Buch lesen: «BELARUS!»
BELARUS!
DAS WEIBLICHE GESICHT
DER REVOLUTION
Herausgegeben von
Andreas Rostek | Nina Weller | Thomas Weiler | Tina Wünschmann
Mit Beiträgen von
Yaraslava Ananka | Tania Arcimovich | Simone Brunner | Vera Burlak Julia Cimafiejeva | Maria Davydchyk | Olga Dryndova | Volha Hapeyeva Iryna Herasimovich | Volha Hronskaya | Gun-Britt Kohler | Hanna Komar Marina Naprushkina | Maryna Rakhlei | Iryna Ramanava | Marina Scharlaj Elke Schmitter | Olga Shparaga | Tatiana Shchyttsova | Diana Siebert Julia Smirnova | Irina Solomatina | Hanna Stähle
INHALT
Julia Cimafiejeva
My European Poem
Vorbemerkung
Ein Aufstand der Frauen
Iryna Herasimovich
Die Kraft des Unwissens
Olga Dryndova
Corona, Politisierung und Selbstorganisation
Marina Scharlaj
Belarus als Frau und die Frauen von Belarus
Irina Solomatina
Die Revolution hat kein feministisches Gesicht
Tatiana Shchyttsova
Der traumatische Weg zum Neubeginn
Simone Brunner
Mit Cyber-Partisanen gegen Lukaschenko
Yaraslava Ananka
Eine belarusische Gesangsstunde
Olga Shparaga
„Wir brauchen eine starke Gesellschaft“
DOKUMENTE
Iryna Ramanava
Die Wurzeln der Gewalt
Tania Arcimovich
Die auf den Straßen tanzen
GEDICHTE
Vera Burlak / Julia Cimafiejeva / Volha Hapeyeva Volha Hronskaya / Hanna Komar
Maryna Rakhlei
Die Nation im Schrank
Diana Siebert
Keine Lust mehr, Gattinnen von Partisanen zu sein
Gun-Britt Kohler
Belarusisch und Russisch
Marina Naprushkina
Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt
STIMMEN AUS BELARUS
Julia Smirnova
Ein Spiegel für Russland
Maria Davydchyk
EU und Belarus – nebenan in Europa
Hanna Stähle
Europa braucht eine Belarus-Strategie
Elke Schmitter
Und Deutschland?
DIE CHRONIK
MY EUROPEAN POEM
Julia Cimafiejeva
This poem should be written in English.
This poem should be written in German.
This poem should be written in French,
In Swedish, in Spanish, in my adorable Norwegian,
Maybe in Finnish, Danish and Dutch.
Baltic languages should decide for themselves.
No Belarusian version for the poem,
No Russian version for the poem,
No Ukrainian version for the poem.
The rest are at your choice.
This poem should be written in the languages
Of human rights organizations,
Of those multiple expressed concerns
by European politicians.
So
Shall I get used to the thought
That I could be taken to prison
By the men wearing black,
By the men in plain clothes,
By the men with four fat letters
On their fat black backs?
Otherwise, my country
Won’t gain any freedom.
And it could not work anyways,
As usual.
Shall I take it calmly that I
Could be beaten and ultimately
Found guilty for that because
(They would say)
I cried antistate slogans like “Freedom!”
Or “Release all political prisoners!”
Though I would not need to cry them out at all
(Like my Facebook friends and thousands of
Someone else’s friends)
In order to be arrested or beaten.
I won’t have to cry anything,
I won’t have to do anything,
Just stand silently, just be.
I know I have to get used to that thought
Just in case, because it’s so likely to happen.
(Oh, my! I haven’t saved those telephones yet
Whom to contact in case of detention.)
I can’t say that in Belarusian,
I can’t say that in Russian,
I can’t say that in Ukrainian,
Only in English: I am afraid,
Only in German: Ich habe Angst,
Only in Norwegian: Jeg er redd.
That’s enough, for other variants,
Please, use Google translate.
The translations should be more
Or less accurate. These are not
Those strange East European languages
With their funny Cyrillic letters.
