Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter

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Abb. 1: Aufbau des Einführungsbeitrags

2 Grundlagen von Agilität
2.1 Entwicklungsgeschichte

Die in Kapitel 1 beschriebene Situation zeigt, dass viele Unternehmen mit einer erfolgreichen Entwicklungsgeschichte vor der Herausforderung stehen, mit bislang bewährten Mustern und Managementprinzipien zumindest in Teilen brechen zu müssen, wenn sie auf Dauer überleben und weiterhin erfolgreich sein wollen. Unser gesamtes Wirtschafts-, Gesellschafts-, Arbeits- und Privatleben steht unter dem Einfluss des dynamischen bzw. beschleunigten technologischen Wandels, der mittlerweile alle Bereiche zwischenmenschlicher Interaktion und Beziehungen beeinflusst. Sämtliche Aufgaben und Tätigkeiten menschlicher Arbeit, Sachmittel und Prozesse stehen zur Disposition, werden durch neue, innovative Verfahren und Lösungen ersetzt oder obsolet. Das Denken und Handeln in linearen und strukturierten Ursache-Wirkungszusammenhängen, in rein Performance getriebenen und planbasierten Prozessen und Strukturen passt nicht in die VUCA-Welt.

Auch wenn es manche so empfinden mögen, VUCA ist nicht plötzlich „vom Himmel gefallen“. Natürlich gab es immer schon Entscheidungen, die in unsicherem und unbeständigem Umfeld getroffen werden mussten. Und auch die Bestrebungen nach einer flexiblen und gleichzeitig effizienten Organisation sind keinesfalls neu. Eines der ersten agilen Projekte wurde bspw. bereits vor über 75 Jahren durchgeführt.

Der Konstrukteur KELLY JOHNSON von LOCKHEED MARTIN erhält 1943 den Auftrag, in nur 180 Tagen einen neuen Kampfjet serienreif zu entwickeln. Er soll eine Antwort auf die deutschen Düsenjäger finden, deren neue Technologie eine Gefahr für die damalige Luftüberlegenheit der Amerikaner darstellte. JOHNSON bringt dafür seine Ingenieure zusammen, entwickelt wird in einem Zelt. Das Team organisiert sich vollkommen autark. Entwicklungsfortschritte werden in kurzen Zyklen überprüft und direkt mit den Kampfpiloten, den Anwendern, validiert. Aufgrund des weniger angenehmen Duftes, der durch das Zelt weht, wird auch von „Skunk Works“ gesprochen. Trotzdem oder gerade deshalb wird der Düsenjäger P80 nach nur 143 Tagen in die Serienproduktion überführt.9

Auch die Apollo-Missionen, in denen die NASA in den 1960ern Astronauten zum Mond schickten, basierten auf einem ähnlich iterativen und inkrementellen Vorgehen. Und TAKEUCHI und NONAKA stellten 1986 bei der Analyse der Produktentwicklungsprozesse bei u. a. CANON, HONDA, NEC, EPSON, BROTHER, 3M, XEROX und HEWLETT PACKARD fest, dass diese Ähnlichkeiten aufwiesen – u. a. setzten sie auf eine Art eingebaute Instabilität, selbstorganisierende Projektteams und überlappende Entwicklungsphasen.10 Es finden sich diverse weitere Beispiele, auf die hier insbesondere aus Platzgründen aber nicht weiter eingegangen werden soll. Es lässt sich in jedem Fall festhalten: Agilität ist keinesfalls neu.11

Das Industriezeitalter war jedoch geprägt durch die vorwiegend planbasierte Massenfertigung. Insbesondere die Erkenntnisse und Errungenschaften von FREDERICK WINSLOW TAYLOR zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zu einer ausgeprägten funktionalen Spezialisierung und einer weitgehenden Arbeitsteilung. Gestützt auf den Studien TAYLORS und dessen Glaubenssatz des sogenannten „One Best Way“, setzte sich zu Beginn der 20. Jahrhunderts das Prinzip prozessgesteuerter Arbeitsabläufe und die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit immer mehr durch (Scientific Management bzw. Taylorismus). Damit wurde das Zeitalter der Manufakturen überwunden, enorme Skaleneffekte erzielt und Massenfertigung durch ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen vielen Menschen ermöglicht.12

