Buch lesen: «DAS ERZ DER ENGEL»
Detlef Klewer (Hrsg.)
Das Erz der Engel
Story Center
AndroSF 133
Detlef Klewer (Hrsg.)
DAS ERZ DER ENGEL
Story Center
AndroSF 133
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Oktober 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Detlef Klewer
Exlibris: Lothar Bauer
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Detlef Klewer, Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 258 4
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 839 5
Gard Spirlin: Nur ein Schritt nach links
Gott, war ich müde! Obwohl, man sollte den Namen vom Alten nicht so leichtfertig in den Mund nehmen. Schließlich ist er der Boss und man weiß nie, wann er mitlauscht. Er besitzt ja nicht umsonst das Attribut ›allwissend‹. Unter anderem.
Tatsache war jedoch an diesem trüben Tag auf einem beschissenen Planeten namens Erde am Rande der Galaxis, dass ich mich in einem Zustand befand, gegen den ein Jetlag wirkte wie ein Schnupfen gegen Gonorrhö. Nicht, dass ich eines davon schon mal gehabt hätte. Aber man bekommt ja so einiges mit. Ich war jedenfalls vollkommen fertig, kein Wunder, hatte ich doch in dieser Dienstperiode schon den fünften Auftrag in Serie erledigt – ohne Pause dazwischen und zur vollsten Zufriedenheit vom Boss, wie ich bemerken darf. Schließlich bin ich Uriel, bekannt für meine Zuverlässigkeit, sozusagen die Delta Force vom Alten. Im Gegensatz zu Gabriel, Michael und Raphael wird mir aber selten die gleiche Anerkennung zuteil wie diesen Strebern. Aber egal, der Boss weiß schon, was er an mir hat. Er schickt mich immer dann, wenn die anderen nicht mehr weiter wissen. Oder, wenn es richtig hässlich wird. Könnte ja sonst dem Image der feinen Saubermänner schaden. Mir egal, ich bin der Engel fürs Grobe und ich habe kein Problem damit.
Ich hegte den leisen Verdacht, dass es auch diesmal kein besonders angenehmer Job werden würde. Schon der Text des Auftrags – wie üblich übers transdimensionale Engel-Telex versendet – ließ nichts Gutes ahnen: »Rebellengruppe Pharzuph auf Sol 3 aufspüren, reintegrieren oder ggfs. neutralisieren«, hieß es knapp.
Ein mieses Gefühl weckte einerseits die Formulierung der Nachricht, die mir im äußersten Fall vollkommen freie Hand bei der Wahl der Mittel ließ, andererseits die Tatsache, dass ich Pharzuph persönlich kannte, wenn auch nur flüchtig. Er hatte schon seinerzeit eine geradezu fanatische Bewunderung für die Bewohner von Sol 3 gepflegt und war anderen Engeln damit auf den heiligen Geist gegangen. Meiner Meinung nach verhielt er sich schon damals mittelmäßig durchgeknallt, aber offene Rebellion? Das hätte ich ihm eigentlich nicht zugetraut.
Aber egal, Auftrag ist Auftrag, und so warpte ich trotz mentaler Erschöpfung unverzüglich hierher, auf diesen besch… – aber das sagte ich bereits. Mann, ist die Luft trocken hier, auf anderen Planeten mit Humanoiden ist es wesentlich angenehmer. Ja, bitte noch ein Bier! Oder besser zwei, eines noch für meinen Freund hier, der sich morgen sowieso nicht mehr an dieses Gespräch erinnern wird. Aber hin und wieder muss sich auch ein Engel ausquatschen, oder?
So, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Pharzuph. Ich hatte geglaubt, dass er schwierig aufzufinden sein würde, aber im Gegenteil: Er machte gar keinen Hehl aus seinem Aufenthaltsort, ganz so, als wollte er gefunden werden. Und als ich an die wuchtige Eichentüre des alten Herrenhauses klopfte, in dem er angeblich zurzeit wohnte, öffnete er mir sogar persönlich die Tür. Allerdings musste ich zweimal hingucken, um ihn zu erkennen. Nun ist es ja mit der äußeren Erscheinungsform von Engeln im Allgemeinen so, dass wir in jeder beliebigen Gestalt auftreten können. Untereinander erkennen wir uns aber trotzdem immer, nämlich an ganz charakteristischen Merkmalen in unserer Aura. Dennoch blieb mir erst mal die Spucke weg: Da stand Pharzuph vor mir, in der Gestalt eines männlichen Erdbewohners – aber angezogen wie eine Frau!
