Buch lesen: «Ausgesprochen reformiert»

Schriftart:

Ausgesprochen

reformiert

Predigten

Herausgegeben von Simon Butticaz, Line Dépraz, Gottfried Wilhelm Locher und Niklaus Peter

TVZ

Theologischer Verlag Zürich


Der Schweizer Predigtpreis ist ein Projekt des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Die den Predigten vorangestellten Bibelstellen werden nach der Zürcher Bibel (2007) zitiert

© 2007, Zürcher Bibel/Theologischer Verlag Zürich.

Umschlag: Simone Ackermann

ISBN 978-3-290-17775-1 (Buch)

ISBN 978-3-290-17224-4 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2014 Theologischer Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Die französische Version erscheint gleichzeitig bei Les Editions Labor et Fides: Prédications. Un best of protestant. Prix Suisse de la prédication 2014, ISBN 978-2-8309-1563-1

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung von Niklaus Peter Zu den prämierten deutschsprachigen Predigten

Predigtpreis Caroline Schröder Field Elia in der Wüste Predigt zu 1. Könige 19,4–13a

Sonderpreis Manuela Liechti-Genge Wasser des Lebens Predigt zu Johannes 4,4–19

Stefan Weller Verschieb’ dein Leben nicht auf morgen! Predigt zu Jeremia 29,1–14

Martin Dürr Ihr seid ein Brief Christi Predigt zu 2. Korinther 3,2–9

Pascale Rondez Aufwachen Predigt zu Epheser 5,8–14

Verena Salvisberg Es muss doch mehr als alles geben Predigt zu Matthäus 6,33 und zum Märchen vom Fischer und seiner Frau |6|

Maja Peter Wo sich Gott verbirgt Predigt zu Genesis 1,1–3,24 und Klaus Merz‘ Gedicht «Licht»

Ruedi Bertschi Mit dem Pharisäer Freund werden Predigt zu Lukas 18,9–14

Andreas Bruderer Heil und Heilung Predigt zu Markus 9,17–27

Thomas Grossenbacher Ich lasse dich nicht Predigt zu Genesis 32,23–32

Einleitung von Line Dépraz Zu den prämierten französisch-und italienischsprachigen Predigten

Predigtpreis Isabelle Ott-Baechler Das Unkraut nicht ausreissen … Predigt zu Mt 13,24–30

Luc Badoux Staunen angesichts der Auferstehung Predigt zu Lukas 24,36–48

Marco Di Pasquale Felix culpa – Das Evangelium der Schlange Predigt zu Genesis 2,15–17 und 3,1–13 |7|

François Lemrich Tamar – Erzählen, wovon man nie erzählt! Predigt zu Gen 38,1–30

Etienne Rochat-Amaudruz Das Glaubensbekenntnis meiner Salate – Wenn Jesus «ego eimi» sagt Predigt zu Johannes 6,35

Predigerinnen und Prediger

Herausgeberin und Herausgeber

Jury für die deutschsprachige und rätoromanische Schweiz

Jury für die französisch- und italienischsprachige Schweiz |8|

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Gottfried Wilhelm Locher, Präsident des Rates, und Simon Butticaz, Projektleiter des «Predigtpreises»

Vorwort

Aus dem Französischen übersetzt von Monika Carruzzo

«Also kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber geschieht durch das Wort von Christus.» (Röm 10,17) In diesem Zitat des Apostels Paulus wird die besondere Berufung sichtbar, die mit dem Predigen verbunden ist. Die Verkündigung ist unglaublich wichtig für die Entstehung des Glaubens. So verstehen es zumindest die Kirchen der Reformation. Sie sage: Der Glaube entwickelt sich aus dem Hören (ex audito), und die Kirche wird durch das Wort geschaffen (creatura Verbi). Nach Martin Luther zeichnet sich der Christ dadurch aus, dass er Ohren hat («habere aures»)1!

Predigen, die lebendige Stimme des Evangeliums verkünden, ist demnach nicht optional, sondern im Gegenteil ein konstitutives Amt der gläubigen Gemeinde, ein zentrales Wesensmerkmal (eine nota ecclesiae). Denn ohne öffentliche Verkündigung des Gotteswortes stirbt der Glaube und die Kirche verschwindet. Daher hat das Predigtamt in den reformierten und lutherischen Kirchen einen unantastbaren Status erlangt. Wird diese Funktion an einen Pfarrer oder an eine Pfarrerin delegiert, so werden diese damit zu Dienern am göttlichen Wort – zu Verbi divini ministri, was zu V. D. M. abgekürzt in der deutschsprachigen Tradition dem Vornamen und Namen des Pfarrers oder der Pfarrerin angehängt wird.