Die Kombination aus den organisatorisch-bürokratischen Ansätzen TAYLORS und produktionstechnischen Errungenschaften, insbesondere das durch HENRY FORD eingeführte Fließbandprinzip, entwickelte sich zum dominierenden Produktionskonzept bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die Aufgaben waren produktionsseitig auf kleinste Handbewegungen reduziert, sodass Fließbandarbeiter nicht mehr denken mussten. Dadurch konnte eine sehr hohe Effizienz erzielt werden. Als wesentliche Voraussetzungen für das Funktionieren dieses Systems definierte TAYLOR:13

Die internen und externen Prozesse können berechnet, geplant und beherrscht werden.

Die Arbeit kann in ausführende und planende Teilaufgaben bzw. Aktivitäten getrennt werden.

Die notwendigen Teilaufgaben zur Fertigung eines Produkts bestehen aus einer bestimmen und festlegbaren Abfolge von Aktivitäten.

Auf Basis wissenschaftlicher Methoden ist es möglich, die beste Art der Ausführung einer Aktivität (Best Practice) zu ermitteln.

Die spezialisierten Arbeiter und Maschinen erfüllen (lediglich) einzelne Aktivitäten, die sich zentral planen und steuern lassen.

Menschen arbeiten lediglich bzw. vorwiegend, um Geld zu verdienen.

Diese Voraussetzungen gelten natürlich nicht immer. Umso VUCA-artiger und damit unklarer die Umwelt ist, desto weniger sind diese Bedingungen gegeben.

Fast zur gleichen Zeit wie der Taylorismus entwickelte sich in Japan eine Organisations- und Produktionsphilosophie, die – ganz im Unterschied zu FORD und TAYLOR – Werksarbeiter verpflichtete darüber nachzudenken, was sie bei ihrer Arbeit tun. Sie erhielten ein erhebliches Maß an Verantwortung und wurden aufgefordert, alles zu reklamieren, was ihnen bei ihrem Arbeitsablauf nicht passt. Sie sollten Vorschläge machen, wieman Abläufe verbessern kann. So war es allen voran TOYODA KIICHIRō, 1937 Chef der TOYOTA MOTOR CORPORATION, der daran arbeitete, mit organisatorischen Mitteln Prozesse zu optimieren und gleichzeitig die Qualität zu steigern. Aufgrund der Rohstoffknappheit während und nach dem Zweiten Weltkrieg galt es dabei vor allem, jegliche Verschwendung zu vermeiden.14 Beeinflusst durch die Arbeiten von WILLIAM EDWARDS DEMING, einem Pionier im Bereich des Qualitätsmanagements, entstand das TOYOTA Production System (TPS), das Mitarbeiter konsequent in die kontinuierliche Gestaltung und Optimierung von Arbeitsabläufen integriert.

Der Ingenieur und Produktionsleiter TAIICHI OHNO entwickelte das TPS bis in die 1980er Jahre systematisch weiter und ergänzte es um zahlreiche Methoden und Techniken.15 Seine auf der Kaizen-Philosophie (kai „Veränderung, Wandel“, zen „zum Besseren“) beruhenden Prinzipien, die auf Produktion im Kundentakt, Eliminierung von Verschwendungen und mitarbeiterzentrierte Verbesserung in kleinen Schritten setzen, haben den japanischen Automobilbauern ab den 1980ern auf dem Weltmarkt zu ihrem Erfolg verholfen. Der in den 1990ern von den MIT-Wissenschaftlern WOMACK, JONES und ROOS entwickelte Lean-Thinking-Ansatz (Lean Production und im weiteren Verlauf Lean Management und Lean Administration) orientiert sich an den Prinzipien des TPS und ist heute in vielen Unternehmen, vor allem bei solchen in westlich geprägten Industrienationen, zu finden.16

PETER DRUCKER stellte ebenfalls bereits in den 1950er Jahren fest, dass die von FORD und TAYLOR vorangetriebenen rein effizienzorientierten Organisationsansätze an Grenzen stoßen.17 DRUCKER erkannte, dass sich Wissen nur schwer aus den Köpfen der Menschen extrahieren und hierarchisch bündeln lässt. Er setzte sich dafür ein, insbesondere in wissensintensiven Bereichen alternative Formen und Modelle der Zusammenarbeit einzuführen (Wissensarbeit).