I’m afraid
Like you would be in my place,
If you lived in a country that is not free
Where they’ve had the same president
For 26 (!) years. Oh, my god! more than
Two thirds of my life I’ve spent
Under the power of a crazy person
Whom I’ve never voted for!
Sorry, it’s a long poem,
Because it’s a long story,
I spent more than two thirds of my life
Under the power of the man
I’ve never voted for,
Who harassed and suppressed and killed
(They say).
And when I come to the literary festivals abroad,
And when I speak English
I try to tell the complicated history of my country
(When I am asked)
As if I am another person,
As if I am like all those European poets and writers,
Who do not have to get used to the thought
That they could be arrested and beaten
For the sake of their country’s freedom.
As if my ugly history is just a harsh story
That I can easily put out from the Anthology of
Modern European short stories because
It’s too long,
And too dull.
When I tell it in English,
I want to pretend that I am you,
That I don’t have that painful experience
Of constant protesting and constant failing,
That nasty feeling of frustration and dismay.
I want to pretend that I have a hope,
Because when I tell it in Belarusian
I realize, we all realize, there is none
We can look forward to.
So forgive me my nagging in a half-broken English,
My Eastern European neverending complaints,
As having read the books you’ve read,
I still want to have a hope,
I still believe I have a right for a hope,
That hope could build its nest
On my roof and sing its songs
In Belarusian
(Not in Russian).
EIN AUFSTAND DER FRAUEN
Vorbemerkung
Seit den gefälschten Wahlen in Belarus am 9. August 2020 bis zu dem Tag, an dem dieses Buch in den Druck geht, dem 3. November, sind 86 Tage vergangen. In dieser Zeit gab es Proteste und Demonstrationen in Minsk, in Homieĺ, in Brest, in Hrodna, in vielen Städten von Belarus. Zehntausende, Hunderttausende waren und sind auf den Straßen und Plätzen, Tausende wurden von OMON-Schlägern aufgegriffen, in anonymen Transportern verschleppt, in überfüllte Zellen gesteckt. Brutale Schläge, unzählige Verletzte, eine unbekannte Zahl von Verschwundenen, mindestens vier Tote unter den Protestierenden bis zu diesem Datum – das Regime wehrt sich mit seinen Mitteln.
Und es wird der Lage nicht mehr Herr. In Belarus ist eine ganze Gesellschaft erwacht und will keine Ruhe mehr geben.
Die Revolution in Belarus hat viele Gesichter. Die Proteste gegen die offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen werden von Menschen aller Schichten getragen – Arbeiter, Rentnerinnen, Kulturschaffende, IT-Fachleute, Studierende – alle gehen sie auf die Straße. Die Bilder in Weiß gekleideter Frauen mit Blumen vor bewaffneten schwarz vermummten „Sicherheitskräften“ gingen um die Welt, und sie sind eindrucksvoll.
Der Eindruck ist nicht falsch: Der Aufstand im Land ist ein Aufstand der Frauen, wenn auch nicht allein der Frauen. Aber was genau ist das „weibliche Gesicht“ der Revolution: eine reale Kraft, ein medialer Effekt? Kitsch mit weiterhin patriarchalem Unterbau oder zukunftsweisende Dynamik des gesellschaftlichen Umbaus?
Mancher tut sich schwer, den Aufstand der Frauen ernst zu nehmen – ist er doch eine durch und durch moderne Umwidmung des Begriffs der Revolution. Und er ist auf noch zu erkundende Weise eine Neufassung des Feminismus – ohne dass wir es mit spezifisch feministischen Aktionen zu tun hätten.
Auch Jeanne d’Arc ist nicht allein in ihrer Rüstung in die Schlacht gezogen, es wird manchen armen Hund gegeben haben, manchen Jean ohne Namen, der geblutet hat. Aber jeder Umbruch findet sein eigenes Bild. In Belarus prägen dieses Bild die Frauen. Wie lässt sich ihre Selbstermächtigung erklären? Und was geschieht mit einer Gesellschaft, die in ihrer Suche nach einem neuen Selbstverständnis aus einer langen Passivität erwacht ist?