Infolgedessen ist auch verständlich, dass es der französische Protestantismus kurz nach Widerrufung des Ediktes von Nantes (1685) für nötig befand, die besondere Aufgabe der Verkündigung Laienpredigern, die manchmal auch «Prädikanten» |10| genannt wurden, anzuvertrauen. Louis XIV. hatte die ekklesiologische Eigenart der Hugenotten nicht erkannt und geglaubt, die Kirche führungslos zu machen, als er ihre Pfarrer ins Exil schickte: Aber Kirche in der protestantischen Tradition basiert nicht auf einem institutionalisierten Klerus, sondern auf der getreuen Verkündigung des Wortes! Oder, wie es das Zweite Helvetische Bekenntnis in einer klassisch gewordenen Formulierung ausdrückt: «[…] wir lehren aber, jene sei die wahre Kirche, bei der die Zeichen oder Merkmale der wahren Kirche zu finden sind: vor allem die rechtmässige und reine Verkündigung des Wortes Gottes […]»2.

Dennoch, angesichts der heutigen Krise der historischen Kirchen gibt es viele Stimmen, welche die Kommunikation des Evangeliums in Frage stellen. Die Predigten seien zu intellek­tuell, zu lang, zu kompliziert, zu abstrakt, sie sollten ganz einfach ausrangiert werden. Die gewonnene Zeit und Energie solle man besser in die Gemeindearbeit investieren, in soziale Aktionen oder seelsorgerliche Begleitung. Dieser scharfe Angriff auf die Predigt überzeugt uns nicht, denn gerade Krisenzeiten erfordern aufbauende und ermutigende Worte. Die Geschichte des Christentums kennt unzählige Beispiele dafür, wie einige Worte ausreichen, um den Glauben eines Menschen zu wecken oder die Kirche wieder aufzurichten. So etwa die Jünger von Emmaus, die am Ostermorgen Christus zuhören und sich von seiner «Predigt» packen lassen (Lk 24,13–35), Martin Luther, der bei der Lektüre von Römer 1,17 sieht, wie sich die Tore des Paradieses öffnen, oder auch Karl Barth, der bei der Analyse des Römerbriefes das Wort Gottes als Antwort auf die homiletische Krise seiner Zeit wiederentdeckt.

Bei näherer Betrachtung dieser Porträtgalerie gelangt man zu der Überzeugung, dass die Predigt weder ein theologischer Diskurs noch eine moralische Lektion, sondern ein Sprach- bzw. Wortereignis ist, um mit der Terminologie von Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling zu sprechen. Ein Ereignis, das gleichzeitig anredet und etwas bewirkt. Genauer gesagt: In und mit den Worten |11| des Predigers kann Gott selbst zu Worte kommen und den Menschen ansprechen. Folglich ist die Predigt für die Kirchen und die Gesellschaft eine Chance – heute vielleicht mehr denn je. Eine Gelegenheit, von dem zu sprechen, was uns leben, hoffen und lieben lässt, sich von Gott ansprechen und verwandeln zu lassen, um seinem Ruf in der Welt besser folgen zu können.

Diese Überzeugung liegt der vorliegenden Sammlung zugrunde. Das Buch, dessen Lektüre Sie sich vorgenommen haben, ist eine kleine, aus fünfzehn Predigten bestehende Anthologie. Sie ist entstanden im Rahmen des ersten «Schweizer Predigtpreises», der 2014 vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) ausgeschrieben wurde. Es sind fünfzehn von zwei Jurys3 sorgfältig ausgewählte Predigten. Exegetische Festigkeit, rhetorische Stärke, theologische Konsistenz und existentielle Bedeutung zeichnen sie aus. Fünfzehn Predigten, die einen kleinen Einblick in die grossartige Vielfalt des Schweizer Protestantismus und seiner «Orte des Wortes» (Sonntags- oder Kasualgottesdienste, Gemeinden in Stadt und Land, Radiopredigten usw.) sowie seiner Akteure geben (Männer und Frauen, Pfarrer und Diakone, Theologinnen und Nichttheologen usw.). Wir hoffen, dass diese fünfzehn Predigten durch das Wirken des «inneren Lehrers»4, des Heiligen Geistes, zu einer Heilszusage für Sie werden.