»Uriel! Was für eine schöne Überraschung, dich zu sehen! Komm doch herein, wir feiern gerade eine Party und du bist natürlich herzlich willkommen!«, flötete er mir entgegen.
Ich muss ziemlich verdutzt dreingeschaut haben, denn er hob eine Augenbraue, und als ich nach fünf Sekunden noch immer nicht reagierte, nahm er (oder sie? Warum hatte er nicht gleich Frauengestalt angenommen, wenn ihm das besser gefiel?) meinen Arm, hakte sich unter und führte mich in die große Halle.
Da tanzte aber tatsächlich der Bär, bei meiner nichtvorhandenen Seele! Er hatte offenbar eine ziemlich umfangreiche Gefolgschaft um sich geschart, die hauptsächlich aus zweit- und drittklassigen Engeln, aber auch aus vielen Erdbewohnern zu bestehen schien. Sie tanzten zu wilder Musik durcheinander, allesamt in bunte Kostüme gekleidet, die allerdings mehr zeigten als verhüllten. Engelschöre waren das definitiv nicht. Ich wollte gerade eine spitze Bemerkung darüber fallen lassen, da erinnerte ich mich an Pharzuphs ›Fachgebiet‹: Er war ja der Engel der Unzucht und Lust!
Sollte er in geflissentlicher Diensterfüllung ein wenig zu tief in die Materie eingetaucht sein? Aber warum dann der Auftrag? Wo war die Rebellion? Es blieb mir ein Rätsel, aber ich beschloss, zunächst einmal den Ahnungslosen zu spielen und den Guten zuerst möglichst auszuhorchen, bevor ich auf die Pauke haute.
Pharzuph hingegen schien voll in seinem Element. Während er sich und mich durch die Schar der Gäste manövrierte, mich da und dort vorstellte (»Mein guter Freund Uriel«) und sowohl Männlein wie Weiblein hin und wieder beiläufig, aber lustvoll ans Gesäß griff, laberte er mich mit einem Lobgesang nach dem anderen auf die menschliche Spezies voll. Nichts für ungut, ich mag euch auch ganz gerne, solange ihr den Rand haltet und nicht allzu viel Ärger verursacht, aber der Kerl äußerte sich ja geradezu euphorisch über euch!
Dennoch fand ich in Pharzuphs Äußerungen nach wie vor keinen Grund für einen derartig drastisch formulierten Einsatzbefehl. Er brüstete sich zwar mit unzähligen Eroberungen, sowohl von weiblichen als auch männlichen Erdlingen, aber wenn das ein Verbrechen sein sollte, müsste man den ganzen Planeten eliminieren. Außerdem, wie schon gesagt, das gehörte ja zu seinem göttlichen Auftrag, auch wenn ein solches persönliches Engagement schon sehr außergewöhnlich war. Er nahm halt seinen Job ernst, könnte man vielleicht argumentieren.
Nein, da musste noch etwas anderes dran sein und ich wollte freiwillig hundert Jahre bei Luzifer den Türsteher machen, wenn ich nicht dahinterkommen würde! Es sollte indessen keine besondere Anstrengung meinerseits dazu nötig sein, wie sich noch herausstellen würde, aber zunächst einmal bewegte ich mich unauffällig durch die Menge, nachdem ich Pharzuph kurzfristig losgeworden war, und hielt meine Augen offen. Die Party näherte sich offensichtlich langsam, aber stetig ihrem Höhepunkt. Ebenso wie jede Menge Pärchen, wie ich bemerken musste. Die trieben es ganz ungeniert auf den Treppen, an Fensternischen und sogar auf einigen Tischen, umtanzt von anderen Feierwütigen. Und zwar bunt gemischt: Menschen mit Menschen, Menschen mit Engeln in Menschengestalt, Engel mit anderen Engeln in sonst welcher Gestalt. Eros hätte seine Freude gehabt, wenn wir ihn nicht seinerzeit mit seinem ganzen olympischen Pack zum Teufel gejagt hätten, buchstäblich natürlich. Egal, entgegen der Meinung so manch selbst ernannten Religionsstifters hier oder auch auf anderen Planeten sind wir Engel ja nicht prüde – und unser Chef übrigens auch nicht. Aber noch immer gab es überhaupt keinen Anhaltspunkt, weshalb ich überhaupt hierher bestellt worden war. So kam ich nicht weiter!