Ebenfalls in den 1950er Jahren befasst sich der Soziologe und Systemiker TALCOTT PARSONS mit dem Zusammenhang von Stabilität und Veränderung. Die Ergebnisse seiner empirischen Kleingruppenforschung führten ihn zu der Erkenntnis, dass soziale und mithin organisationale Systeme nur dann dauerhaft überleben können, wenn sie nicht nur stabil und standardisiert funktionieren, sondern sich auch weiterentwickeln und innovieren.18

Anfang 1970 plädiert der als Zukunftsforscher bekannt gewordene ALVIN TOFFLER für die Flexibilisierung des Unternehmens, um der ansteigenden Umweltdynamik begegnen zu können.19 In dieser Zeit gewinnt „Wissensmanagement“ zunehmend an Bedeutung, es etabliert sich der Begriff der „lernenden Organisation“, der sich der Erkundung des Neuen durch Kollaboration und Co-Kreation mit Hilfe sogenannter Dynamic Capabilities (dynamische Fähigkeiten) widmet.20

Eine Übersicht verschiedener (theoretischer) Ansätze und Strömungen einer moderneren, flexibleren Organisationsgestaltung findet sich im Beitrag von BREHM in diesem Buch. Bei OESTEREICH/SCHRÖDER findet sich eine interessante Systematisierung der Entwicklungslinien und Einflussbeziehungen der verschiedenen Theorieströmungen, die dem heutigen Agilitätsverständnis zugrunde liegen.21

Vor allem in der Software-Entwicklung breiten sich in den 1990er Jahren aufgrund der ansteigenden Komplexität und Dynamik agile Ansätze immer mehr aus. Der Kern dieser Veränderungen wurde dann 2001 von einer Gruppe von Software-Entwicklern im sogenannten „Agile Manifesto“ zusammengefasst niedergeschrieben. In diesem Manifest ging es aber nicht um konkrete neue Methoden oder Tools, sondern um eine neue Haltung, um mit den Herausforderungen einer unsicheren und komplexen Umwelt Schritt halten zu können (vgl. Kapitel 2.3).

 

Vor dem Hintergrund dieses kurzen geschichtlichen Aufrisses kann Agilität bzw. kann eine agile Organisationsgestaltung daher getrost als konsequente Fortführung und Weiterentwicklung der Erkenntnisse und Studien der letzten Jahrzehnte betrachtet werden.

2.2 Zentrale Begriffe

Nachdem in Kapitel 1 die Notwendigkeit und in Kapitel 2.1 die Entwicklungsgeschichte von Agilität kurz erläutert wurden, soll nun ein Blick auf den Begriff Agilität und dessen Bedeutung geworfen werden. Aufgrund der unzähligen Ausgestaltungsvarianten in der Praxis existiert eine Vielzahl an Begriffsbestimmungen, die sich gefühlt ungefähr mit der Zahl „agiler“ Experten und Autoren deckt. Das bringt jedoch die Gefahr mit sich, dass durch die Erfindung und exzessive Nutzung immer neuer Begriffe der Blick für den eigentlichen Kern verloren geht. Daher sollen in diesem Kapitel zunächst die dem Agilitätsverständnis zugrunde liegenden Begriffe dargestellt werden.

Laut Duden bedeutet agil „von großer Beweglichkeit zeugend, regsam und wendig“22. Agilität steht also für Beweglichkeit und Wendigkeit. Im Business-Kontext steht Agilität für Wandlungs- bzw. Anpassungsfähigkeit, also die Fähigkeit, sich schnell an Veränderungen anzupassen. Ein häufig synonym verwendeter Begriff ist Adaptivität. Im Zuge der Entwicklung des „Agile Manifesto“ im Jahre 2001 setzte sich bei einer Abstimmung über die Bezeichnung der Begriff agil mit nur einer Stimme Mehrheit gegenüber adaptiv durch. Wäre diese Abstimmung anders ausgefallen, würde dieses Buch möglicherweise den Namen „adaptive Organisation“ tragen.23 Wie Kapitel 2.1 gezeigt hat, ist die grundsätzliche Thematik bei weitem keine Neuheit des 21. Jahrhunderts, sondern wird in der Managementliteratur bereits seit langer Zeit diskutiert.24 In der Vergangenheit auch häufig unter dem Begriff Flexibilität.25

