a tempo - Das Lebensmagazin

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Aus der Reihe: a tempo - Das Lebensmagazin #34
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a tempo - Das Lebensmagazin
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1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

3 – editorial Ein Teil des eigenen Lebens von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Der Körper sagt immer die Wahrheit Charlotte Steinebach im Gespräch mit Natascha Hövener

5 – thema Wenn Joyce die Sirenen singen lässt von Evelies Schmidt

6 – augenblicke Hier wohnte … Über eine besondere Form des Gedenkens von Christian Hillengaß

7 – kultur phänomenal Warum küssen wir? von Karin Kontny

8 – erlesen Bücher zu und über Heinrich Schliemann gelesen von Konstantin Sakkas

9 – mensch & kosmos Die Sonne hereinholen von Wolfgang Held

10 – unverblüht Das Schneeglöckchen Eine Philosophin spricht zu uns von Elisabeth Weller

11 – kalendarium Februar 2021 von Jean-Claude Lin

12 – zwölf stimmungen des ich Das sich unentwegt begrenzende Grenzenlose von Jean-Claude Lin

13 – blick groß in die geschichte Die Flucht ohne Ende von Konstantin Sakkas

14 – sprechstunde Fasan zum Frühstück – Verbindung hält gesund von Markus Sommer

15 – ansichten Die Perspektive von Franziska Viviane Zobel

16 – von der zukunftskraft des unvollendeten Aber das Leben von Brigitte Werner

17 – hier spielt die musik Das Lied von Sebastian Hoch

18 – wundersame zusammenhänge Übereinstimmung mit dem Kosmos von Albert Vinzens

19 – literatur für junge leser Arne Ulbricht «Luna. Ein Fliegenpilz im Erdbeerkleid» gelesen von Simone Lambert

20 – mit kindern leben Februarplätzchen von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

21 – sehenswert Eine Idylle und ein Epos von Konstantin Sakkas

22 – den hof machen Der ungeliebte Rollenwechsel und das liebe Geld von Renée Herrnkind

23 – sudoku & preisrätsel

24 – kulturtipp À la vie – à l‘amor von Rolf Sachsse

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Nicht für die Schublade von Jean-Claude Lin

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

wonach suchen wir?

Liebe Leserin, lieber Leser!

In der Augustenstraße, um die Ecke von meiner Wohnung im Stuttgarter Westen, liegen zwei «Stolpersteine» dicht beieinander. Wer da entlang geht, wird jedoch kaum in die Gefahr geraten, über diese im Gehweg eingelassenen kleinen Messingplatten zu stolpern. Dafür liegen sie zu nah an der Hauswand der Nr. 39B, die einst zwei Menschen bewohnten, deren gewaltsam verkürztes Leben die zwei «Stolpersteine» gedenken möchten.

«Hier wohnte / Paul Pick / JG. 1894 / Deportiert 1941 / Theresienstadt / Ermordet 1944 / in Riga» steht geprägt auf dem einen Gedenkstein aus Messing. «Hier wohnte / Emma Pick / geb. Baum / JG. 1896 / Deportiert 1941 / Theresienstadt / Ermordet 1944 / in Stutthof» steht auf dem anderen Gedenkstein.

Hier wohnte also das Ehepaar Paul und Emma Pick, bevor es ins Konzentrationslager Theresienstadt, nördlich von Prag, im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren des Dritten Reichs, verschleppt wurde. Auf der Internetseite www.stolpersteine-stuttgart.de können wir erfahren, dass Paul Pick am 1. Mai 1894 in Freudenstadt geboren wurde, Emma Pick, geborene Baum, am 16. April 1896 in Stuttgart. Sie heirateten am 1. August 1920 in Stuttgart und hatten zwei Söhne, Richard und Lutz. 1937 bereits emigrierte die Familie nach Teplitz, da die Söhne nach den erlassenen Rassengesetzen nicht mehr am Karlsgymnasium bzw. an der Schickhardtrealschule zur Schule gehen durften. Jedoch wurde das Sudetenland kurze Zeit danach von der Wehrmacht besetzt und die Familie floh nach Brünn. Von dort wurden Emma und Paul und der jüngere Sohn Lutz im Dezember 1941 nach Theresienstadt deportiert und kamen im Januar 1942 in das Ghetto in Riga. «Unser Vater», schreibt der älteste Sohn Richard, «wurde im Juni 1944 in der Nähe von Riga ermordet. Unsere Mutter wurde ins KZ Stutthof transportiert, wo sie am 30. Dezember 1944 umgebracht wurde. Mein jüngerer Bruder, Lutz, war auf den Transporten mit meinen Eltern zusammen und verbrachte über 40 Monate in verschiedenen Konzentrationslagern. Durch einen Riesenzufall fanden wir uns (Lutz und Richard) im Jahre 1945, Lutz als KZ-Befreiter und ich (Richard) als Soldat der US-Armee.»