Niemand kann sagen, was sein wird, wenn dieses Buch fertig gedruckt ist und gelesen wird, ob die friedfertige Revolution in Belarus sich – wie auch immer – durchsetzt; ob das Regime noch brutaler zuschlägt und ein Blutbad anrichtet; ob der mächtige Nachbar im Kreml eine Entscheidung nach seiner Façon herbeiführt. Was man aber bereits heute sagen kann: Der Aufstand hat das Land verändert in einer Weise, die kaum jemand erwartet hatte – und die sich nicht mehr rückgängig machen lässt.
Wir versammeln hier vielstimmige Texte, die helfen sollen, das Geschehen in Belarus nachzuvollziehen und in einen breiteren Kontext zu stellen. Unsere Autorinnen gehen auf historische Hintergründe ein, auf Symbole, Chiffren und Klänge der Revolution, auf Repressalien und zivile Selbstorganisation, auf Frauenbilder, Partisaninnen und kollektive Traumata, auf wirtschaftliche Aspekte, auf die Rolle Russlands und Europas.
Befragt nach seinen Leseempfehlungen für ein besseres Verständnis des aktuellen Geschehens in Belarus, sagte der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan: „Vielleicht ist es in dieser Situation am besten, nicht die Experten und die Politologen zu lesen, sondern die Leute, die direkt an den Ereignissen teilnehmen. Das sind äußerst subjektive, dafür maximal offenherzige Berichte, und ich denke, dass sie die jetzige Situation in Belarus am genauesten charakterisieren.“
Diesem Rat wird vielleicht die Sammlung chronologisch geordneter Stimmen ganz unterschiedlicher Akteurinnen gerecht, die wir hier präsentieren. Wir entnehmen sie der Facebook-Seite Stimmen aus Belarus, die viele unmittelbare Äußerungen gesammelt und auf Deutsch veröffentlicht hat. Dazu kommen eine Chronik der Ereignisse sowie Dokumente, die uns für das Verständnis des Geschehens wichtig erscheinen und, nicht weniger wichtig, Gedichte. Dieses Buch ist Geschichtsschreibung des Augenblicks.
Die Herausgeber*innen
DIE KRAFT DES UNWISSENS
Iryna Herasimovich
Für Ute Siebert
„… es ist diese Offenheit, oder dieses noch nicht Geschlossene,
was das Bild so lebendig macht …“
Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche. Edvard Munch und seine Bilder
Immer wieder lege ich diesen Essay beiseite und schreibe einen anderen Text, ein Tagebuch, in dem ich mir alles erlaube. Da bin ich mal böse, mal erfreut, mal enttäuscht, mal neidisch oder begeistert. Einiges aus dem Tagebuch sickert auch in diesem Text durch, allerdings nicht alles, die Selbstzensur ist in den letzten Monaten enorm. Nicht wegen des staatlichen Systems. Dass man da nie weiß, welche Regeln gelten und wann man sie bricht, daran habe ich mich schon längst gewöhnt. Die Selbstzensur ist vielmehr mit der Vorsicht verbunden, etwas falsch gesehen und interpretiert zu haben, jemandem zu nahe zu treten, etwas unvorsichtigerweise zu zerbrechen, das womöglich noch gar nicht so gefestigt, aber sehr wertvoll ist.
Eigentlich ist es für mich noch zu früh zum Schreiben, ich würde gerne Feldforschungen betreiben, beobachten und fixieren, was ich sehe und fühle. Im Moment ist es gar nicht so selbstverständlich festzuhalten, was man wirklich fühlt. Immer wieder bekommt man tolle Bilder und Videos zu sehen, in denen alles so klar ist: da die Bösen, die Dunklen, die Verkörperung der Gewalt und Dummheit, hier die Reinen und Guten, alles entweder schwarz oder weiß-rot-weiß, „keine Schattierungen dazwischen“, wie es in einem der Protestlieder heißt. Und man atmet erleichtert durch, in den ersten Sekunden zumindest, dann kommen Fragen und Zweifel hoch, gleich von der Scham begleitet, wie kann ich es nur wagen, das Gute und Schöne zu hinterfragen. Es ist doch so klar: da die maskierten Männer, hier die weißen, barfüßigen Frauen mit Blumen, die „für ihre Männer“ auf die Straße gehen. Darf man denn überhaupt hinterfragen, welches Frauenbild dadurch vermittelt wird, ob dieses Bild nicht die bereits bestehenden patriarchalen Strukturen festigt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erst später. Vielleicht aber gerade jetzt. Ich weiß es nicht.