1 WA 3,228,13ff.

2 Heinrich Bullinger, Das zweite Helvetische Bekenntnis. Confessio Helvetica Posterior, Zürich 1966, S. 82.

3 Jury für die deutschsprachigen und rätoromanischen Regionen: Niklaus Peter, Präsident; Ivana Bendik; Walo Deuber; Chatrina Gaudenz; Ralph Kunz; David Plüss. Jury für die Romandie und das Tessin: Line Dépraz, Präsidentin; Didier Halter; Simona Rauch; Kristin Rossier Buri; Paolo Tognina.

4 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Chris­tia­­nae Religionis, Neukirchen-Vluyn 20123, S. 291.

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Niklaus Peter, Präsident der Jury für die deutschen und rätoromanischen Predigten

Zu den prämierten deutschsprachigen Predigten

Ein Anliegen des «Schweizer Predigtpreises» war es zu zeigen, dass es hierzulande eine lebendige Predigtkultur gibt. Keineswegs sollte es darum gehen, eine Superpredigerin oder einen Superprediger aufs Podest zu heben, gewissermassen eine theo­logische «Voice of Switzerland» zu küren, vielmehr darum, die Vielfalt dieser Predigtkultur sichtbar zu machen: Deshalb dieses Buch mit dem schönen Titel «Ausgesprochen reformiert». Ein Wettbewerb schliesslich, in dem es nicht um die Einführung unguter «Rating»-Moden gehen sollte, sondern um Gespräche über gute Predigten. So wie Literaturwettbewerbe das Gespräch darüber fördern, was gute Literatur ist.

Wertungen sind unabdingbar, aber auch heikel. Deshalb braucht es Transparenz. Die vom SEK berufene Jury – wir sprechen hier nur von der Jury für die deutschen und rätoromanischen Predigten – war folgendermassen zusammengesetzt: Ralph Kunz und David Plüss, beide Professoren für Homiletik, die Studierende in die Kunst des Predigens einführen; Chatrina Gaudenz, Religionswissenschafterin/ Radiojournalistin, und Walo Deuber, Germanist/Filmemacher – zwei Nichttheologen, die sich professionell mit dem Thema sprachlicher Kommunikation befassen; schliesslich zwei Pfarrpersonen, Ivana Bendik und Niklaus Peter, die selber regelmässig predigen.

Alle 181 eingesandten Predigten deutscher Sprache wurden uns, das war unser expliziter Wunsch, vom SEK vollständig anonymisiert auf Papier zugeschickt, und das heisst: |14| alle Hinweise auf Orte, Gemeindespezifika und Personen, die Rückschlüsse erlaubt hätten, waren auf den Kopien verdeckt. In drei mehrstündigen Sitzungen haben wir uns zuerst auf Kriterien für eine Beurteilung verständigt, danach die zum Teil abweichenden Bewertungen diskutiert und revidiert. So haben wir uns schliesslich einstimmig auf einen Hauptpreis, auf den Sonderpreis und auf die acht weiteren preiswürdigen Predigten geeinigt, die hier ex aequo zusammen mit den fünf von der französisch-/italienischsprachigen Jury ausgewählten und übersetzten Predigten publiziert sind.

Die sechs für uns leitenden und auf einem Blatt ausführlicher beschriebenen Kriterien waren folgende: a) Ist die Predigt gut gebaut? b) Spricht sie persönlich und aktuell an? c) Eröffnet die Predigt neue Perspektiven, lernt man etwas? d) Ist der Bibeltext ernstgenommen, wird er ausgelegt? e) Hat die Predigt eine prägnante, theologische Botschaft? f) Bringt die Predigerin, der Prediger sich authentisch ein?

Als die Zahl der Einsendungen kontinuierlich auf schliesslich 181 anwuchs, wurde uns etwas mulmig zumute. Berichtet nicht Jacob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» von jenem englischen Historiker, der über dem Lesen schottischer Puritaner-Predigten eine akute Gehirnlähmung bekommen habe? Nun, diesbezügliche Befürchtungen legten sich schnell, denn die Lektüre der eingesandten Predigten war über weite Strecken eine schöne und erfreuliche Sache, die Schwierigkeit eher, nur 10 preiswürdige auszuwählen.