Allerdings hat sich unter dem Schlagwort Agilität in den letzten Jahren ein deutlich über die reine Anpassungsfähigkeit hinausgehendes Managementverständnis entwickelt. Agiles Management steht heute u. a. auch für ein kundenzentriertes Vorgehen und ein Empowerment der Mitarbeiter, als wesentliche Voraussetzungen für eine entsprechende Anpassungsfähigkeit (vgl. im Detail Kapitel 2.3 und 4).26 Agilität trägt dem unternehmerischen Anspruch Rechnung, in einer durch Unsicherheit und Komplexität geprägten Welt Veränderungspotenziale zu erkennen und, übertragen auf die eigene Situation, zu nutzen. Das bedeutet, Veränderung nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv zu gestalten.27 Es geht darum, auch in einer VUCA-Welt entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben.

Agilität steht für die Fähigkeit, in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern in kurzer Zeit angemessen (re)agieren zu können – strategisch, organisatorisch und kulturell.

Um eine solche Agilität in Unternehmen zu erreichen braucht es diverse Elemente. Eine gute Systematisierung dieser Elemente bzw. verschiedener zentraler agiler Begriffe liefert die auf SCHELLER basierende Abbildung 2.28 Letztlich sind Unternehmen dann als agil zu bezeichnen, wenn die handelnden Akteure agil denken und handeln. Es braucht demnach eine agile Haltung bzw. ein agiles Mindset („agil sein“). Ein solches agiles Mindset lässt sich durch normative Werte beschreiben, die sich in Prinzipien bzw. Handlungsgrundsätzen manifestieren. Umgesetzt wird das agile Mindset über einzelne agile Praktiken (methodische Bausteine, z. B. Review, Task-Board, Backlog) sowie die Kombination verschiedener Praktiken in Form von ausgearbeiteten Prozessen und Strukturen (z. B. Scrum, SAFe, Holacracy). Durch die Anwendung von agilen Praktiken und Ansätzen wird agil gehandelt („agil machen“).

Abb. 2: Elemente von Agilität29

Die linke Seite der Abbildung steht für eine agile Kultur, der rechte Teil für eine agile Organisation. Zwar ist es letztlich entscheidend und daher erstrebenswert, dass die Akteure agil denken, weil sich das Handeln dann daraus ergibt. Allerdings ist es nicht möglich, direkt an der Kultur zu drehen. Einfach ein Hochglanzplakat mit neuen Leitlinien und Werten an die Wand zu hängen ist meist wenig hilfreich. Kultur ist von Natur aus sehr komplex, träge und lässt sich nur indirekt beeinflussen. Der Weg zur Kulturveränderung führt über die Veränderung des täglichen Verhaltens der Menschen, denn das Verhalten, das sich tagtäglich in der Kommunikation und der Zusammenarbeit zwischen den Menschen innerhalb der Unternehmensgrenzen und darüber hinaus zeigt, ist Ausdruck der Kultur, macht diese sichtbar. Daher steht auch die Kulturveränderung in Richtung Agilität im permanenten Wechselspiel mit dem Einsatz und dem Erleben agiler Ansätze. Durch das Ansetzen an der rechten Seite wird die linke Seite beeinflusst und über die dynamischen Wechselwirkungen die Grundlage für eine wandlungs- und anpassungsfähige Gestaltung agiler Ansätze auf der rechten Seite geschaffen. Deshalb fokussiert das vorliegende Buch und dieser Einführungsbeitrag auf die rechte Seite der Abbildung 2, die „agile Organisation“.

Der Begriff agile Organisation steht für Prozesse und Strukturen, die es ermöglichen, in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern in kurzer Zeit angemessen (re)agieren zu können.

