Buch lesen: «Aktive Gewaltfreiheit»

Schriftart:

Margit Eckholt / Georg Steins (Hg.)

Aktive Gewaltfreiheit

Theologie und Pastoral

für den Frieden

Margit Eckholt

Georg Steins (Hg.)

Aktive Gewaltfreiheit

Theologie und Pastoral

für den Frieden


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2018

© Echter Verlag GmbH

www.echter.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04441-1

978-3-429-04964-5 (PDF)

978-3-429-06384-9 (ePub)

Inhalt

Vorwort

Norbert Mette: Friedensfördernde Ressourcen in den monotheistischen Religionen

Georg Steins: „Seid auf das Ganze bedacht!“ Zu den biblischen Grundlagen kreativer Gewaltfreiheit

Rauf Ceylan: Der gewaltbereite Salafismus als Herausforderung

Susanne Klinger: Plurale Wahrheit

Margit Eckholt: Verwundbarkeit und Compassion. Friedenstheologische Überlegungen in interkultureller Perspektive

Judith Könemann: Friedenspädagogik – eine relevante Kategorie religiöser Bildung

Egon Spiegel: Gewaltfrei Welt gestalten. Friedenspädagogische Perspektiven

Jörg Ballnus und Dorothea Reininger: „Es ist der einzige Weg zum Frieden!“ Religions-kooperativer Religionsunterricht als Beitrag zu Frieden und Verständigung? Ein islamisch-katholisches Gespräch zwischen zwei Praktiker/inne/n

Elisabeth Naurath und Katrin Binder: Tiergestützte Friedenspädagogik. Argumente für eine bislang unentdeckte religionspädagogische Perspektive

Ulrich Kuhnke: Verkörperung des Friedens. Ein biblischer Impuls für Gewaltfreiheit in der Geburtshilfe

Rita Burrichter: Vierfach hinsehen: drängende Fragen – keine vorschnellen Antworten. Kunst als Konfliktlösungspotenzial?

Elmar Kos: Digitalisierung als Herausforderung der christlichen Friedensethik

Sonja Angelika Strube:

Mit Gottvertrauen gegen Rechtspopulismus. Religiösen und politischen Autoritarismus überwinden als pastorale Aufgabe

Manfred Eder: Gewalt gegen Päpste. Ein kleiner Streifzug durch die Kirchengeschichte

Veronika Prüller-Jagenteufel:

Der Friede Christi triumphiere in euren Herzen. Gemeinschaft leben in Kirchengemeinden von heute

Verzeichnis der Abkürzungen

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Ohne zu übertreiben lässt sich im 100. Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges feststellen: Die Weltlage ist ernst! Wir beobachten immer weiter ausgreifende kriegerische Konflikte zwischen Staaten, blockierte Demokratisierungsbemühungen in ganzen Regionen, die Auflösung der Ordnung bisher leidlich funktionierender Staaten, einen Zerfall des demokratischen Grundkonsenses und die Verschärfung gesellschaftlicher Auseinandersetzung selbst in unseren bisher so stabilen westlichen Ländern. Die Zunahme von Migrationsbewegungen ist eine Folge der beschriebenen Situationen, verschärfen diese aber zugleich. Der Klimawandel und die Bedrohungen der natürlichen Lebensgrundlagen, die letztlich auf den verschärften Kriegszustand der Menschheit gegenüber der Natur zurückgehen, werden die Probleme weiter anheizen. Es steht nicht gut um unsere Welt…

Das Christentum sieht sich in dieser Situation besonders herausgefordert: Umkehr, Frieden, Gerechtigkeit, ein gutes Leben („Heil“) für alle sind der Kern der christlichen Botschaft. Gegen die jahrtausendealte Fixierung auf Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten setzt das Christentum in einer Umkehr des Blicks auf Gewaltfreiheit. Diese ist Ziel und Handlungsmaxime zugleich. Eine lange Lerngeschichte, nicht zuletzt in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, hat geholfen, auch den schon in der Bibel zu verfolgenden Weg aus einem falschen Vertrauen auf Gewalt neu zu verstehen. Wenn „Gott“ immer wieder zur Legitimierung von Gewaltausübung in Anspruch genommen wird, wenn die monotheistischen Religionen sogar im nicht völlig unbegründeten Verdacht stehen, Gewalt habe sich im Kern ihres Gottesverständnisses eingenistet, wird die theologische Differenzierung und Klärung dringlich, aber ebenso der Aufweis und die Einübung praktischer Wege, die Leben und Zukunft öffnen.