Der Schweizer Predigtpreis 2014 geht an Caroline Schröder Field für ihre Elia-Predigt, die uns durch ihre klare narrative Linie, durch ihre theologische Prägnanz und seelsorgerliche Tiefe beeindruckt hat, mit der die Geschichte Elias, des kämpferischen Propheten, erzählt wird. Wie dieser sich mit seiner ganzen Existenz für die Achtung des ersten Gebotes einsetzt. Wie er dabei aber eine Grenze überschreitet, jene zwischen Gottesgewissheit und Machtmissbrauch, und dann in eine Krise gerät. |15| Mit feiner Aktualisierung beschreibt Schröder Field diese als eine Erschöpfungsdepression, als ein Zusammenbrechen aller Gewissheiten und alles Gotteseifers, als einen Gang in die Wüs­te (1Kön 19,4–13a), wo der Prophet mit sich und Gott alleine ist, ihm nun auf eine andere, berührende, geheimnisvolle Weise im Gebet neu nahekommt. Und dann Stück für Stück zurück auf den Lebenspfad geführt wird bis zu dem Punkt, wo Elia Gott selbst in einem zärtlichen Flüstern, in einer «Stimme verschwebenden Schweigens» (so Bubers Übersetzung) begegnet. Bewegend, wie die Predigerin dann ganz persönlich fortfährt: «Darum glaube ich von Elia her dies: Gott ist da am dichtesten bei uns, wo unser zerbrochenes Herz zwischen Leben und Tod schwebt. Denn da – im Schwebezustand zwischen Leben und Tod – wird es empfindlich für eine ganz feine Berührung, abseits vom Lärm der Rechthaberei und abseits vom triumphierenden Gefühl, Gottes Willen zu vollstrecken.» Und eindrucksvoll, wie sie zum Schluss eine Brücke zum Abendmahl und zur Verklärungsgeschichte schlägt, und damit zum Kern dessen, was in einer evangelischen Kirche bedacht und gefeiert wird.

Biblische Texte auslegen heisst nicht über sie zu dozieren, sondern ihrem Erzählsinn vertrauen, bei ihren Bildern verweilen, deren Kraft und Tiefe sichtbar und auf Lebenserfahrungen hin transparent machen. Das ist Manuela Liechti-Genge in ihrer Predigt über die Begegnung Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,4–19) besonders gut gelungen, weshalb ihr der Spezial­preis Radiopredigt zugesprochen wird. Gedanklicher Ausgangspunkt ihrer Predigt ist ein oft überlesener Halbsatz im Text «Herr, du hast kein Schöpfgefäss», bei dem die Predigerin verweilt, weil dieser Krug in der Hand der Frau ihr zum Bild für den Lebensdurst der Samaritanerin wird, für jene Sehnsucht nach erfülltem Leben und gestilltem Lebensdurst, nach wirklichem Lebenswasser. So gelingt es der Predigerin, diesen johanneischen Text mit seiner vielschichtigen Symbolik in einer ruhigen, klaren Sprache lebendig werden zu lassen, diesen Brunnen mit seiner Quelle gleichsam zum Sprudeln zu bringen.

|16| Stefan Wellers Predigt packt einen zivilreligiös durch Bettags-Übernutzung gefährdeten Text («Suchet das Wohl der Stadt» Jer 29,7) so überraschend neu an, dass seine lebenspraktische Botschaft zum Leuchten kommt. Nach einem Einstieg bei Alltagskrisen, wie wir sie alle erleben, vermittelt er anschaulich, welch extreme Krisenerfahrung und Glaubensverunsicherung das Babylonische Exil im Jahr 587 gewesen sein muss, wie Verzweiflung, Verdrängung und illusorische Heilsversprechungen die Gemeinschaft jüdischer Exilierter damals geschüttelt haben müssen, wie überraschend deshalb die Botschaft Jeremias an sie: «Verschiebt euer Leben nicht auf ein illusionäres Morgen […] Bleibt nicht auf den Koffern sitzen, packt sie aus und lebt euer Leben im Exil.» Weller deutet dann eine weltgeschichtliche Linie von Jeremias Brief bis zur heutigen Diaspora der Juden an, und zieht darauf eine gegenwartsdiagnostische Linie zur «provisorischen Daseinshaltung» (Viktor Frankl) vieler heutiger Menschen. Eine lebendig geschriebene Predigt, in der man einiges lernt und zugleich auf eine positive Weise nachdenklich wird.