Ist es okay, wenn man die weiß-rot-weiße Fahne zwar ästhetisch schön findet und als sichtbaren Ausdruck des Protests sehr anziehend, aber sie nicht gerade überall um sich herum haben will? Fahnen lassen mich nämlich grundsätzlich ziemlich kalt. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendeine Fahne um die Schultern zu tragen. Gehöre ich dann immer noch zu den erwachten Belarusen? Gehöre ich dann zu diesem Wir, das siegen soll? Ich wünsche mir im Moment nichts sehnlicher, als dass wir siegen, komme aber nicht umhin, daran zu denken, wer denn genau dieses Wir ist und was „siegen“ bedeutet.
Ich kenne in Bewegung geratene Räume aus meiner Arbeit als Übersetzerin und weiß, wie gefährlich es sein kann, das scheinbar Offensichtliche nicht gründlich nach Bedeutungen und Konnotationen abgeklopft zu haben. Es kann sein, dass das Offensichtliche viel mehr Sinnschichten aufweist, als auf den ersten Blick sichtbar waren. Dann muss man zurück und von neuem im ganzen Text überprüfen, ob man alle Bedeutungen eingefangen hat. Und selbst dann ist man unsicher, ob man alles weiß.
Im Übersetzerberuf gehört das Zulassen des Unwissens, die Bereitschaft zu Wissenslücken zur Professionalität. Es fördert die Hellhörigkeit. Unwissen bedeutet nicht, dass man nicht handelt, das tut man durchaus, aber eben stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass jede Lösung überprüft werden muss. Man hält den entstehenden Text die ganze Zeit offen und tastet ihn in viele Richtungen ab. Das wünsche ich mir auch für den Neuanfang der belarusischen Gesellschaft. Derzeit fürchte ich mich vor Menschen, die genau zu wissen scheinen, was in Belarus passiert, wie gehandelt werden soll und was weiter kommt. Solche Menschen verteidigen ihre Ansichten oft ziemlich hart. Das gesicherte Wissen scheint nur in einem von jedem Hinterfragen gereinigten Raum überlebensfähig zu sein. Das vermeintliche Wissen, wer wie ist, führt dazu, dass es inzwischen gar nicht viel braucht, um das Label „Lukaschist“ oder „Lukaschistin“ angehängt zu bekommen. Es reicht schon, irgendwelche Aussagen oder Handlungen der Führerinnen oder Führer der Opposition in Frage zu stellen. Das ist mir auch schon passiert, als ich zum Beispiel kritisierte, dass Swetlana Tichanowskaja von dem „weisen Moskau“ spricht und nicht mit Fragen über die Krim gequält werden möchte. Ja, ich habe ihr meine Stimme als Protestkandidatin gegeben, die nichts als Freilassung der Gefangenen und Neuwahlen forderte. Dies unterstütze ich voll und ganz, aber darf ich mich jetzt etwa von keiner ihrer Äußerungen irritieren lassen?
Wenn man nichts hinterfragt, landet man doch ganz schnell auf dem gefährlichen Feld der einfachen und eindeutigen Antworten, die auch Lukaschenko seinerzeit der Gesellschaft angeboten hatte. Der Gesellschaft, die von der Wende und der auf sie eingestürzten Freiheit geplagt worden war, von der Offenheit eben und dem Unwissen, was richtig ist und was nicht. Da kam der vermeintlich starke Mann, einer aus dem Volk, der genau wusste, wer schuldig ist und bestraft werden sollte. Das scheint er bis heute zu wissen, nur dass die Gesellschaft aus dem Prokrustesbett seiner „väterlichen“ Sorge dermaßen herausgewachsen ist, dass es nicht mal ausreicht, die überstehenden Gliedmaßen abzuhacken, wie das der attische Räuber Prokrustes mit den Reisenden zu tun pflegte, denen er das Bett anbot. Die Gesellschaft ist aufgewacht und versucht jetzt mit aller Kraft, das Bett zu verlassen. Ich hoffe sehr, dass sie sich nicht mehr in ein wie auch immer geartetes neues Prokrustesbett zwingen lässt.