Es gehört zu den grundlegenden Einsichten der Erfahrungen aus den auf Gewalt bewusst verzichtenden Widerstandsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts, dass die Mittel immer und ohne Ausnahme dem Ziel entsprechen müssen: Wer Gewaltfreiheit will, muss sich und sein Handeln aus den Zwängen der Gewalt befreien und Gewaltfreiheit befördern. Damit hängt eine zweite grundlegende und die Hoffnung befördernde Einsicht des so gewaltfixierten 20. Jahrhunderts zusammen: Die Überwindung der Gewalt gelingt nur als radikale, als an die Wurzel gehende Verwandlung, die bei den Engagierten beginnt und die „Feinde“ ein- und eben nicht ausschließt. Gewaltfreiheit ist das anspruchsvolle Gegenprogramm zu jeder Vernichtungsstrategie! Theologisch kommt eine dritte grundlegende Erkenntnis hinzu: Gewaltfreiheit ist – im theologisch strikten Sinne – schöpferisch, das heißt sie ist nicht gemacht, sondern gegeben. Alles gewaltfreie Handeln von Menschen ist nur möglich als eine Fortsetzung der von Gott längst begonnenen Umwandlung der Todeswelten in Räume des blühenden Lebens, wie es nicht zufällig gleich das erste Kapitel der Bibel erzählt.

Gewaltfreiheit ist kein exklusiv christliches Thema. Als globales Projekt führt der Einsatz für die Überwindung der Gewalt „wie von selbst“ alle Religionen, alle Menschen, die vom Willen zum Frieden beseelt sind, zusammen. Es ist die Ebene, auf der sich alle treffen, die Gott als „Freund des Lebens“ verehren, und ebenso der „Treffpunkt“ mit denen, die diese Liebe zum Leben unter anderen Namen als den Sinn ihres Daseins erkannt haben. Die Überwindung der immer todbringenden Gewalt ist das grundlegende und wichtigste inter- wie transreligiöse Thema, der ganzen Menschheit aufgegeben und sie verbindend. Es geht um nicht weniger als um das Leben selbst und die Zukunft aller Lebewesen.

Vor diesem zugegebenermaßen „dramatischen“ Horizont der Gefährdung und des Ringens sind die Beiträge dieses Bandes zu sehen. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven schildern sie Erfahrungen mit der Praxis der Gewaltfreiheit, entwickeln Ideen für Wege aus der Gewalt und formulieren Begründungen für diesen stets strittigen und prekären Weg zu einer heilvollen Zukunft für alle. Gewaltfreiheit zu einem globalen way of life zu machen, ist ein Aufgabe, an der sich alles entscheidet, eine Aufgabe, die alle neu und tiefer verbinden kann.

Wer über Gewaltfreiheit nachdenkt, wird schnell zu ihren „theologischen“ Grundlagen geführt und erkennt die pastoralen und pädagogischen Herausforderungen. So liegt es nahe, diese Beiträge der Osnabrücker Pastoraltheologin und Religionspädagogin Professorin Dr. theol. Martina Blasberg-Kuhnke zum 60. Geburtstag zu widmen; in ihrer theologischen Arbeit und als Koordinatorin der Osnabrücker Friedensgespräche war und ist sie dem Thema auf vielerlei Weise verpflichtet.

Der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Elisabeth Uebber danken wir für die umsichtige und sorgfältige Gestaltung der Druckvorlage, dem Echter Verlag für die gute Zusammenarbeit.