Entschlossen hielt ich auf die große Tafel zu, auf der sich gerade Pharzuph lang ausgestreckt unter einem niedlichen Cherub wand, die auf ihm ritt und gleichzeitig hingebungsvoll und ambitioniert am Mittelstück eines Erdlings nuckelte. Ich tippte den Engel der Wollust heftig an, was ihn aber nur dazu brachte, seinen Arm um meinen Nacken zu schlingen und mich zu sich herunterzuziehen, um mich zu küssen. Ich gab ihm einen Brusthammer, dass der Tisch zusammenbrach. Als er sich aus den Trümmern aufrappelte, war mir zumindest seine Aufmerksamkeit sicher.
»Los, komm mit! Sofort!«, befahl ich ihm, drehte mich um und ging auf ein Separee zu.
»Aber Uriel, Schätzchen, dazu müssen wir uns doch nicht verstecken! Außerdem wusste ich gar nicht, dass du auf mich stehst.«
Ich drehte mich nur um und schaute ihn böse an. Wie gesagt, das war Auftrag Nummer sechs und ich war definitiv urlaubsreif. Jedenfalls schlich der Gute nun schnell an mir vorbei, zog den Vorhang zum Separee auf und scheuchte mit einer Handbewegung zwei sich dort vergnügende Erdlingsfrauen hinaus. Dann verbeugte er sich artig und ließ mich eintreten.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte er in geschäftsmäßigem Ton, nachdem wir uns gesetzt hatten.
»Die Frage ist wohl eher, was hast du mir zu sagen? Ich bin schließlich dienstlich hier!«
»Ach, die Obrigkeit wird aufmerksam auf uns? Sehr fein, sehr fein! Du siehst ja, was wir hier aufgebaut haben. Wir leben in völliger Harmonie und Eintracht, Menschen wie Engel. Keine Eifersüchteleien mehr, von wegen keine Seele oder keine Unsterblichkeit, nur freie Liebe, ganz im Sinne vom Boss! Unsere kleine Gemeinschaft floriert und wird mit jedem Tag größer. So nähern wir uns beständig SEINEM Ziel: In jeder Hinsicht gottgleich zu werden! Was soll daran falsch sein?«
»Nein, nein, mein Freund, so brauchst du mir nicht zu kommen! Wegen ein paar Orgien, von mir aus auch mit Menschen, sendet mich der Alte nicht quer durch die Milchstraße. Also raus mit der Sprache: Was hast du ausgefressen?«
Pharzuph seufzte theatralisch, zupfte am Saum seiner Strümpfe, die durch das hoch geschlitzte Kleid hervorblitzten, und zog einen Lippenstift aus seinem Handtäschchen, um sich mit geübtem Strich die Lippen nachzuziehen.
»Ach Urilein, sei doch nicht gleich so böse! Genieße doch ein bisschen die Party! Ich verspreche dir, bald wirst du alles erfahren. Wir stehen nämlich kurz vor unserem großen Ziel und als Höhepunkt dieser kleinen Feier werde ich es präsentieren. Also Geduld, mein Süßer, du wirst begeistert sein!« Mit diesen Worten kniff er mich in die Wange, stand auf und stöckelte davon.
Manchmal denke ich, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Sechstausend Jahre sind genug, sollte man meinen. Aber als Erzengel hat man keinen geregelten Pensionsanspruch, leider. Also machte ich zunächst das Beste daraus, sprich: Ich trank ein paar Biere. Bier ist wahrscheinlich das Genialste, was ihr auf diesem Planeten je erfunden habt. Nicht, dass ich davon betrunken werde, aber es schmeckt mir. Im Gegensatz zu dir, mein Freund, wird mich also morgen kein Brummschädel plagen und ich werde mich noch sehr genau an alles erinnern können. Auf dein Wohl! Was sagst du? Wie viele andere Planeten mit Menschen es noch gibt? Millionen, mein Freund, Millionen. Aber für euch gibt es keine Chance eines Besuchs. Haben wir uns fein ausgedacht, das mit der Lichtgeschwindigkeit, gell?
Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, die große Präsentation …
Pünktlich um Mitternacht dimmte jemand das Licht im Saal, eine Trennwand bewegte sich wie von Geisterhand beiseite und offenbarte eine Bühne, die jedoch noch von einem Vorhang verhüllt wurde. Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Partygäste. Als der Vorhang hochging, sah man zunächst nur die Silhouette eines großen quaderförmigen Kastens auf einem Podest gegen den spärlich beleuchteten Bühnenhintergrund. Davor, ebenfalls nur als Umriss zu erahnen, stand eine Gestalt, in der ich Pharzuph erkannte. In die Stille hinein konnte man die Anspannung geradezu knistern hören.
Da! Gleißende Scheinwerfer flammten zugleich mit einem grellen Fanfarenstoß auf, ließen den Engel in dunklem Glanz erstrahlen. Hoch aufgerichtet stand er da und badete in der dramatischen Musik, sein schwarzes Kleid floss geradezu an ihm herab. In absoluter Verzückung reckte er seine Arme hoch gegen den Himmel, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Er hatte schon immer ein Faible für bombastische Auftritte gehabt, aber das stellte alles Bisherige in den Schatten. Die Musik drängte empor, steigerte sich zu einem orgiastischen Höhepunkt – und verstummte. Und Pharzuph sprach zu seinem Volk.
»Meine lieben Freunde, Mitengel und Sterbliche! Ihr wisst, was dieser Tag für unsere Gemeinschaft bedeutet: Der Preis, das lang ersehnte Ziel unserer Wünsche, ist zum Greifen nah. Ihr alle habt hart gearbeitet, um dieses Ziel zu erreichen, und manchmal schien das Scheitern nah. Doch nun sollt ihr belohnt werden. In wenigen Augenblicken werden wir uns endlich zu dem erheben, was unsere Bestimmung ist! Freunde, es ist so weit: Lasst uns beginnen!«
Er ließ seine Arme sinken und in diesem Moment begann der Kasten hinter ihm in elektrischem Blau zu pulsieren, zunächst nur schwach, doch mit jedem Herzschlag verstärkte sich das Glühen, die Konturen verzerrten sich, Dimensionen schienen zu zerfließen, Umrisse waberten in irrwitzigen Farben, kleine Blitze wisperten entlang verschwimmender Körperlichkeit. Dann: eine donnernde Entladung, die die Zeit selbst gleißend entzweizureißen schien. Dunkelheit. Stille …
Ein einzelner Scheinwerfer blendete verhalten auf und beleuchtete das Podest. Statt des Kastens lag nun dort eine Gestalt auf dem Rücken, zugedeckt mit einem weißen Laken. Pharzuph trat gemessen heran. Er griff unter das Tuch und zog einen leblosen muskulösen Arm darunter hervor. Zärtlich zeichnete er mit dem Finger die zarten Linien der Venen auf diesem nach. Als sich keine Reaktion einstellte, begann er, den Arm zu streicheln, zunächst sanft, dann immer stärker, bis er ihn regelrecht knetete. Das Publikum begann zu tuscheln und Pharzuphs Gesichtsausdruck hatte sich indessen von Verzückung zu Verzweiflung gewandelt.
Doch da! Ein Finger der Gestalt zuckte kurz auf! Pharzuph schrie auf und intensivierte seine Massage. Ein kollektives Stöhnen ging durch die Menge, als der Arm tastend um sich zu greifen begann. Pharzuph sprang auf und riss das Laken von dem Körper. Ein wunderschöner Jüngling lag da und blinzelte mit Babyaugen in das Licht.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Engelshaaren! Vor zweihundert Jahren ereignete sich auf der Erde ein dubioser Vorfall, bei uns intern nur als ›Shelley-Zwischenfall‹ bekannt. Darin verwickelt: Pharzuph … Damals konnte er sich irgendwie aus der Sache herausreden und im Endeffekt war auch nicht wirklich etwas passiert, außer dass eine Schriftstellerin plötzlich eine schier unglaubliche Vision zu Papier brachte.
Hier entwickelte sich aber eine völlig andere Sache! Jetzt wusste ich auch, was es bedeutete, als er sagte, er wolle gottgleich werden: Pharzuph wollte Leben erschaffen!
Und anscheinend war ihm das auch gelungen. Nur leider enthielt die Sache einen gewaltigen Haken: Das durfte außer dem Boss niemand!