Wie dankbar bin ich, nicht in dieser Zeit des nationalsozialistischen Rassenwahns und Terrors zu leben! Wenn mich die Bilder und Schicksale aus dieser Zeit so sehr erschüttern, frage ich mich zuweilen, ob ich nicht eventuell sogar unter den Tätern hätte sein können und jetzt die abgrundtiefe Schuld und Reue empfinde. –

Dankbar können wir alle für die Initiative des Künstlers Gunter Demnig sein, so viele Gedenksteine wie irgend möglich für die im Dritten Reich verfolgten und grausam ums Leben gebrachten Menschen zu setzen. Sie sind und bleiben so erinnernd Teil des eigenen Lebens.

Seien Sie von Herzen gegrüßt,

Ihr



4 – im gespräch


Der Körper sagt immer die Wahrheit

Charlotte Steinebach im Gespräch mit Natascha Hövener

Fotos: Wolfgang Schmidt

Große Herausforderungen in der Medizin gab es schon vor der Pandemie. Auch vorher schon gab es überfüllte Kliniken, gab es Ärztinnen und Therapeuten, die gehetzt von einem Patienten zum nächsten rennen (und schließlich im Burn-Out landen). Von den Pflegenden, die hoch engagiert antreten und nach einigen Jahren erschöpft aufgeben, ganz zu schweigen. Aber es gibt auch eine andere Seite: Menschen, die es anders machen und in der Medizin etwas bewegen wollen. Die junge Ärztin Charlotte Steinebach weiß, dass sie alleine das System nicht umkrempeln kann. Aber sie hat für sich Wege entwickelt, wie sie Patienten und Patientinnen anders gerecht werden kann. Dabei richtet sie ihren Fokus besonders auf Frauen und auf das, was sie eine «ganzheitliche weibliche Gesundheit» nennt. Im Gespräch erzählt sie, wie sie ihren Ansatz umsetzt.

www.charlottesteinebach.com


Natascha Hövener | Sie sind Ärztin und gleichzeitig Gesundheits-Coach. Wie dürfen wir uns das vorstellen? Sind Ärzte nicht automatisch Gesundheits-Coaches? Wieso haben Sie sich entschieden, zweigleisig zu fahren?

Charlotte Steinebach | Für mich sind das nicht zwei Gleise, sondern das eine geht in das andere über. Meine Arbeit als Stationsärztin in der Gynäkologie, dem Kreißsaal und in der Notaufnahme ist unheimlich vielseitig, aber auch oft sehr hektisch. Die Zeit, die die Patientinnen und Patienten heute wirklich im Krankenhaus sind, ist inzwischen ja auf ein absolutes Minimum reduziert – ein paar Tage und nicht mehr. Es ist klar, dass man da oft nur punktuell ansetzen kann. Wir können die Patientinnen nicht wirklich begleiten oder gar gemeinsam durch eine Entwicklung im Genesungsprozess gehen. Aber wenn die Patienten nach ein paar Tagen entlassen werden, geht die Heilung ja erst richtig los. Diesen Prozess kann ich zwar nicht als Stationsärztin, aber als Coach in der Be­­ratung gut begleiten. Da entsteht einfach eine ganz andere Tiefe.

 

NH | Was hilft Ihnen bei dem einen, was bei dem anderen?