Osnabrück, im Frühjahr 2018

Margit EckholtGeorg Steins

Norbert Mette

Friedensfördernde Ressourcen in den monotheistischen Religionen

Vorbemerkungen

„Es ist unbestreitbar, dass alle monotheistischen Religionen das Potential in sich tragen, sowohl Frieden als auch Gewalt, Exklusion oder Integration zu fördern.“1 Das muss in Erinnerung behalten werden, um nicht allzu voreilig Religionen als Friedensfaktoren zu preisen. Gleichwohl soll es in den folgenden Überlegungen darum gehen, den möglichen friedensstiftenden und -fördernden Beitrag der Religionen, speziell der monotheistischen Religionen, zu erkunden, also gewissermaßen die zu ihrer gewaltsamen Seite umgekehrte Seite.

Meine Ausführungen beginne ich mit dem Christentum bzw. genauer mit dem Beitrag der einzelnen Christ/innen sowie christlicher Initiativen, Gruppen, Bewegungen in den Kirchen zum Frieden – zum einen weil ich selbst darin meine religiöse Heimat habe und mich hier einigermaßen auskenne, zum anderen aber auch weil ich meine, dass hier die konzeptionellen Vorstellungen am weitesten gediehen sind. Es folgt das Judentum, mit dem das Christentum zentrale Prinzipien teilt, um schließlich auf den Islam zu sprechen zu kommen.

Friedensressourcen im Christentum

„In Leben und Lehre Jesu Christi, in seinem Tod und seiner Auferstehung erkennen wir, dass Friede sowohl Verheißung als auch Gegenwart ist – eine Hoffnung für die Zukunft und ein Geschenk hier und jetzt. Jesus lehrte uns, unsere Feinde zu lieben, für unsere Verfolger zu beten und keine tödlichen Waffen zu benutzen. Der Friede, den er uns bringt, kommt im Geist der Seligpreisungen zum Ausdruck (Mt 5,3-11). Obwohl Jesus verfolgt wird, bleibt er standhaft in seiner aktiven Gewaltlosigkeit, sogar bis in den Tod. Sein Leben für die Gerechtigkeit endet am Kreuz, einem Werkzeug der Folter und Hinrichtung. Mit Jesu Auferstehung bekräftigt Gott, dass eine solch unerschütterliche Liebe, ein solcher Gehorsam und ein solches Vertrauen zu Leben führen. Das gilt auch für uns.“2

Komprimiert findet sich in diesen Sätzen aus dem ökumenischen Aufruf zum Gerechten Frieden aus dem Jahr 2011 die Friedensbotschaft des Neuen Testaments zusammengefasst. Eine doppelte Überzeugung kommt darin zum Ausdruck: Friede ist ein Geschenk, eine Gabe Gottes an die Menschheit. Aus diesem Geschenk erfolgt für die Gläubigen die Verpflichtung, diesen Frieden Gottes, soweit sie es vermögen, praktisch umzusetzen. Jesus Christus ist in seiner konsequenten Gewaltlosigkeit für sie die Verkörperung dieses Friedens und somit maßgebliches Vorbild – wobei die Haltung Jesu vor dem Hintergrund der Entwicklung des Friedensdenkens in seiner eigenen Religion, dem Judentum, zu sehen ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Frieden im Sinne des Neuen Testaments ist nicht bloß etwas, das als tröstlicher Ausgleich zu den im Diesseits zugestoßenen gewaltsamen Widerfahrnissen im Jenseits zu erwarten ist. Und er besteht auch nicht in einer quietistischen Einstellung, sondern verlangt konkretes Tun, das durchaus Konflikte provoziert. Der Epheserbrief spricht in diesem Zusammenhang durchaus kämpferisch von der „Waffenrüstung Gottes“, die es anzuziehen gilt (vgl. Eph 6,10-17). Wenn man sich diese Waffenrüstung jedoch genauer anschaut, wird einem das Antibild eines römischen Soldaten vor Augen gestellt: der Hüftgurt ist die Wahrheit, der Panzer die Gerechtigkeit, der Schild der Glaube, der Helm das Heil, das Schwert das Wort Gottes und das Schuhwerk die Bereitschaft für das Evangelium des Friedens – nach normalem menschlichen Ermessen die Wehrlosigkeit in Person schlechthin.