Die Menge wich erschrocken zurück, als ich mit einem einzigen Schwung meiner Flügel auf die Bühne neben Pharzuph und sein Geschöpf glitt und mich zu dreifacher Menschengröße aufrichtete, silbern glänzend, bewehrt mit dem Schwert aus Licht. Es geht nichts über ein gediegenes Imponiergehabe, sage ich immer. Ich hatte aber ansonsten echt keinen Bock mehr auf Konversation und beförderte das Arschloch daher mit einem einzigen Streich meines Schwertarms Richtung Schöpfer.
Dann wandte ich mich dem Homunkulus zu, der mich mit großen unschuldigen Augen angsterfüllt ansah. Meine erste Vermutung wurde nach einer kurzen Inspektion seiner Aura nun zur Gewissheit: Pharzuph hatte ihm keine Seele geben können! Woher auch, könnte man natürlich sagen. Somit konnte ich den armen Tropf getrost sich selbst überlassen. Auf einen mehr oder weniger ohne Seele kam es auf diesem Planeten sowieso nicht an.
Nun noch zu den Partygästen. Gewiss hatten einige aktive Mitstreiter dabei geholfen, diesen Schlamassel anzurichten, aber ich war sicher, nach dem gerade statuierten Exempel (Pharzuphs Reste glimmten noch auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, vor sich hin), würde die Sehnsucht nach Wiederholung solcher Aktivitäten wohl eher verhalten sein. Also begnügte ich mich damit, deren Aura mit einem kleinen Andenken zu versehen, was im körperlichen Sinne dem äquivalenten Schmerz eines Brustwarzenpiercings entsprechen würde.
Und dann beschloss ich spontan, noch eine Bar aufzusuchen, um noch ein wenig after work zu chillen, bevor ich womöglich den nächsten Auftrag aufgebrummt bekommen würde. Deshalb bin ich hier, mein betrunkener Freund. Jetzt habe ich so viel von meinem Job erzählt, was machst du eigentlich beruflich? Musiker? Ah, Komponist! Was? Du möchtest ein Musical darüber schreiben? Na, viel Spaß dabei, die Story mit uns Engeln wird dir aber niemand abkaufen. Schreib lieber etwas über Außerirdische, das glauben die Leute noch eher! Und du würdest gerne wissen, wie man zwischen den Dimensionen warpt? Das ist ganz einfach: It’s just a jump to the left …
Celin Aden: Aizong 3
»Aufwachen, ihr Schlafmützen! Wir erreichen Aizong 3 in ein paar Minuten!«, erklang Uriels heitere Stimme. Träge öffnete Gabby die Augen und überlegte, wie der Lautsprecher im Quartier von der internen Com-Verbindung abgekoppelt werden konnte, ohne dabei Raphaels Aufmerksamkeit zu erregen – oder das halbe Schiff lahmzulegen.
Ihr technisches Geschick hielt sich in eng gesteckten Grenzen. Sie hatte schon einmal versucht den Partikelinterzeptor ihres Anzugs zu erhöhen – mit dem Erfolg, den subharmonischen Oszillator des Schiffs zu überladen, als sie ihren Anzug anschließen wollte.
Die Rückkopplung hatte beinahe die Schiffssensoren geschmort und Raphael einige Tage Arbeit beschert.
Verschlafen blinzelte sie den Wecker auf dem Sideboard neben dem Bett an, als ein abgehacktes Kichern im Zimmer erklang.
Fassungslos schnappte Gabby nach Luft. Dann setzte sie sich auf, presste die Laken an die Brust und ließ den Blick wachsam durch das Quartier schweifen.
Tatsächlich, Uriel stand im Türrahmen und grinste!
»Verschwinde, du Spanner!« Wutschnaubend packte sie ihr Kissen und schleuderte es Uriel mitten ins Gesicht. Abermals kicherte er gackernd, tat ihr aber den Gefallen und ging.
»Eve, Türe schließen und verriegeln«, grummelte Gabby und ließ sich rücklings wieder auf ihr Lager fallen. »Verfluchter Idiot!«
»Lass gut sein, Gabby«, brummelte Michael neben ihr. Laken raschelten, als er sich zu ihr drehte und einen Arm um ihre Taille legte.
»Er wird uns alle noch umbringen!« Schnaubend schob Gabby seine Hand weg, schwang die Beine über die Bettkante und warf die Bettdecke von sich.