CS | Meine naturwissenschaftliche Ausbildung hilft mir beim Coaching natürlich sehr, weil ich Symptome gut einordnen kann. Auf der anderen Seite hilft das Coaching auch in der Klinik, zum Beispiel im Kreißsaal, weil ich durch meine Coachingerfahrungen darauf geschult bin, die Frauen, die gerade ihr Kind zur Welt bringen, auch durch schwierige Phasen zu führen, ihnen Ängste zu nehmen oder sie zu motivieren, dass sie all ihre Kräfte mobilisieren. Beide Tätigkeiten gehören für mich maßgeblich zusammen.

NH | Ich habe bei Ihnen das schöne Zitat gefunden: «You are the medicine» – also du selbst bist deine Medizin. Was meinen Sie damit?

CS | Wir Menschen sind in der Biologie unseres Körpers auf gewisse Art gleich – und doch total unterschiedlich. Und zwar auch dann, wenn es um Heilung geht: Die eine braucht dieses, der andere jenes. In unserer heutigen Medizin hat diese Individualität aber häufig keinen Platz. Dabei wissen Patientinnen und Patenten nach einer gewissen Arbeit an sich oft selbst sehr gut, was ihnen helfen würde. Meine Aufgabe ist es, diese Selbst-Erkenntnis zu stärken. Das meine ich mit «You are the medicine». Nehmen wir zum Beispiel chronisch kranke Menschen. Sie sind oft frustriert, dass es keine Heilung gibt, sind enttäuscht von ihrem Körper – das kenne ich auch aus eigener Erfahrung. Es ist ein anspruchsvoller Prozess, diese Tatsache erst einmal zu akzeptieren, um dann auf dieser Basis gemeinsam etwas Neues zu entwickeln. Wir können versuchen, chronische Erkrankungen nicht nur als Bürde zu sehen, sondern auch als Aufgabe, uns zu ent­wickeln und wieder mehr um uns selbst zu kümmern.



NH | Das klingt anspruchsvoll. Sind denn Menschen, die krank und erschöpft zu Ihnen kommen, dazu bereit?

CS | Menschen, die zu mir kommen, sind häufig am Ende ihrer Kräfte oder haben seit Jahren keine Hoffnung auf Besserung mehr. Gleichzeitig spüren sie: So wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Das ist der Anstoß. Wahre Motivation ist aber ein vielschichtiger Prozess, der aus mehreren Schritten besteht. Da hole ich die Menschen dann ab. Zuerst einmal geht es darum, die aktuelle Situation als das anzuerkennen, was sie ist. Mit Schmerz und Frust, der Angst, nie wieder zu heilen, mit Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit, Enttäuschung. Es geht nicht darum zu reparieren, es geht darum anzunehmen und wieder bei sich selber anzukommen. Erst danach können die meisten Menschen eine tiefere Motivation ent­wickeln, um mit ihrer Krankheit und mit ihren «Schatten» zu arbeiten. Dann können wir uns überlegen, was sie spezifisch brauchen.

NH | Was hat Ihre Arbeit als Ärztin und Gesundheits-Coach eigentlich mit dem heutigen Lifestyle zu tun? Sind wir nicht gesünder denn je? Immerhin werden wir ja immer älter …

CS | Ja, eine spannende Mischung, denn es gibt gleichzeitig mehr chronische Krankheiten. Heute fragt unsere Gesellschaft vor allem nach dem «Was». Was leiste ich? Was kann ich? Auf die Medizin bezogen, heißt das, dass man fragt, was gebraucht wird, um wieder gesund zu werden. Ich würde aber eher nach dem «Wie» fragen. Also, z.B. wie behandle ich die Patientin, wie aufmerksam und fürsorglich mache ich meine Arbeit. Dadurch kommt auch der Faktor Lebensqualität und eine gewisse Tiefe in die therapeutische Beziehung und den individuellen Weg der Patientin mit rein. Ich bin dafür, dass die Medizin wieder stärker auf dieses «Wie» schaut und Menschen darin bestärkt, ihr Leben im Einklang mit sich selbst zu gestalten – unabhängig davon, ob gesund oder krank. Das ist nachhaltiger als eine reine Reparaturmedizin, weil es einen Weg, eine Entwicklung aufzeigt, sich selbst besser zu verstehen und für weitere Krisen, die ja völlig normal sind und die es immer geben wird, besser gewappnet zu sein.