Wie kann das Evangelium des Friedens in einer Welt befolgt werden, die weiterhin von den Mächten des Bösen in Form von Gewalt, Krieg u.ä. beherrscht wird? Das war und ist die entscheidende Frage, vor die die Christenheit sich seit ihren Anfängen gestellt sieht. Die Antworten darauf sind im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich ausgefallen und haben zu einem Nebeneinander teilweise konträr zueinander stehender Einstellungen geführt, die sich teilweise noch gegenseitig verurteilt haben. Sie reichen vom Widerspruch und Widerstand gegen die bestehenden Gewaltsysteme – in letzter Konsequenz bis zum Martyrium – bis hin zu einem loyalen Arrangement mit der staatlichen Ordnung; und, wenn es möglich war, wurde daraus deren aktive Mitgestaltung aus christlichem Geist heraus. Die sog. „Friedenskirchen“ (Böhmische Brüder, Herrnhuter Brüdergemeine, Mennoniten, Hutterer, Quäker u.a.) stehen für einen entschiedenen Pazifismus, wie er ihrer Meinung nach in der vorkonstantinischen Christenheit maßgebliche Haltung war und der sich u.a. in der Ablehnung des Militärs zeigt, weiterhin in einer Distanz zum Staat und dem Einsatz von Friedensdiensten in Krisengebieten (Christian Peacemaker Teams). In Absetzung davon lassen sich die behelfsweise hier so genannten „Großkirchen“ von der Überzeugung leiten, dass angesichts der Tatsache, dass wir weiterhin in einer friedlosen Welt leben, es nicht nur erlaubt, sondern um des Dienstes an den von Gewalt und Krieg Betroffenen willen als „ultima ratio“ notwendig ist, „den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,1-7)“3. Im Zuge des Aufkommens der allgemeinen Friedensbewegung vor mehr als 100 Jahren haben sich auch innerhalb dieser Kirchen Gruppen und Vereinigungen gebildet, die einen kompromissloseren Friedenskurs seitens ihrer Kirchen einfordern und auf eine striktere Friedenspolitik drängen. U.a. ist es ihrem beharrlichen Einsatz zu verdanken, dass die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Großkirchen Anerkennung fand.

Ohne damit die Verfehlungen und die Schuld mindern zu wollen, die die Kirchen sich mit der Anwendung von Zwang und grausamster Gewalt bei der Verbreitung des Evangeliums oder auch mit dem Schweigen zu Verbrechen gegen die Menschheit auf sich geladen haben, können auch beeindruckende Beispiele dafür gebracht werden, wie sie zur Eindämmung von Gewalt beigetragen haben.4 Erwähnt sei etwa die mittelalterliche Institution der „treuga Dei“ (Waffenruhe Gottes) als zeitweilige Unterbrechung der herrschenden Gewalt oder die Handhabung von Streitschlichtungsverfahren durch die geistliche oder politische Obrigkeit („Gottesfrieden“). Mit der Schaffung eines völkerrechtlichen Bewusstseins in der beginnenden Neuzeit wurde den ungebändigten Eroberungsfeldzügen in den von den Europäern neu entdeckten Kontinenten zu begegnen versucht. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die Übernahme und Weiterentwicklung der in der antiken Ethik grundgelegten Lehre vom „gerechten Krieg“ zu erwähnen, die nicht – wie sie häufig missverstanden wird – der Legitimation von Frieden diente, sondern in einer Umwelt, in der Kriege gang und gäbe waren, Bedingungen angab, die einzuhalten sind, soll ein Krieg ethisch und rechtlich legitim sein: die Kriegserklärung durch eine legitime Autorität, das Vorliegen eines zulässigen Kriegsgrunds, die gerechte Absicht der Kriegsführenden, letztes Mittel zur Wiederherstellung der Rechtsordnung, Verhältnismäßigkeit der Reaktion und Aussicht auf einen Friedensschluss als Bedingungen des Rechts zum Krieg, ergänzt durch Verhältnismäßigkeit der angewandten militärischen Mittel sowie Schutz der Zivilisten als Recht im Krieg.5 Die Rolle, die solche rechtlichen Regulierungen zur Gewalteindämmung gespielt haben, ist nicht zu unterschätzen. Ebenso gilt es realistisch zu sehen, dass sie gegen Missbrauch nicht genügend gefeit waren.