»Uriel hat es unter Kontrolle«, versicherte Michael seufzend und wälzte sich auf die andere Seite.
»Sieht mir nicht so aus. Wenn du mich fragst, ist er unzurechnungsfähig. Er sollte nicht mit Sprengstoffen hantieren, die binnen eines Augenblicks einen halben Planeten implodieren lassen könnten, geschweige denn unser Schiff!« Gabby klaubte ihre Hose vom Boden und zog sie sich über die Beine.
»Ist das deine Meinung als Expertin?«
Schnaubend stand Gabby auf und griff nach ihrem Oberteil. »Er hat Zwangsneurosen und schizophrene Schübe, das ist meine Meinung als Expertin.« Sich in ihr Shirt kämpfend, durchquerte sie zügig Michaels Quartier und ließ sich von Eve, der schiffsinternen KI, die Quartiertüre öffnen.
»Wir sind alle etwas verrückt, Gabby«, rief Michael ihr hinterher, bevor sie entlang des schmalen Korridors zu ihrem eigenen Quartier stapfte.
»Da hat er nicht unrecht«, schaltete sich Raphael ein, ohne von dem Display an der Wand aufzusehen.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram.« Gabby verpasste dem Blondschopf einen sanften Schlag auf den Hinterkopf. Aber bereits erneut zu vertieft in die Daten vor sich, registrierte Raphael es gar nicht, oder schenkte dem keinerlei Beachtung.
Kopfschüttelnd betrat Gabby ihr Quartier und steuerte zielstrebig ihre Dusche an.
Als sie unter dem nebeligen Dampfstrahl stand, erklang Eves Stimme über die Schiffslautsprecher:
»Wir erreichen unsere Zielkoordinaten in zwanzig Standardminuten.«
»Ja …«, knurrte Gabby, verließ den warmen Nebel in ihrer Duschkabine und rubbelte sich nur flüchtig mit einem Handtuch trocken.
Dann steuerte sie das Regal neben ihrem Schlafplatz an und streifte einen der schwarzen Bioanzüge über. Raphael scherzte immer, dass die Anzüge wie zu groß geratene Strampler aussahen. Zweifelsohne musste Gabby ihm darin zustimmen, obwohl der Anzug sie schon vor so mancher Gefahr geschützt hatte. Ihre Körpertemperatur ausgleichend, bewahrte er sie nicht nur anlässlich einer Gelegenheit davor, womöglich Finger oder Zehen zu verlieren. Hinzu kam eine nahezu kaum mögliche Zerstörbarkeit des dünnen Stoffs, weder mittels Schneidwerkzeugen, noch durch Energiestrahlen.
Trotzdem war es ganz gut, dass sie außer ihrem Team niemand in diesem Bioanzug sah.
Bei dem Gedanken schmunzelte Gabby und durchquerte den Flur eilig in Richtung der backbord gelegenen Rüstkammer.
Als sie den Raum betrat, zog sie sich gerade die Anzugkapuze über den Kopf und entdeckte Michael, der schon in seinem goldenen Kampfanzug steckte. Daneben machte sich gerade Uriel an seiner matten, nachtschwarzen Rüstung zu schaffen.
»Was hältst du heute für unsere Gegner bereit, Uriel?«, hakte Gabby nach und verstaute ihre schneeweißen Haarsträhnen sorgfältig unter der Kopfbedeckung.
»Rubidium-Kern-Granaten«, grinste Uriel und kletterte seinerseits in seine Panzerung.
Gabby verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse und warf einen Blick zu Michael, der das Ganze mit einem Achselzucken quittierte. Rubidium war hochempfindlich. Allein eine unachtsame Bewegung vermochte das Element zur Explosion zu bringen.
Sie waren alle am Arsch …
Seufzend überprüfte Gabby die Daten ihres rot glänzenden Kampfanzugs, ehe sie dessen Rückenpartie aufspringen ließ, um hinein zu klettern.
»Willkommen, Erzengel Gabriel. Alle Funktionen Ihrer Panzerung befinden sich in akzeptablen Norm-Werten. Die Restladung des Deuterium-Energiekerns beträgt aktuell achtundneunzig Prozent«, empfing sie im Inneren die KI der Rüstung.