NH | Sie machen sich sehr für Fragen der weiblichen Gesundheit stark. Was ist das eigentlich, eine «weibliche Gesundheit»?


CS | Gesundheit entsteht da, wo Körper, Seele und Geist in Harmonie schwingen können. Das gilt für Mann und Frau. Bei Frauen sieht dieses Schwingen allerdings etwas anders aus. Ihr Schwingen hat eindeutig einen zyklischen Charakter mit einer größeren Schwingungsweite, das ist hormonell so angelegt. Für diese pendelnden Bewegungen bei Frauen interessiere ich mich – gerade als Frauenärztin – besonders. Ein bisschen bildlich gesprochen: Gesundheit ist bei Frauen ein immerwährender Tanz, eine ewige Veränderung, ein ständiger Auf- und Abbau. Vielen Frauen ist das aber gar nicht bewusst oder sie gestehen es sich nicht zu, dass auch ihre Kräfte zu- und abnehmen. Sie denken, sie müssten immer total gleichbleibend stark und leistungs­fähig sein. Heute gilt es ja als normal, rund um die Uhr zu funktionieren. Viele sind aber ausgelaugt von diesem Anspruch. Wenn Frauen in meinem Coaching reali­sieren, dass sie nun einmal lebendige Wesen sind, die auf und ab schwingen dürfen, blühen sie richtig auf.

NH | Wie wirkt sich das denn auf die Gesundheit der Frauen aus, die Sie begleiten?

CS | Das hängt davon ab, warum diese Frauen bei mir sind. Wenn zum Beispiel eine Frau seit Jahren über Müdigkeit klagt, schon bei sämtlichen Ärzten und Ärztinnen war, alles abgeklärt ist und man keine körperliche Ursache findet, dann ist dieses Konzept des wieder «Schwingen-Dürfens» eine von mehreren Möglichkeiten, wieder mehr Kontakt zu den eigenen regenerativen Kräften zu bekommen. Oder ein anderes, klassisches Beispiel: Nach und nach spricht eine Klientin darüber, dass sie sich seit Jahrzenten selbst übergangen und ihren eigenen Bedürfnissen nach Rückzug und Erholung nicht nachgegeben hat. Statt­dessen ist sie immer und immer wieder über ihreGrenzen gegangen. Inzwischen kann sie gar nicht mehr stillhalten. Sie weiß nicht mehr, was ihr guttun würde, um sich zu erholen. Aus diesem Teufelskreislauf wieder herauszufinden, ist ein ganz indivi­dueller Weg. Da hilft eines meiner Lieblingsmantras: «Der Körper sagt immer die Wahrheit.» Du fühlst dich müde? Dann suche dir einen Rahmen zum Erholen. Beim Joggen bekommst du Bauchschmerzen? Dann ist das heute nicht richtig für dich. Du merkst, diese eine Freundschaft tut dir nicht gut? Dann lass sie in Liebe gehen

NH | Was kann die Medizin, auch ohne individuelles Coaching, da leisten? Wo müssen wir umdenken, um Frauen und ihren Bedürfnissen besser gerecht zu werden?

CS | Einfach zyklischer denken! Das Zauberwort heißt Rhythmus. Schlafen, essen, trinken, An- und Entspannung – alles geht besser, wenn wir in rhythmischen Kreisläufen denken. Das muss viel stärker in die Medizin einfließen. Die rhythmische Natur des Menschseins muss in den Therapie­plänen berücksichtigt werden. Und zwar bei Frau und Mann. Der Rhythmus ist eine große Kraftquelle. Wenn wir ihn nicht stärker einbeziehen, vergeuden wir wertvolle Ressourcen.

NH | Geht das denn auch im ganz normalen Alltag eines Krankenhauses, mit Patienten und Patientinnen, die nur wenige Tage auf Station sind?

