anhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Oder würden wir heute nicht eher sagen, dass Zorn der Affekt und Wut die Leidenschaft sei, also das eine der plötzliche Ausbruch, das andere das langsam Anschwellende, das sich festsetzt? Und wäre dann nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl?
Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig schwer zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinander greifen. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, die sich in ihrem Buch Philosophie der Gefühle mit dem Zorn und anderen Aggressionsaffekten beschäftigen, nennen einige hilfreiche Kriterien zur Differenzierung. »Das Gefühl des Zorns muss ein personales Objekt besitzen, es muss jemanden geben, dem gezürnt wird. Sodann sind es im Fall des Zorns häufig der Zürnende selbst oder zumindest ihm Nahestehende, die durch das Unrecht geschädigt wurden, um derentwillen Zorn empfunden wird. Beide Bedingungen gelten für Empörung nicht unbedingt. Empörung kann abstrakt bleiben und ist damit stärker als der Zorn anfällig für Gerechtigkeitsvisionen, die von konkreten Konflikt lagen losgelöst sind.« Während also Empörung noch vage sein kann in der Zuschreibung von Verantwortung und kausaler Zuständigkeit, übertroffen nur noch von einer diffusen »Betroffenheit«, muss im Zorn – so die Autoren – der Gegner bereits identifiziert sein. »Gezürnt werden kann nur jemandem«.
Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich geprägten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen. Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.
Die subjektiven Gefühle und Handlungsmaximen freilich sind kaum zu vereinheitlichen: Wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, zeigt sich bei einem Weiteren nichts als kühler Zorn. Wütend darf der Mensch sein, aber das Recht zum großen Zorn kommt – das haben wir bereits festgestellt – allenfalls den Göttern, niemals aber dem Menschen zu. Denn Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. »Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt blind um sich, behilft sich notfalls auch mit Ersatzobjekten.« Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall.
Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem. »Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende.« Sofkys scharfsinnige Betrachtungen bescheinigen dem Zorn eine zähe Destruktivität. »Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.« Man mag Sofsky hier gerne widersprechen, denn die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt »fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«. Im allgemeinen Werteempfinden wird dieser individuelle »gerechte Zorn« durchaus akzeptiert.
Bei Sloterdijk ist Zorn etwas Positives: etwas »Gebendes«. Man schenkt jemanden seine Aufmerksamkeit – also das Gegenteil von Destruktion und Ignoranz. Die Austreibung des produktiven Zorns aus Gesellschaft und Kultur ist für ihn lähmend. Den politischen Wissenschaften wirft er vor, sie litten substantiell unter der Verleugnung des Zorns. Und Sloterdijk identifiziert im Menschen neben der Libido eine weitere, bislang völlig verdrängte Art von Energien, die er in Anlehnung ans Griechische die thymotischen nennt. Thymos war in der Antike ein Sammelbegriff aus Zorn, Stolz, Scham, Ehrgeiz, Geltungswillen und Rechtsempfinden. Dementsprechend fordert Sloterdijk auch eine neue Theorie des Stolz-Ensembles. Seine Kritiker monieren, damit habe er die genuin politische und soziale Dimension des Themas zugunsten einer tiefenpsychologischen geopfert.
In der Tat ist die »Wut in den Städten« zu einer der beherrschenden Phänomene der Gegenwart geworden. Ob New York, Barcelona oder Berlin: in der weltweiten Occupy-Bewegung findet sich eine neue Art von Volkszorn, die von Exponenten der politischen und wirtschaftlichen Eliten gerne als zerstörerische Energien junger Männer missverstanden – oder denunziert? – wird. Wer aber den Protest- Bewegungen das Politische und das Soziale abspricht und auf eine tiefenpsychologische Grundkraft reduziert, der ignoriert freilich die produktive Potenz des Zorns – individuell und gesellschaftlich.
Nein, der Zorn erschöpft sich nicht in einem situativen Ausbruch, er ist Ausdruck einer kritisch-produktiven Geistes- und Emotionshaltung, die sich mit der Welt und ihren Zumutungen so nicht abfinden und befrieden will. Haltung statt Eruption, Prozess statt Ereignis.