Die Erfahrungen mit den beiden Weltkriegen im vergangenen Jahrhundert und das Aufkommen von technisch immer wirksameren Waffen bis hin zu Massenvernichtungsmitteln haben innerhalb der christlichen Kirchen einen Bewusstseinssprung hinsichtlich ihrer Verantwortung für den Frieden in der Welt ausgelöst. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ war gemeinsame Überzeugung der 1948 zur Gründungsversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen nach Amsterdam gekommenen Kirchenvertreter und sie haben dazu bekräftigt: „Krieg ist als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten unvereinbar mit den Lehren und dem Beispiel unseres Herrn Jesus Christus. Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen.“6 Die katholische Kirche hat sich dieser absoluten Ächtung des Kriegs 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil angeschlossen (vgl. Gaudium et spes 79–82 [GS 79–82]), wobei einschränkend „das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung“ (GS 79) anerkannt worden ist. Klar hat das Konzil „jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt“ (GS 80), als ein Verbrechen gegen Gott und gegen die Menschheit verurteilt sowie beklagt, dass der Rüstungswettlauf unerträglich die Armen schädigt (vgl. GS 81). Gefordert hat es die Einsetzung einer von allen anerkannten öffentlichen Weltautorität, „die über wirksame Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“ (GS 82).

Die Tatsache, dass mit dem „Fall der Mauer“ und dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht der erhoffte Weltfrieden eingekehrt ist, sondern sich seitdem allerorten in der Welt neue Brennpunkte entzündet haben, und dazu parallel verlaufende Bewusstseinsbildungsprozesse innerhalb der Ökumene (Konziliarer Prozess, Dekade zur Überwindung von Gewalt) haben zu einer Weiterentwicklung der christlichen Friedenstheologie und -ethik geführt, die sich um den Leitbegriff „Gerechter Friede“ bündelt.7 Ausdrücklich soll unter diesem Leitwort die Lehre vom „gerechten Krieg“ in eine heute zeitgemäße Friedenslehre überführt werden. Es gilt nicht länger die Devise „Si vis pacem, para bellum“ (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor), sondern „Si vis pacem, para pacem“ (Wenn Du Frieden willst, bereite ihm den Weg). Dabei ist, anknüpfend an das biblische Verständnis von Schalom8, ein umfassenderes Friedensverständnis im Blick als jenes, das nur auf die Abwesenheit von Krieg abhebt. Frieden wird in engsten Zusammenhang mit Gerechtigkeit gestellt (vgl. Ps 85,11; Jes 32,17; Röm 14,17). Der EKD-Denkschrift zufolge liegt die Bedeutung dieser Einheit als Inhalt göttlicher Friedensverheißung für menschliche Friedenspraxis darin, „dass sie das gängige Verständnis von Frieden von Grund auf neu orientiert: Friede im Sinn der biblischen Tradition bezeichnet eine umfassende Wohlordnung, ein intaktes Verhältnis der Menschen untereinander und zur Gemeinschaft, zu sich selbst, zur Mitwelt und zu Gott, das allem menschlichen Handeln vorausliegt und nicht erst von ihm hervorgebracht wird. Die biblische Rede vom Frieden beschränkt sich nicht auf die Distanzierung von kriegerischer Gewalt, auch wenn diese zu ihren Konsequenzen gehört (…) Friede und Gerechtigkeit interpretieren sich wechselseitig, weil in den biblischen Schriften auch die Gerechtigkeit mehr ist als eine abstrakte Norm oder ein bloßes Sollen. Im Alten Testament bezeichnet Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Menschen die Gemeinschaftstreue, in der die Geschöpfe dem Bund entsprechen, den Gott in seiner Gemeinschaftstreue mit ihnen geschlossen hat (…) Sie ist Kategorie einer sozialen Praxis der Solidiarität, die sich – der rettenden Macht Gottes entsprechend – vorrangig den Schwachen und Benachteiligten zuwendet. Die ‚bessere Gerechtigkeit‘, von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5,20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten) und sie berücksichtigt zugleich die relevante Verschiedenheit der Einzelnen in ihren Lebensbedingungen und -äußerungen.“9