CS | Häufig sind es die kleinen, aber wichtigen Momente. Ein Coaching oder ein heilsamer Impuls braucht nicht immer viel Zeit. Ob wir uns wirklich gesehen und verstanden fühlen, entscheidet sich häufig in Sekunden. Es kann ein mitfühlender Blick in die Augen sein, eine Berührung, ein Moment der gemeinsamen Stille. Ich habe vor einigen Monaten eine besondere Geburt ärztlich begleitet und war in diesem Moment so beeindruckt von der Stärke und Kraft dieser Frau, die trotz ihrer Angst bei sich selbst geblieben ist. Noch während der Geburt habe ich ihr das gesagt. Im Nachhinein konnte sie sich nicht erinnern, von wem das kam, sie hat nur erzählt, dass sie dieses Gefühl von Stärke und Kraft für immer in ihrem Herzen tragen wird.

NH | Sie beziehen sich in Ihrer Arbeit auf die Anthroposophische Medizin. Was spricht Sie an dieser Perspektive am meisten an?

CS | Für mich erkennt die Anthroposo­phische Medizin die universellen Gegebenheiten des Menschen einfach am klarsten. Zum Beispiel beim Menschenbild mit den vier Dimensionen des Menschen: physischer Körper, Lebenskraft, Seele und Bewusstseinsraum sowie das höchste Selbst. Alleine, dass ich über solche Konzepte in der Anthroposophischen Medizin reden, die mitdenken kann, ist für die Patienten, Kolleginnen und mich ein klarer Vorteil.

NH | Nun haben wir in Deutschland seit Kurzem einen neuen Gesundheitsminister. Wenn er plötzlich ausfiele und Sie bekämen den Job: Was würden Sie heute noch ändern?

CS | Es wären dicke Bretter, aber ich würde trotzdem heute anfangen: Ich würde die Pflege sofort besser ausstatten, besser be­­zahlen, mit Anerkennung und Respekt überschütten. Auch für uns Ärzte muss sich etwas ändern: Wir brauchen endlich mehr Raum für die Begegnung mit den Patientinnen. Ihre Begleitung darf nicht ge­­winn­orientiert laufen müssen. Dienstpläne würde ich auch ändern, dass nicht alles ewig auf Kante genäht ist. Jede Ärztin muss für weniger Patienten zuständig sein. Und noch etwas Konkretes aus der Geburtshilfe: Wir brauchen mehr Hebammen und auch mehr Familienzimmer für die gerade frisch gebackenen Eltern!

NH | Wenn man sieht, was Sie alles machen – Ärztin in der Klinik, Gesundheits-Coach, in den sozialen Netzwerken aktiv, außerdem ehrenamtlich engagiert: Wo nehmen Sie die Kraft und Zeit für all das her?

CS | Na ja, auch bei mir gab es Phasen, wo das nicht geklappt hat. Aber ich habe angefangen, mich und meinen Körper ernst zu nehmen. Mich auszuruhen, wenn ich müde bin und mehr zu machen, wenn ich mich aktiv fühle. Klingt trivial, ist es aber nicht. Natürlich ist das in der Klinik oft nur eingeschränkt möglich, aber das ist zumindest meine Haltung. Je stärker ich meine Grenzen respektiere, desto besser geht es mir. Und dann kann ich mich auch total für andere und meine Projekte reinhängen.

5 – thema

Wenn Joyce die Sirenen singen lässt

Zum hundertsten Geburtstag des Ulysses

von Evelies Schmidt


Drei Frauen waren es, die den Mut zur Veröffentlichung eines Romans hatten, dessen Neuartigkeit und literarische Klasse sie sofort erkannten: Ulysses. Die ersten beiden, Margaret Anderson und ihre Partnerin Jane Heap, gaben in New York eine Zeitschrift für avantgardistische Literatur und Kunst heraus, die Little Review. Ezra Pound, der von England aus als Redakteur entscheidende Hinweise gab, spielte für James Joyce den Missionar. Seit April 1918 druckten die beiden Amerikanerinnen Ulysses kontinuierlich ab, bis 1919 unbehelligt. Dann wurden einzelne Nummern der Zeitschrift konfisziert und verbrannt. Und schließlich sahen sich die Herausgeberinnen 1920 vor Gericht zitiert, wo man sie der Veröffentlichung obszöner Literatur für schuldig befand. Sie mussten den Abdruck des Romans einstellen. Damit erlosch für James Joyce auch jede Hoffnung, dass der Verleger Huebsch in New York eine Buchausgabe wagen würde. Hier trat nun die dritte Frau auf den Plan, auch sie Amerikanerin: Sylvia Beach. 1919 hatte sie in Paris eine Buchhandlung und Leihbücherei für englischsprachige Literatur eröffnet, Shakespeare and Company. Durch die französische Buchhändlerin Adrienne Monnier wurde sie persönlich mit dem von ihr hoch geschätzten Autor bekannt und entschloss sich spontan, den Ulysses zu verlegen.