Die Kultur des Zorns
Die Aufsätze in diesem Band thematisieren die unterschiedlichen Facetten des Zorns und setzen diese zueinander in Beziehung. Es geht also vor allem darum, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen. Psychologische, politische, sozialwissenschaftliche, kulturelle und moralische Aspekte werden – ganz und gar subjektiv, wie es der Gegenstand nun einmal erfordert, beschrieben. So unterschiedlich Fokus und Duktus der Texte auch sein mögen, der gemeinsame Grundton aller Beiträge ist die Rehabilitierung des antiquierten Zornbegriffs. Es geht darum, den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Die Autorinnen und Autoren meinen es ernst mit der Aussage, dass gesellschaftliche und soziale Veränderung durchaus den Zorn braucht, denn vom »widerständigen Menschen« lebt die Zivilgesellschaft. Zorn ist Energie, und Energie braucht es, um Dinge zu verändern.
Und was hat es mit Nachwort dieses Buches auf sich? Es ist ein historischer, dennoch ungemein aktueller Text, verfasst 1571. Der Autor: Michel de Montaigne, ein achtunddreißigjähriger, freigeistiger Adelsmann. Von seinem Amt als Parlamentsrat gerade zurückgezogen, beginnt er im Turmzimmer auf Schloss Montaigne, umgeben von Büchern, seine Essais zu schreiben: »Von meiner Bibliothek überschaue ich mein ganzes Hauswesen mit einem Blick. Sie liegt über dem Eingangstor, und ich sehe unter mir meinen Garten, meine Stallungen, meinen Innenhof und die meisten Teile meines Anwesens. (…) Die Bibliothek liegt im zweiten Stockwerk eines Turms. Das Erdgeschoss wird von meiner Kapelle eingenommen, das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafgemach mit Nebenraum, wo ich mich oft hinlege, um allein zu sein; und darüber nun befindet sich die Bibliothek, die früher als große Kleider- und Wäschekammer diente und der unnützeste Raum meines Hauses war.«
Da oben schreibt er also seine Essais, Aufsätze zu verschiedensten Themen, wie: »Über Traurigkeit, Furcht, Freundschaft, Einsamkeit, Alter, Trunksucht, Bücher, Dünkel, Erfahrung, Eitelkeit« und Zorn. Auffallend ist, dass er sich dabei nicht wie üblich an die gewählten Themen hält, sondern frei und eigenwillig seinen Assoziationen folgt. Das Ganze ist durchsetzt mit Geschichten und Anekdoten aus seiner Zeit und aus der Antike und immer wieder zitiert er aus antiken Quellen (ohne sie anzugeben). Wie er selbst schreibt, haben spielerische und gut klingende Formulierungen ihm besondere Freude bereitet. »Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen, dort halte ich mich dauerhaft beschäftigt.«
1580 veröffentlicht er die beiden ersten Bände der Essais und 1588 den dritten. Insgesamt hat Michel de Montaigne also zwanzig Jahre an seinen Essais gearbeitet. Bis zu seinem Tod 1588 hat er sein Handexemplar der letzten Ausgabe mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen versehen. Dieses Exemplaire de Bordeaux ist 1987 in einer hervorragenden Faksimileausgabe der Edition Sklatine, Genf/Paris, wieder veröffentlicht worden. Und 1998 präsentierte Hans Stilett – nach zehnjähriger Arbeit – eine moderne Gesamtübersetzung der Essais. Aus dessen vielgelobter Übersetzung wurde unverändert der hier abgedruckte Essay über den Zorn übernommen. Eine Hommage auch an den großen Denker und Humanisten Michel de Montaigne, auch wenn er diese Würdigung nur widerwillig akzeptieren würde: »Ich verzichte hiermit im voraus auf alle schmeichelhaften Zeugnisse, die man mir dereinst vielleicht ausstellen wird – man tut es ja nicht, weil ich sie verdiene, sondern weil ich tot bin«.
Als Aufforderung und Ermutigung, sich an einer neuen Kultur des Zorns zu beteiligen, will dieses Buch verstanden werden. Es ist höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen. Denn: der Zorn schärft alle Sinne – und er macht frei.