Zusammenfassend wird im Begleitdokument zum erwähnten Ökumenischen Aufruf „Gerechter Friede“ wie folgt bestimmt: Er „versteht sich ganzheitlich. Er ist nicht nur die Abwesenheit von Konflikten und Krieg, sondern ein Zustand des Wohlergehens und der Harmonie, in dem alle Beziehungen zwischen Gott, der Menschheit und der Schöpfung in guter Weise geordnet sind.“10

Entsprechend weit ist das Feld, in dem Friedensbemühungen anzusetzen haben. Das Begleitdokument, aus dem gerade zitiert worden ist, führt folgende Bereiche an: „Für Frieden in der Gemeinschaft – damit alle Menschen frei von Angst leben können“ – „Für Frieden mit der Erde – damit das Leben erhalten bleibt“ – „Für Frieden mit der Wirtschaft – damit alle in Würde leben können“ – „Für Frieden unter den Völkern – damit Menschenleben geschützt werden“.11 Zu ergänzen wäre noch: „Für Frieden unter den Religionen – damit die Menschen sich nach ihrem Gewissen frei von jeglichem Zwang entscheiden und ihren Glauben praktizieren können“.

Die beiden Verlautbarungen der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland entfalten das Leitbild des gerechten Friedens schwerpunktmäßig mit Blick auf die sich daraus ergebenden politischen Weichenstellungen, die vorgenommen werden müssen, um sowohl auf innerstaatlicher als auch auf internationaler Ebene ein Mehr an Frieden, Freiheit und individueller, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu erreichen. Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang etwa die Bedeutung einer entsprechenden Rechtsordnung, die Schaffung eines Bewusstseins universaler Solidarität mitsamt deren Konkretion im Einsatz für globale Gerechtigkeit sowie der konsequente Einsatz für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Im Einzelnen werden die Bedeutung und Grenzen militärischer Maßnahmen erörtert. Die selbstkritische Aufarbeitung der jeweils eigenen Schuldgeschichte wird angemahnt. Insgesamt sind die Überlegungen und Vorschläge, die unterbreitet werden, von der Überzeugung getragen, dass eine radikale Umkehr im Denken und Handeln überfällig ist: Die insbesondere in Wirtschaft und Politik dominant gewordene, sich aber als selbstdestruktiv erweisende Logik der Machtsteigerung gilt es zu ersetzen durch eine auf Verständigung und Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit ausgerichtete Vernunft. Statt immer wieder nachträglich eingetretene Schäden zu beseitigen, gilt es, präventiv zu planen und entsprechende Vorkehrungen umzusetzen. Dabei spielen vertrauensbildende Maßnahmen eine große Rolle. Statt immer nur in eine noch größere Effizienz der Kriegsmaschinerie zu investieren, sollten die Waffenpotentiale ab- und die zivile Konfliktbearbeitung ausgebaut werden. Statt hinter Errungenschaften einer friedensfördernden internationalen Zusammenarbeit zugunsten der Verfolgung nationaler Interessen zurückzufallen, sind diese Institutionen zu stärken und vor allem mit wirksamer Zuständigkeit auszustatten.

Wie sehr eine biblisch inspirierte Perspektive eine grundlegende Umwälzung der herrschenden Denk- und Handlungsgewohnheiten beinhaltet, wird an der Entwicklung des Gottesbildes ersichtlich: JHWH offenbart sich immer klarer als der, der „auf der Seite der Opfer steht, nicht auf der Seite der gewalttätigen Sieger“12. Von daher richtet sich der Blick der an diesen Gott Glaubenden vorrangig auf die Opfer von Gewalt in jedweder Form von Krieg und Terror und lässt die jeweilige Situation der Welt „von unten her“, in Compassion und Solidarität mit den Betroffenen begreifen und angehen. Mit Verweis auf die bei der Gefangennahme Jesu von diesem an Petrus gegebene Anweisung, er solle sein Schwert in die Scheide stecken, weil alle die zum Schwert greifen würden, durch das Schwert umkämen (vgl. Mt 26,52), heißt es in der Erklärung der deutschen Bischöfe, dass wahre Solidarität in der Bereitschaft bestehen könne, „das Schicksal des anderen dort, wo man ihm nicht mehr helfen kann, wenigstens zu teilen“13. Dieses Ethos trage dazu bei, „die Logik der Gewalt nicht nur einzudämmen, sondern sie in einer entscheidenden Situation zu überwinden“14.