 

«Das ist das Schönste, was wir je haben werden», so Margaret Anderson nach der Lektüre der ersten Worte der Proteus-Episode: Unausweichliche Modalität des Sichtbaren: zumindest dies, wenn nicht mehr, gedacht durch meine Augen. Die Handschrift aller Dinge bin ich hier zu lesen, Seelaich und Seetang, die nahende Flut, den rostigen Stiefel dort. (Zitiert nach der Übersetzung von Hans Wollschläger.)

Leicht hätte der Initialfunke meiner eigenen Begeisterung für Ulysses ebenfalls hier, in der 3. Episode des Romans, auf­flammen können. In der Anfangsszene, wo Stephen Dedalus, am Strand von Sandy­mount entlangwandernd, philosophisch mit seiner Wahrnehmung experimentiert: sehen, nur sehen, und dann, bei geschlossenen Augen gehen, nur hören. Wie er sich wahrnehmend the nebeneinander und the nacheinander – so die deutschen Wörter im englischen Text –, Raum und Zeit zu Bewusstsein bringt. Und ich glaube, es war Stephens innere Frage: Am I walking into eternity along Sandymount strand?, die in mir den Wunsch weckte, selbst einmal dort entlangzugehen. Aber meine erste Lektüre-Erfahrung mit Ulysses setzte weder bei Stephens Wahrnehmungsexperiment ein noch am Romananfang, sondern bei der 11. Episode. Und das war sicher ein besonderes Glück. Tollkühn kopfüber einzutauchen in den Originaltext und bei den Sirenen zu landen.

Der erste Satz: Bronze by gold heard the hoofirons, steelyringing. Sehen und hören. Zwei (Metall-)Farben Seite an Seite, die für die Haarschöpfe zweier Damen stehen – wie sich bald herausstellt (golden getürmtes Haar) –, und dazu der Klang materiellen Metalls draußen auf der Straße, Eisen und Stahl. Bardamen sind es wohl – eine hüpfende Rose auf atlassenen Atlasbrüsten. Und sollte jetzt noch ein Zweifel bestehen, so wird er durch das Strumpfbandklatschen wenig später aufgelöst. Mannigfaltige männliche Gäste bevölkern nach und nach die Bar. Ein schwerhöriger, kahlköpfiger Kellner, bald Pat, bewegt sich durch den Raum.

Aber wo bleibt die Hauptfigur des Romans, der Dubliner Odysseus Leopold Bloom? So recht körperlich anwesend in der Bar wird er erst im zweiten Drittel, als er, Leber essend und Kartoffeln zermanschend, an einem Tisch mit blau geblümter Decke sitzt. Aber lautlich klingt er schon in der 6. Zeile an: Blew. Blue bloom – obwohl es im Kontext ein Pfeifenton ist, der blies (blew) und die blaue Blume im goldenen Haar der Bardame steckt. Und dann tönt es in Abständen immer wieder: Bloo … blooming … Bloom. Old Bloom … Bloowho … Bloowhose … greaseaseabloom … Bloom wird Gegenstand eines abfälligen Gesprächs zwischen den Bardamen. Ihn selbst bekommen wir vorerst von Ferne zu sehen und in innerem Monolog zu hören, während er sich noch durch Dublin bewegt, immer näher auf das Ormond Hotel zu. Gepeinigt von eifersüchtigen Gedanken, denn Blazes Boylan, der Liebhaber seiner Frau Molly, ist jetzt auf dem Weg zu ihr, wie er weiß. Gleichzeitig verzehrt sich Bloom in sehnsüchtigen Gedanken an die von ihm verehrte Martha, der er einen Brief schicken will.

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