Die Briefe des Apostels Paulus, seine Worte und Sprachbilder sind oft schwer verständlich. Was soll etwa seine Aussage «Ihr seid ein Brief Christi» (2Kor 3,2–9) genau bedeuten? Martin Dürr wählt einen humoristischen Einstieg und führt vor Augen, was aus der Kombinatorik von 26 Buchstaben so alles entstehen kann, vom Telefonbuch hinauf bis zum Sonett und hinunter bis zum blöden SMS, um dann deutlich zu machen, welche Form liebevoller Zuwendung ein Brief sein kann. Und darauf entfaltet er die paulinische Aussage mit der Pointe, dass Christen sich – trotz aller Fehler – als Liebesbriefe Gottes verstehen sollten, und was sich verändern könnte, wenn man diese nicht mit Tinte, sondern mit dem heiligen Geist uns eingeschriebene Botschaft wirklich lebt, sie brieflich oder sonst wie an andere Menschen weitergibt.

Dogmatische Kernaussagen wie die Botschaft von der Auferstehung werden gepredigt selten aussagekräftig, sie bleiben |17| oft im Modus der Behauptung. Deshalb setzt Pascale Rondez mit ihrer Predigt über das Wort «Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten» (Eph 5,14) bei der Erfahrung des Aufwachens ein, wie der Bibeltext sie selbst evoziert, um dann zu einer ruhigen, klaren Meditation einzuladen, was ein «Aufwachen ins Leben» bedeuten könnte. Dabei reflektiert sie sehr behutsam, welche Kraft, aber auch welche Gefahren darin stecken, dass der Text uns als «der Finsternis Entrissene» anspricht: Gefahren eines christlichen Moralismus, der nur in schwarz-weiss denken kann und deshalb diskreditiert ist; welch gute Zumutung trotzdem darin liege, über Moral, über Leiden und Ungerechtigkeit in offener Weise zu sprechen, und so als unvollkommene, aber hoffende Menschen «wieder und wieder aufzuwachen ins Leben und aufzustehen aus Tod und Gleichgültigkeit.»

Das Wort Hochdeutsch suggeriert, dass der gesprochene Dialekt niedriger einzustufen sei, dass er weniger tauge und deshalb für Gottesdienste und Predigten zu meiden sei, genauso wie man von einer Beiziehung volkstümlicher Märchen doch bitte absehen möge. Verena Salvisbergs Dialektpredigt über das Wort «Trachtet zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden» (Mt 6,33) widerlegt beide Vorurteile. Sie schreibt in einem kraftvollen, anschaulichen Berndeutsch, und sie zieht auf eine erhellende Weise das bekannte Grimm’sche Märchen vom Fischer und seiner Frau bei, um über Lebensfülle und Mangel, über Gier und Unersättlichkeit, über Prioritäten im Leben und über politische Zusammenhänge nachzudenken. So gelingt es ihr, das bekannte Jesuswort aus moralischen Fehllektüren zu befreien. Dabei fällt nicht nur auf das Bergpredigtwort, sondern auch auf das Märchen ein überraschendes Licht, das plötzlich von Gottes Wesen, von seiner Armut und seinem Reichtum zu sprechen beginnt.

«Um über Gott zu reden und zu schreiben, braucht es eine lebendige Sprache», schreibt die Schriftstellerin Maja Peter. |18| Und legt in ihrer Schriftstellerinnen-Predigt über die Anfangsgeschichten im Buch Genesis (Gen 1,1–3,24) den Beweis vor, wie eine literarische Befragung den biblischen Text hell werden lässt, wie eine unvoreingenommene Neulektüre Fragen weckt: Fragen nach unserem Menschsein, nach der Kraft wirklicher Worte, nach dem Sinn von Literatur, nach Gott, auch Gottes Frage nach uns. Maja Peters Lektüre ist anzumerken, dass sie keine falsche Unmittelbarkeit sucht, dass sie theologische Kommentare studiert hat, dass sie aber genau das tut, was Literatur tut: nämlich der Sprache vertrauen und misstrauen, und also selber Wege und Worte suchen zwischen Allmachtsphantasien und Ohnmachtserfahrungen. Und grossartig, wie ein Klaus Merz-Gedicht den Resonanzraum ihrer Reflexion bildet, ohne dass der Text selbst zitiert oder ausgelegt würde.