Es ist nicht leicht, bringt aber viel weiter, wenn man das Unwissen, die Koexistenz von mehreren Wahrheiten aushält, statt sich in eindeutige Antworten zu stürzen. Eindeutige und einfache Antworten erweisen sich ja allzu oft im besten Fall als realitätsferne Konstrukte, im schlimmsten als Täuschungen oder gar Lügen. Was aber wiederum nicht heißt, dass Eindeutigkeit ganz zu vermeiden ist. Wenn es zum Beispiel um die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und des menschlichen Lebens geht, sind Eindeutigkeit und Stringenz geboten. Und zwar in allen Fällen. Ja, wirklich in allen, auch in Bezug auf den OMON. Neulich habe ich mit einem Freund darüber diskutiert, ob es gut ist, dass es in Belarus immer noch die Todesstrafe gibt, ob sie auf die OMON-Leute angewandt werden müsste. Ich bin dagegen, unter anderem, weil ich nicht mehr in einer Gesellschaft leben will, wo es jemandes Beruf ist, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Wie soll man mit OMON und Lukaschenko verfahren, was soll die gerechte Strafe sein für all das Leid, das sie den Menschen zufügen? Das weiß ich nicht. Und ich bleibe erst einmal in diesem Unwissen, in alle Richtungen, auch in mein eigenes Inneres, nach Antworten tastend, in die Vergangenheit wie in die Zukunft. In der Vergangenheit finde ich beispielsweise eine Episode, die sich mir eingeprägt hat: Anfang der 2000er Jahre. Potsdam. Jugendbegegnung zum Thema Vergangenheitsbewältigung. Ein rumänischer Jugendlicher, etwa 18 Jahre alt, erzählt von der Hinrichtung Nicolae Ceauşescus. Er spricht mit großer Begeisterung darüber, wie froh und glücklich er über diese Hinrichtung ist. Mir wird unheimlich: Ich sehe einen Menschen, der nicht nur den Tod eines anderen wünscht, sondern darüber glücklich und froh ist. Wie sehr die Hinrichtung auch diesen Jugendlichen entstellt hat! Was bringt ihn in diese Stimmung? Ist das seine eigene Freude oder die des Kollektivs? Wie und wo werden individuelle Gefühle zu kollektiven und umgekehrt? Vielleicht dort, wo die Reproduktion von Symbolen, Gesten und Bildern einsetzt? Vielleicht bin ich deswegen so unsicher, wenn ich zum zigsten Mal das gleiche Lied höre oder den gleichen Satz, ich weiß dann nicht, wessen Aussage das genau ist. Wer die Verantwortung für diese Aussage trägt. Wem soll mein Vertrauen oder Misstrauen gelten? Wo ist die Grenze zwischen Solidarität und Gruppendruck? All das weiß ich auch nicht, zumindest nicht für alle Situationen. Jede Situation erkunde ich diesbezüglich neu. Daran bin ich auch dank meines Berufs als Übersetzerin gewöhnt: jeden Text neu zu erkunden, unabhängig davon, wie viele ich bislang übersetzt habe und was ich schon alles weiß.
Ob in politischen Krisen oder in der Pandemie – die Bereitschaft, die Unbestimmtheit auszuhalten und sich von den gewohnten Ansichten zu lösen, kann lebensrettend sein. Das Unwissen zuzulassen bedeutet nicht, dass man stehen bleibt, es bedeutet nur, dass man sich in kleinen Schritten bewegt, bis das echte Wissen sich einstellt, das zumindest für eine gewisse Zeit der Realität standhalten kann.