Diesen Fokus auf die agile Organisationsgestaltung verdeutlicht auch die Abbildung 3. In den Kernkapiteln 6-8 dieses Einführungsbeitrags werden verschiedene agile Prozessmethoden sowie Strukturansätze vorgestellt, erläutert und bewertet. Dies soll dem Leser helfen, agil zu agieren und darüber – indirekt – auch eine agile Kultur zu entwickeln. Da die Prozesse und Strukturen immer von Menschen gelebt werden und daher eine Trennung von Organisation und Kultur nie ganz trennscharf sein kann, wird der wichtige Bereich der agilen Kultur aber nicht ganz ausgenommen, sondern im folgenden Kapitel 2.3 sowie im Kapitel 9 (agile Zusammenarbeit und Führung) in den notwendigen Grundzügen betrachtet. Die Beiträge von HARTMANN und SCHULLER/FUCKER befassen sich explizit mit einer agilen Kultur, und auch in vielen anderen Beiträgen wird der Kulturaspekt angesprochen.

Abb. 3: Zusammenspiel von agiler Kultur und agiler Organisation

2.3 Werte und Prinzipien

Um das Werte- und Prinzipiengerüst einer agilen Kultur bzw. eines agilen Mindsets zu verstehen, lohnt sich ein Blick in das „Agile Manifesto“ sowie ergänzend in die Grundlagen von „Lean Thinking“.

Das Agile Manifest aus dem Jahre 2001 (vgl. Kapitel 2.1) spiegelt die Einstellung und Haltung einer Gruppe von Software-Entwicklern wider, die feststellten, dass die damaligen Prinzipien und Arbeitsweisen der Software-Entwicklung nicht mehr zu den dynamischen Anforderungen passten, mit denen sie konfrontiert waren. Aus der Haltung „We are uncovering better ways of developing software by doing it and helping others do it“ hat sich ein Werte- und Prinzipiengerüst entwickelt, das heute über IT-Abteilungen hinaus auf alle Organisationsbereiche ausstrahlt. Den Kern des agilen Manifests bilden 4 normative Wertepaare und 12 Prinzipien bzw. Handlungsgrundsätze.30

Im Hinblick auf die agilen Werte heißt es:

Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Tools

Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation

Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlungen

Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.

Diese vier Wertepaare verdeutlichen den tieferen Sinn von Agilität. Der Fokus liegt auf praktikablen, funktionierenden Lösungen, der Interaktion zwischen verschiedenen Individuen und mit dem Kunden sowie auf kontinuierlicher Veränderung bzw. Verbesserung. Es handelt sich aber bei den Aussagen oben nicht um unvereinbare Gegensatzpaare oder um die Feststellung, dass Prozesse, Tools, Dokumentation, Vertragsverhandlungen und Pläne obsolet oder überflüssig sind. Es zeigt vielmehr, dass die Bedeutung der Werte auf der linken Seite unter den aktuellen Rahmenbedingungen höher eingeschätzt wird und diese im Zweifel denen auf der rechten Seite vorgezogen werden. Auf dieser Grundlage dienen die Wertepaare als Leitlinie für die Priorisierung von Initiativen, Projekten und Aufgaben von der strategischen bis zur operativen Ebene (vgl. Kapitel 6-8).

Die folgenden zwölf agilen Prinzipien konkretisieren dieses Wertegerüst:

1. Kundenpriorität: Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen.

2. Veränderungsgetrieben: Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.

3. Funktionsfähige Inkremente: Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.

4. Zusammenarbeit: Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten.

5. Motivierte Individuen: Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.

6. Direkte Kommunikation: Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht.

7. Messung des Fortschritts: Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß.

8. Gleichmäßiges Tempo: Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.

9. Exzellenz in Technik und Design: Ständiges Augenmerk auf technische Exzellenz und gutes Design fördert Agilität.

10. Einfachheit: Die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren, ist essenziell.

11. Selbstorganisation: Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.

12. Selbstreflexion: In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an.

Der Werte- und Prinzipienrahmen des agilen Manifests orientiert sich an bereits bestehenden Werten, Prinzipien und Rahmenwerken, die sich ebenso für eine schnelle, anpassungsfähige und lernende Organisation stark machen. So deckt sich die agile Grundhaltung in großen Teilen bspw. mit den Lean-Prinzipien, deren Vertreter Anfang der 1990er Jahre – motiviert durch die Erfolge des TOYOTA Production System (TPS) – auf den Plan traten (vgl. Kapitel 2.1). Kontinuierliche Verbesserung und das Streben nach Perfektion bilden das Fundament von Lean, dessen fünf Leitprinzipien sich auf agile Arbeitsweisen übertragen lassen bzw. Ähnlichkeiten aufweisen:31

 

Definiere den Wert aus der Sicht des Kunden – Schaffe ein gemeinsames Verständnis darüber, was dem Kunden wichtig ist, und richte dich darauf aus.