In entwaffnender Offenheit sagt Ruedi Bertschi zu Beginn seiner Predigt über den übelbeleumdeten Pharisäer und den Zöllner im Tempel (Lk 18,9–14): «Ich will euch den Pharisäer heute Morgen so richtig lieb machen». Nicht nur, weil er selber auf «pharisäischen» Pfaden gewandelt sei und versucht habe, ein wirklich frommer Mensch zu sein, sondern weil die Pharisäer diese pauschale negative Presse einfach nicht verdienten: Denn sie hätten das Wort Gottes ernstgenommen, hätten Syn­agogen, Bibelschulen für Kinder und Erwachsene gegründet; ohne ihre gelebte Frömmigkeit, ohne ihre Leidenschaft für die Heilige Schrift wäre das Alte Testament nach den Wirren der Tempelzerstörung untergegangen. Im zweiten Teil der Predigt erzählt Bertschi dann von den Schattenseiten solch ernsthafter, leistungsorientierter Frömmigkeit, von der Überheblichkeit, von der Verachtung unfrommer Menschen, und von seiner eigenen tiefen Depression: eine Erfahrung, die ihn durchgeschüttelt, damit aber zugleich auch geheilt und gereinigt habe. Diese Predigt hat uns durch ihre Offenheit und Wärme, durch ihre persönliche und narrative Theologie überzeugt.

«Warum sprichst du so wenig von Gott und vom Glauben? Du bist doch Pfarrer!» Andreas Bruderer steigt mit dieser an |19| ihn persönlich gerichteten Frage ein, um im Kontext eines Heilungsgottesdienstes über Glauben und Unglauben, Vertrauen und Zweifel zu sprechen. Er tut dies in Auslegung der Geschichte vom Vater, der zu Jesus kommt, ihn um die Heilung seines kranken Knaben bittet und sagt: «Ich glaube, hilf meinem Unglauben» (Mk 9,17–27). Eine eindrücklich ehrliche Predigt über die Urform des Glaubens, der keine Leistung, sondern nur Bitte und Geschenk sein kann, und zugleich eine Auslegung, welche diese Wundergeschichte nicht als Mirakel deutet, sondern als eine Geschichte des Wegs vom Unglauben zum Glauben.

Im Rahmen eines Musikgottesdienstes über die Bachmotette «Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn» entwickelt Thomas Grossenbacher eine eindringliche Interpretation der Geschichte von Jakobs Kampf (Gen 32,22–32) – eindringlich in ihren biblischen Bezügen, welche bis in familiengeschichtliche Verbindungen hinein Jakobs Motive und Erfahrungen freizulegen versucht, eindringlich auch, wie der Ausleger Johann Sebastian Bachs musikalische Deutung und eine neuere Theaterinszenierung beizuziehen weiss, um schliesslich eine auf Christus bezogene Deutung vorzuschlagen. Eine Predigt, deren Stärke es ist, dass sie zu intellektueller Reflexion anregt, eine Stärke überdies, dass in ihr die Auslegungsgeschichte als Vertiefung zur Sprache kommt und dabei neue Zugänge öffnet.

Ziel des Schweizer Predigtpreises war es, eine lebendige Predigtkultur sichtbar zu machen – die hier vorgelegte Auswahl repräsentiert nur eine kleine Minderheit dieser Kultur. Wir als Jury jedenfalls waren beeindruckt von der Diversität der Stimmen, von der Qualität und Leidenschaft, mit der gepredigt wird. Und erfreut, als wir schliesslich die Namen erfuhren und realisierten, dass die drei Hauptpreise an Frauen gehen. Denn wir gehören zu den wenigen Kirchen, in denen Frauen ihre Stimme als vollberechtigte Predigerinnen erheben und als gleichwertig anerkannte Seelsorgerinnen und Gemeindeleiterinnen arbeiten können. |20|

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