Das Unwissen hilft, die Realität, sich selbst und das Gegenüber wirklich kennenzulernen. David Bohm schreibt in seinem Buch Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen wie wichtig es für einen Dialog ist, alle Annahmen erst einmal in der Schwebe zu halten, um sie gründlich zu betrachten und dadurch einander kennenlernen zu können. Die Bereitschaft zum Nicht-Wissen ist außerdem eine wichtige Grundlage für einen unhierarchischen Austausch auf Augenhöhe. Diese Bereitschaft fehlt so häufig den Vertretern der belarusischen Macht. Die Machthabenden versagen auf allen Ebenen, wenn sie mit dem eigenen Un-Wissen konfrontiert werden. Ein Professor weiß, wie es in der Universität laufen soll, wie man Studentinnen und Studenten einschüchtert, aber wenn die Studenten sich nicht mehr einschüchtern lassen, fällt der Professor mit all seinem „Wissen“ in ein tiefes Loch und ist hilflos. Das belarusische System war jahrzehntelang in sich geschlossen, kaum für Veränderungen zugänglich. Die ganze Bewegung brodelte unter der Oberfläche, die nun aufplatzt. Die Gesellschaft ist jetzt geteilt: Ein Teil verschließt sich noch mehr, der andere ist offen, manchmal wie eine klaffende Wunde.
Schauen, beobachten, die Realität neu kennenlernen, ist harte Arbeit. Groß ist die Versuchung, die Realität zu erfinden statt sie kennenzulernen, im letzten Fall wird es oft wieder ambivalent. Wenn man diese Ambivalenzen wahrnimmt, kann man schwer in einem Atemzug hoch erhobenen Hauptes durch die Revolution marschieren, immer wieder ist man gezwungen, stehen zu bleiben, inne zu halten, die eigene Angst zu versorgen, zu überprüfen, was man sieht, und inwieweit es einem entspricht.
Der Prozess des Kennenlernens fängt jetzt in Belarus auf der gesellschaftlichen Ebene erst an. Die faszinierenden Hof-Communities, die zu wichtigen Plattformen der Selbstorganisation geworden sind, sind Aushängeschilder dafür. Da ist das neue Belarus, von dem so oft die Rede ist, zum Greifen nah: Zwischenmenschliche Begegnungen und Interesse an Kultur, Auftritte von Musiker*innen und Dichter*innen – das hält die Gesellschaft in Schwung, wie auch der Anblick von älteren Menschen und Menschen mit Behinderung, von denen manche zum ersten Mal so offen mit ihren Forderungen auf die Straße gehen. Das ist so atemberaubend, dass ich ab und zu gerne übersehe, dass es auch Menschen gibt, die mit der Revolution im Hintergrund nach einem hundertprozentig legitimen Hype für sich suchen. Ich schiebe erst einmal die Erkenntnis beiseite, dass Menschen in Chats von einigen Hof-Communities wegen „pessimistischer Haltung“ blockiert werden. Man weiß schon, dass Optimismus für eine Revolution unentbehrlich ist. Aber weiß man denn auch, wohin mit dem Pessimismus? Wohin sollen die blockierten Chat-Teilnehmenden denn mit ihren Zweifeln? Und wir dürfen nicht vergessen, dass gar nicht alle Mitbürger*innen in diesen Chats sind. Was ist mit den anderen? Gehören sie dann auch zu der neuen belarusischen Gesellschaft, oder bleiben sie außen vor? Was ist mit denen, die die Seiten wechseln und dies so selbstverständlich tun, als wären sie nie Teil des Systems gewesen? Was ist mit denen, die im Moment orientierungslos sind und einsam? Gehören sie zu diesem Wir, das siegen soll? Wie wird die Kommunikation mit ihnen aufgebaut? Das weiß ich auch nicht. Und ich möchte, dass die freudigen Optimisten das auch einmal nicht wissen und sich danach fragen, statt zu der schnellen Lösung der Blockade im Chat oder wozu auch immer zu greifen.