Identifiziere den Wertstrom – Denke die Prozesse vom Kunden zum Kunden (End to End) und setze diese effizient um, indem Du Verschwendungen eliminierst.

Erzeuge einen kontinuierlichen Arbeitsfluss – Schaffe eine optimale bereichsübergreifende Taktung und Synchronisation.

Führe das Pull-Prinzip ein – Ziehe Kundenaufträge durch den Prozess, jede Aktivität wird von der nachfolgenden Aktivität ausgelöst.

Strebe Perfektion an – Etabliere einen gemeinsamen kontinuierlichen Verbesserungsprozess.

Die Grundhaltung von Lean (= schlank) ist es also, kundenorientierte Wertschöpfung ohne Verschwendung (jap. „muda“) zu schaffen. Der Kerngedanke spiegelt sich wohl am besten in dem fast schon philosophisch anmutenden 10. agilen Prinzip der Einfachheit wider, nämlich „der Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren!“ Alle wertschöpfenden Aktivitäten werden kontinuierlich unter die Lupe genommen und so aufeinander abgestimmt, dass Verschwendungen aufgedeckt und eliminiert werden können. Zu diesem Zwecke wird ein bestehendes System aus zwei Perspektiven betrachtet:

1. aus der Sicht des Kunden, dessen Bedürfnisse optimal zu erfüllen sind

2. aus der Sicht des Unternehmens, das sich profitabel auf die Erfüllung dieser Bedürfnisse ausrichtet.

Das Ergebnis sind Wertschöpfungsstrukturen mit hoher Kundenorientierung und hoher Effizienz. Unzählige kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP) und Wertstromanalysen orientieren sich heute an diesen Leitlinien und Prinzipien, deren Ursprünge auf Kaizen und folglich Lean zurückgehen und in vielfältigen Methoden und Werkzeugen zum Einsatz kommen, für die hier stellvertretend die 5S/5A-Methode (7 Arten der Verschwendung) zur effizienten und effektiven Arbeitsgestaltung genannt werden soll.32

Die ausgeführten Werte und Prinzipien aus dem agilen Manifest und ergänzend dem Lean-Umfeld machen ein agiles Mindset anschaulich und greifbarer. Sie sind aber nicht die einzig möglichen oder die allseits anerkannten Werte und Prinzipien von Agilität. Vielmehr haben diverse agile Methoden und Ansätze eigene Werte- und Prinzipiengerüste (vgl. Kapitel 6-8), die alle leicht unterschiedlich sind und etwas konkreter auf die spezifischen Modelle abstellen. Der Scrum Guide33 bspw. nennt die 5 Werte Offenheit, Mut, Respekt, Fokus und Commitment.

Außerdem finden sich diverse Unternehmen, die sich eigene, unternehmensspezifische Werte und/oder Prinzipien definieren. Und das ist auch legitim und kann sinnvoll sein. Übersetzt in das Leitbild eines Unternehmens, könnte ein agiler Werte- und Prinzipienrahmen exemplarisch wie in Abbildung 4 aussehen.

Abb. 4: Leitbild agiler Werte und Prinzipien (Unternehmensbeispiel)

Werte und Prinzipien liefern Leitlinien für erfolgreiche Zusammenarbeit in einer durch Komplexität und wechselnde Rahmenbedingungen geprägten Welt. Aber erst der Blick hinter die Werte- und Prinzipienkulisse offenbart die wirkliche Haltung im zwischenmenschlichen Umgang und nach welchen Kriterien und Maßstäben Entscheidungen wirklich getroffen werden. Solange die agilen Werte lediglich als Leitlinien an der Wand hängen, handelt es sich, wenn überhaupt, bloß um „agil machen“. Nur wenn das agile Handeln auch in ein agiles Denken übergeht, das sich in den Werten und Prinzipien widerspiegelt, entsteht ein agiles Mindset bzw. eine agile Kultur („agil sein“, vgl. Abbildung 2).