Doch bleiben solche wohlfeilen Ratschläge an die Politik, ihren Kurs im Sinne des Gerechten Friedens zu ändern, nicht Appelle, die ins Leere verhallen? Sind es nicht völlig gegenteilige Interessen, die die Tagesordnung der Welt bestimmen und die den überkommenen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt perpetuieren lassen? Anders gefragt: Welche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Politik gibt es überhaupt für solche vom Evangelium inspirierten Überzeugungen? Selbst in Parteien hinein, die sich als christlich verstehen, sind sie zunehmend schwieriger zu vermitteln.

Aufgrund ihrer immer noch gewichtigen gesellschaftlichen Verankerung haben die beiden Großkirchen in Deutschland die Möglichkeiten zu einer direkten und indirekten Einflussnahme, die sie auch nutzen. Dies geschieht etwa durch Lobbyarbeit auf den verschiedenen politischen Ebenen: Bundesland, Bund, Europa und Vereinte Nationen. Die in diesem Zusammenhang wohl engste Verflechtung der Kirchen mit dem Staat, speziell mit dem Verteidigungsministerium, ist mit der staatlich alimentierten (und deswegen innerkirchlich nicht unumstrittenen) Militärseelsorge gegeben; auch wenn sie vorrangig für die Angehörigen der Streitkräfte gedacht ist, stehen durch sie Kanäle offen, durch die kritische Vorbehalte seitens der Kirchen etwa gegenüber militärstrategischen Doktrinen geäußert werden können. Dazu trägt auch das in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge liegende Institut für Theologie und Frieden in Hamburg bei, das die Aufgabe hat, in theologisch-ethischer Perspektive Grundlagen menschlicher Friedensordnung zu erforschen und in den aktuellen friedenspolitischen Diskurs einzubringen. Auf evangelischer Seite gibt es in Heidelberg die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), übrigens eines der fünf Friedensforschungsinstitute, die jährlich ein Friedensgutachten erstellen.15 Daneben gibt es eine Reihe von Sachverständigengremien zu den verschiedensten Bereichen, die im Zusammenhang mit dem Leitbild des gerechten Friedens stehen. Zu nennen ist etwa auf Bundesebene die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE), die jährlich einen Rüstungsexportbericht veröffentlicht, in dem das Rüstungsexportgeschehen kritisch kommentiert wird. Auch mit Stellungnahmen und Diskussionen zu anderen aktuellen entwicklungspolitischen Themen tragen die Kirchen zur politischen Meinungsbildung bei. Der Initiative von der Sache überzeugter Christen ist es zu verdanken, dass es staatlicherseits zur Einrichtung und Unterstützung des zivilen Friedensdienstes gekommen ist. Eine wichtige und vorbildliche Rolle spielen des Weiteren die kirchlichen Hilfswerke wie Brot für die Welt, Misereor u.a. Hier und in vielen weiteren Gremien verfügen die Kirchen über einen Sachverstand, über den nicht einfach hinweggegangen werden kann. Zu erwähnen sind weiterhin auf katholischer Seite die in der Regel geheim durchgeführten diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls (Vatikanstaat), die oft genug zur Entschärfung von bedrohlichen Konflikten beigetragen haben. Auch der Ökumenische Rat der Kirchen (Genf) ist auf dieser Ebene tätig. In den öffentlichen Medien wird nur selten über solche Aktivitäten berichtet, was auch mit der Komplexität der jeweils zu verhandelnden Materie, die nur schwer Nicht-Sachverständigen zugänglich zu machen ist, zusammenhängt.