„Belarusen, ihr seid unglaublich!“ – den Satz aus der Wahlkampagne hört man immer noch oft. Man spricht davon, dass er eine psychotherapeutische Wirkung auf die Belarusen habe. Das bringt mich immer wieder aus der Fassung, denn Psychotherapie ist Arbeit, mit Tiefen und Höhen, wo das Fortkommen eher einer Bewegung im Kreis ähnelt: Immer wieder stolpert man über denselben Problemknoten, bis man ihn auflöst, um ein paar Schritte weiter am nächsten stehen zu bleiben. Mir ist deswegen ein Optimismus, der die Blockade braucht, höchst suspekt, auch in Zeiten der Revolution. Wir brauchen unbedingt Räume, in denen auch Zweifel zugelassen sind, Trauer, Wut, Enttäuschung und Angst, in denen Menschen nachholen können, was sie emotional in all den Jahren womöglich versäumt haben: nah an sich selbst und an den eigenen Bedürfnissen zu sein. Das sich-Ducken, Biegen und Bücken hat hierzulande eine lange Tradition. Das schüttelt man nicht in ein paar Monaten ab.
Fürst Myschkin wird bei Dostojewski von den „doppelten Gedanken“ geplagt, wenn einander ausschließende Dinge gleichzeitig zutreffend sind. Dadurch wird er am Handeln gehindert. Handeln dagegen kann Rogoschin, der nur von einem einzigen Gedanken besessen ist: Nastassja Filippowna zu bekommen. Muss man auf „doppelte Gedanken“ verzichten, um handeln zu können? Oder kann man sich sowohl die „doppelten Gedanken“ als auch die Fähigkeit zum Handeln bewahren? Beim Schreiben geht das ganz gut, so ist dieser und sind andere Texte für mich ein Einüben im Handeln ohne Verzicht auf „doppelte Gedanken“. In der Psychotherapie spricht man von der Verengung des Wahrnehmungshorizonts in Krisensituationen. Einer der möglichen Behandlungswege wäre, den Wahrnehmungshorizont zu erweitern, vielleicht auch durch das Zulassen der eigenen „doppelten Gedanken“. Aus diesem Grund scheint mir die Rolle der Kunst und Literatur so wichtig. Nicht nur der direkten Protestkunst, die die Stimmung schafft, sondern auch der Kunst und Literatur als ein Labor, in dem das tiefe Erkunden des Menschlichen legitim ist.
Eine enge Freundin von mir ist gerade schwer krank. Die Medikamente wirken nicht, die Ärzte suchen seit Monaten nach Lösungen, es bleibt aber ungewiss, wie viel Zeit sie noch hat. Neulich telefonierten wir lange, es war ein sehr lebendiges Gespräch mit Weinen und Lachen. Irgendwann sagte sie, dass sie gar nicht weiß, wie sie sich auf den Tod vorbereiten, was sie denken und tun soll. Sie hätte immer gedacht, man könne das Leben abschließen und jetzt sehe sie, dass das gar nicht geht. Ist denn nicht jedes Unwissen mit diesem letzten Unwissen verknüpft? Ist das womöglich der Grund, warum wir das Unwissen so oft mit Annahmen und Interpretationen zupflastern? Die Freundin sagt, wie wohltuend es ist, dass sie mir das sagen kann und ich ihr keine Ratschläge gebe. Im gemeinsamen Aushalten des Unwissens kommen wir uns sehr nahe.
Genau diese Erfahrung mache ich auch mit meinen Mitmenschen in Belarus. Die Gesellschaft in Belarus hat etwas ganz Wichtiges gewagt: eine Bewegung, ohne genau zu wissen, wohin sie führt. Eine Bewegung, die von der so wertvollen Erkenntnis über die Unzulässigkeit von Gewalt und Fälschungen getragen wird. Ich wünsche mir, dass diese Bewegung und somit die Offenheit möglichst lange anhalten, dass sie uns an Ikonen, Anführer*innen und Gruppendruck vorbeiführen, zu uns selbst und zu den in uns selbst gefundenen oder gewachsenen Werten, an denen wir uns orientieren können. Dann werde ich bestimmt zu dem Wir gehören, das gesiegt hat. Dann kann ich womöglich auch den Tagebuchtext veröffentlichen, ohne jemanden in seinem Optimismus zu stören.