»Sollte die Ladung nicht hundert Prozent betragen, Raphael?«, erkundigte sich Gabby mit vorwurfsvollem Blick in Richtung des Technikers.
»Steht nicht auf meiner Prioritätenliste, Gabby, aber keine Sorge, ich vergesse nichts.« Raphael klopfte sich mit einem Finger gegen den Teil seines Schädelknochens, den eine Metallplatte ersetzte. Hinter ihr befand sich ein regelrechtes Arsenal an Kabeln und Festplatten. Sein Gehirn ähnelte mittlerweile mehr einem Computer, was die häufige Einnahme hoher Dosen eines Medikamentencocktails nötig machte. Bevor er mit einem strahlenden Lächeln in seinen blauen Kampfanzug stieg, kämmte sich Raphael mit der gleichen anmutigen Bewegung durch die schulterlangen, blonden Haare, die mit schöner Regelmäßigkeit reihenweise ahnungslose, junge Mädchen seufzend auf seinen Schoß beförderte.
Gabby rollte nur genervt mit den Augen.
Mittlerweile prallte solches Gehabe an ihr ab, wie Geschosse an der Osmium-Hülle ihres Kampfanzugs.
»Fertig?«, erklang Michaels Stimme über Gabbys Com-System in ihrer Kampfmontur.
»Fertig«, bestätigte sie und hörte die beiden anderen Teammitglieder ebenfalls bestätigen.
»Eve, den Ausgang öffnen«, verlangte Michael und stapfte an ihnen vorbei in Richtung der Außenwandluke.
»Schiff befindet sich in konstantem Orbit um Aizong 3«, erläuterte die KI. »Backbordausgang wird geöffnet.«
Dampf schoss aus den Druckluftventilen, als die schweren Seitenteile der Luke sich bewegten. Gabby erkannte einen winzigen Ausschnitt einer blassen Sonne vor einem weißen Planeten.
»Dann wollen wir mal.« Michael durchstieß ungehindert das Kraftfeld. Binnen eines Augenblicks befand er sich schwebend im luftleeren Raum, öffnete seine Thoron-Schwingen, aktivierte sie und steuerte den Planeten an.
Gabby folgte ihm auf dem Fuße und ließ sich von ihren Flügeln in einem weiten Bogen zu ihren Zielkoordinaten bringen.
»Enthielt der Hilferuf irgendwelche Informationen?« Michaels Stimme erklang in Gabbys Helm. Mittlerweile war ihr kommandierender Offizier nur noch als winziger Punkt auf dem Weiß der Planetenatmosphäre zu erkennen.
»Negativ, Chef. Es wurde nur ein automatischer Funkspruch abgesetzt. Eine Endlosschleife, die bis jetzt nicht abgestellt wurde. Es besteht seit zweiundsiebzig Stunden kein Funkkontakt zu der Siedlung auf Aizong 3«, erläuterte Raphael, der sich nur wenige Hundert Meter hinter Gabby befinden musste.
Ein euphorisches Jubeln schrillte durch die Com-Verbindung, als Uriel an ihr vorbei schoss.
»Das darf nicht wahr sein«, grollte Gabby und folgte ihm eilig.
Uriel traute sie mittlerweile alles zu. Womöglich legte er die Siedlung ohne ersichtlichen Grund in Schutt und Asche, und sie würden nie in Erfahrung bringen, was dort zuvor geschah. Sofern überhaupt etwas passiert war, und die Probleme nicht von einer defekten Com-Anlage herrührten.
Uriel ungeschützt auf die ahnungslosen Siedler loszulassen, schien ihr noch fahrlässiger, als ihm hochexplosive Materialien in die Hand zu drücken.
»Uriel, langsam«, befahl Michael, als der Waffenexperte scheinbar sogar ihren kommandierenden Offizier überholte.
»Ich sagte doch, irre …«, grummelte Gabby und durchbrach die Exosphäre des Planeten.
»Verrückt sind nur die, die denken, sie seien normal!«, lachte Uriel durch die Com-Verbindung und jubelte wieder wie ein Zehnjähriger auf Achterbahnfahrt.
»Dann bin ich ziemlich verrückt«, erwiderte Gabby zynisch und ließ sich von ihrem Navigationsprogramm in Richtung der Zielkoordinaten führen.
Als sie schlussendlich in einer kargen, schwarzen Felslandschaft aufsetzte, hob sie erstaunt die Augenbrauen.