Neben der staatlichen Ebene sind die Kirchen bzw. kirchliche Gruppen und Organisationen auch Akteure auf der zivilgesellschaftlichen Ebene und tragen so zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Auch hier spielen die erwähnten Hilfswerke mit ihren Aktionen eine wichtige Rolle. Kirchliche bzw. christlich orientierte Friedensorganisationen zählen zur allgemeinen Friedensbewegung. Dritte- bzw. Eine-Welt-Gruppen praktizieren universale Solidarität. Ökologische Projektgruppen engagieren sich für die Erhaltung der Lebensgrundlagen. Unzählige weitere Initiativen könnten angeführt werden, die je für sich einen Tropfen auf dem heißen Stein bewirken mögen, zusammengenommen aber einen beachtlichen Faktor in der Gesellschaft ausmachen.

Alle genannten Aktivitäten sind letztlich von der Überzeugung getragen, dass es nicht die Menschen sind, die den endgültigen Frieden in der Welt zu bewerkstelligen vermögen, sondern dass es sich dabei um eine Verheißung und Gabe Gottes handelt, für die als Werkzeuge sich einzusetzen die Christ/innen und ihre Kirchen gesandt sind. Von daher bilden neben der Aktion Kontemplation, Gebet und Gottesdienst elementare Vollzüge christlichen Friedensengagements. Gilt es doch, sich des Evangeliums des Friedens immer wieder zu vergewissern, es zu meditieren, dafür zu beten und in der gottesdienstlichen Feier zu vergegenwärtigen, um daraus Motivation und Kraft für das Wirken „nach außen“ zu schöpfen. Als weitere Felder des Friedensbeitrags der Christ/innen und der Kirchen nennt die EKD-Denkschrift die Erziehung und Bildung zum Frieden, den Schutz und die Beratung des Gewissens vor allem mit Blick auf das Ethos des Gewaltverzichts, sowie die Arbeit für Frieden und Versöhnung.

Woran es den Großkirchen mangelt, ist ein entschiedenerer Mut, nicht nur mit Worten z.B. den Wahnsinn, immer zuverlässiger funktionierende Tötungsmaschinen zu erfinden und anzuwenden, zu kritisieren, sondern sich dem auch mit Taten wie z.B. prophetischen Zeichen zu widersetzen und als „Störenfriede“ in das ökonomische und politische Geschehen einzugreifen. Wenn aus ihren Reihen Einzelne sich von ihrem Gewissen her veranlasst sehen, als solche öffentlich aufzutreten und gewaltlosen zivilen Ungehorsam zu praktizieren, wie es z.B. in Aufsehen erregender Weise Daniel und Philip Berrigan in den USA getan haben, dann können diese sich zumindest darauf berufen, dass es für solche Aktionen anerkannte Vorbilder in der Bibel gibt.

Werkzeug – bzw. in katholischer Terminologie: Sakrament – des Friedens zu sein, erlegt nicht zuletzt den Kirchen die Gewissenserforschung auf, wie sie selbst es mit dem gerechten Frieden in ihrem Inneren halten. Dass diesbezüglich einiges im Argen liegt – angefangen bei den Strukturen bis hin zur interkonfessionellen und -religiösen Verständigung –, ist von ihnen ehrlich einzugestehen und dringend anzugehen, kann hier aber nicht im Einzelnen dargelegt werden.

Zwischenbemerkung

Wenn die Ausführungen über das Christentum länger geraten sind, als es die beiden folgenden Abschnitte sein werden, liegt das daran, dass es mir darum ging, einen Eindruck von der Komplexität der Probleme zu vermitteln, mit denen man es bei Bemühungen um Frieden-Stiften und -Fördern zu tun bekommt, und welches Bündel von Maßnahmen darum ins Auge zu fassen ist. Um in vergleichbarer Differenziertheit die beiden anderen Religionen behandeln zu können, mangelt es mir schlicht und einfach an Informationen. Darum beschränke ich mich mithilfe dazu vorliegender Literatur jeweils darauf, welche Ressourcen im Judentum und im Islam auszumachen sind, die zu einem unbedingten Einsatz zur Eindämmung bzw. Überwindung von Gewalt und zur Schaffung einer Friedensordnung in der Welt anhalten.

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