Skurrile Formationen steinerner Säulen, die sich spiralförmig in den wolkenlosen Himmel schraubten, breiteten sich vor ihnen aus.
Eis auf den glatt polierten Oberflächen glitzerte in den blassen Strahlen der düsteren Sonne.
Als Gabby auf die Anzeigen ihres Kampfanzugs linste, entwich ihr ein besorgtes Schnauben: Die Werte zeigten minus einhundertsiebenundfünfzig Grad Celsius und eine für Menschen ungeeignete Atmosphärenzusammensetzung.
»Und hier sollen Menschen leben?« Michael sprach den Gedanken aus, der auch Gabby durch den Kopf schoss.
Zugegeben, die Menschheit fand und besiedelte nur wenige geeignete Planeten in der Galaxie. Mittlerweile wurden Raumstationen den unzähligen gescheiterten Terraforming-Projekten vorgezogen.
Aber dieser Planet wirkte noch lebensfeindlicher als so manches Versuchsobjekt, an dem die Forestics mit ihren Umwelt-Umwandlungsprojekten scheiterten. Gabby und ihr Team mussten es wissen. Mehr als einmal statteten sie einem solchen Planeten einen Besuch ab, um in Not geratene Mitarbeiter und Siedler zu retten.
»Sicher, dass der Hilferuf von einer Siedlung abgesetzt wurde, und nicht von einem abgestürzten Schiff?«, hakte Michael nach.
»Ganz sicher«, bestätigte Raphael, »auf Aizong 3 soll sich laut Angaben der G.O.T.T.-Datenbanken seit achtzehn Monaten eine menschliche Siedlung befinden.«
»Welche Firma ist dafür verantwortlich?«, erkundigte sich Gabby und folgte dem vorwärts stapfenden Michael.
»Laut Verzeichnis mehrere, aber Hauptinvestor ist Orange Enterprises, eine Bergbau- und Bergungsfirma«, antwortete Raphael prompt. »Den Koordinaten nach sollte sich die Siedlung neunhundert Meter vor uns befinden.« Er deutete in besagte Richtung und Gabby musterte die vor ihr liegende Felsformation gründlich.
Viele niedrige Steinspitzen ragten vor ihnen aus dem Boden, während metertiefe Spalten die Zwischenräume durchzogen.
Dahinter befand sich eine kreisförmige Öffnung, inmitten einer der spiralförmigen Säulen.
»Unterirdisch«, erklang Michaels Stimme abermals über Funk. Gabby und die anderen folgten ihrem kommandierenden Offizier. Dank der Thoron-Schwingen überbrückten sie die Entfernung von wenigen Hundert Metern mit einem Sprung.
Als Gabby die Öffnung betrat, erkannte sie tiefe und einem Gewinde ähnelnde Rillen im Stein. Den Blick auf die steinernen Wände gerichtet, aktivierte sie den Scheinwerfer ihres Helms und folgte ihrer Einheit in die Tiefe.
Der Weg erwies sich schnell als abschüssig, aber dank unregelmäßiger Furchen fanden ihre Stiefel Halt auf dem gewölbten Boden.
»Da unten ist etwas«, murmelte Uriel und griff nach seiner Pistole, »ich kann es riechen.«
»Du steckst in einem hermetisch abgeriegelten Kampfanzug. Du kannst nichts riechen«, warf Gabby genervt ein.
»Wärmesignaturen?«, hakte Michael an Raphael gewandt nach.
»Negativ. Meine Sensoren nehmen weder Bewegungen noch Wärme über null Grad Celsius wahr.«
»Seit wann werden eigentlich Siedlungen unterirdisch angelegt? Bedeutet das nicht mehr Aufwand, als eine Raumstation in Betrieb zu nehmen?« Eine Antwort blieb man Gabby schuldig, denn gleichzeitig mündete der Weg in einer ausladenden Tropfsteinhöhle, mit einer Unzahl von Stalaktiten und Stalagmiten.
Die raue Oberfläche leuchtete rosa und erhellte die Höhle genug, um gut hundert Meter weit sehen zu können.
»Wahnsinn …«, hauchte Uriel und huschte zu der nächstbesten Säule. Als seine Handschuhe die Oberfläche berührten, blitzte sie blau auf, bevor sie wieder ihr zartes Rosa annahm.