Buch lesen: «a tempo - Das Lebensmagazin»

Schriftart:


1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

1 – über a tempo

2 – inhalt

3 – editorial Dass die Zeit sich öffnet von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Gesundheit beginnt lange vor der Geburt Gabriela Stammer im Gespräch mit Julia Meyer-Hermann

5 – augenblicke Auf den Spuren von Olav H. Hauge in Südnorwegen von Elisabeth Weller

6 – verweile doch ... Lichtgeschehnisse von Brigitte Werner

7 – erlesen «Untreuen» von Kirsty Gunn gelesen von Anne Overlack

8 – thema Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt. Zum 100. Geburtstag von Paul Celan von Christa Ludwig

9 – mensch & kosmos Kosmische Zutaten für Beziehungen von Wolfgang Held

10 – das gedicht Hölderlin 11 / 12

11 – kalendarium November 2020 von Jean-Claude Lin

12 – der himmel auf erden Acht ausgeliehene Glühbirnen von Yaroslava Black

13 – erfinder & visionäre Lise Meitner. Ein Brief evrändert die Welt von Daniel Seex und Wolfgang Held

14 – sprechstunde Wenn Bewegungen wirken von Markus Sommer

15 – warum ich ohne kafka nicht leben kann Die großartigen Mikrogedichte einer (sch)mächtigen Frau von Elisabeth Weller

16 – sehenswert Der Lebemann als Mann fürs Leben von Konstantin Sakkas

17 – aufgeschlagen «Homemade» von Eleanor Ozich

18 – wundersame zusammenhänge Im Kreuzfeuer von Statistiken von Albert Vinzens

19 – literaratur für junge leser «Winterpony» von Iain Lawrence, gelesen von Simone Lambert

20 – mein buntes atelier Jurek und das Rentier von Daniela Drescher

21 – danke & glückwunsch Tonke Dragt … ganz nah bei uns von Jean-Claude Lin

22 – weiterkommen Miteinander und doch individuell von Edward Dusinberre

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut Wahre Liebe. Bedingungslos! von Renée Herrnkind

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Ein verschmähtes Werk von Jean-Claude Lin

27 – bücher des monats & werbeanzeigen

28 – impressum

3 – editorial

Dass die Zeit sich öffnet

Liebe Leserin, lieber Leser!

Neulich bin ich umgezogen – aus dem Haus, in dem ich dreiunddreißig Jahre gelebt habe. Das Haus war verkauft worden und wird abgerissen, um Platz zu machen für fünf neue teure Wohnungen. Es ist das Schicksal vieler Einfamilienhäuser in solchen Stuttgarter Straßen, besonders in Hanglage. Am Vorabend der Übergabe an meinen freundlichen Vermieter versammelten wir uns, meine fünf Kinder und deren Partnerinnen und Partner sowie meine drei Enkelkinder, auf dem Balkon mit dem schönen weiten Blick in den abendlichen Sonnenschein – ein letztes Mal den etwas wilden Garten mit seinen Rosenstöckchen und Hortensien genießend. Hier hatten wir mit meiner Frau des Öfteren gesessen und gegessen und insbesondere den späten Sommer genossen. Die drei letzten unserer Kinder wurden in diesem Haus unter den fürsorglichen Händen unserer Hebamme Helga Dietrich geboren. Meine Schwiegermutter ist hier gestorben, wie auch ihre Tochter, meine Frau Susanne, die vierzehn Jahre lang die Kinderseite dieses Lebensmagazins mit ihren Anregungen und Rätseln gefüllt hat …

Die Kinder und ihre Lieben fingen an zu erzählen, was sie Besonderes in diesem Haus und diesem Garten erlebt hatten: die Feste zu Weihnachten, aber besonders zu Ostern mit dem Suchen der Ostereier und dem Spaziergang davor, damit der Vater Zeit hatte, Osterhase zu sein – denn dem einen Frühwachen blieb das nicht lange ein Geheimnis, wer der Osterhase war … Das offene Haus wurde oft erwähnt – für die vielen Freunde und Gartenfeste. Aber dann erzählte einer vom Packen des Ford Transits für die Sommerferien: das ganze Gepäck für sieben, manchmal sogar acht Personen, samt vier Fahrrädern, alles im großzügigen Kofferraum mit Decken und Schlafsäcken zwischen den Sitzbänken, damit die Kleinen bei der Nachtfahrt sich hinlegen konnten. Und dann wurde es mir bewusst: So schön ein gemeinsames Wohnen, ein Zuhause auch mit all den Erfahrungen eines reichhaltigen heiteren Familienlebens ist, noch schöner – zumindest für mich – war das Unterwegssein mit meiner Frau und meinen Kindern.

Das waren Momente, in denen Raum und Zeit zusammenschmolzen, «dass die Zeit sich öffnet», wie der norwegische Dichter Olav H. Hauge es in unserer Reportage beschwört. Aber auch in so einem Moment des Abschiednehmens von einem Ort öffnet sich die Zeit und lässt etwas Dauer oder Ewigkeit in unser Leben hinein. Und das ist Glück und Dankbarkeit!

Mit euch, ihr Lieben

eine Weile wohnen

immer unterwegs sein

Von Herzen grüßt Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, in diesem November

Ihr




4 – im gespräch

gesundheit beginnt lange vor der geburt

gabrilla stammer im Gespräch mit julia meyer-hermann

Fotos: Wolfgang Schmidt

«Schwanger sein heißt, guter Hoffnung sein – und Hoffen heißt, die Möglichkeit des Guten zu erwarten.» So hat es Mitte des 19. Jahrhunderts der dänische Philosoph Sören Kierkegaard formuliert. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts würden das wohl die wenigsten so ausdrücken – und das liegt nicht nur an der ungewohnt poetischen Sprache. «Werdende Eltern haben heute unglaublich viel Angst. Die freudige Erwartung ist vollkommen in den Hintergrund getreten», sagt Dr. Gabriela Stammer, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe aus Wennigsen bei Hannover (www.aerztepraxis-klosteramthof.de). Die Gynäkologin ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft Anthro­posophischer Ärzte in Deutschland (www.gaed.de und www.100jahrezukunft.de). Zusammen mit einem Gremium aus Frauen-, Kinder- und Jugend-Ärztinnen und -Ärzten, Hebammen und Eltern hat sie die Arbeitsgemeinschaft «Wir von Anfang an. Schwangerschaft und Geburt als Grundlage der Gesundheit» mitbegründet und dazu gemeinsam einen Kongress initiiert, der die gegenseitige Würdigung aller Beteiligten im Fokus hatte.

Julia Meyer-Hermann | Frau Stammer, woran liegt es, dass werdende Eltern heute mehr Angst haben als früher? Die Geburtshilfe in Deutschland hat die kindliche und die mütterliche Sterblichkeit auf einen historischen Tiefstand gebracht. Die Vorsorgeuntersuchungen innerhalb der Schwangerschaft werden immer genauer.

Gabriela Stammer | Die Pränataldiagnostik hat offensichtlich dennoch nicht dazu geführt, dass die natürlichen Vorgänge und Veränderungen in einer Schwangerschaft als normal empfunden werden. Bei den diversen Vorsorgeuntersuchungen, den Ultraschall-Kontrollen, dem Glukosetoleranztest, den Blutentnahmen geht es darum, eine Abweichung vom Normalen festzustellen. Viele Schwangere fühlen sich dabei, als seien sie schwanger unter Vorbehalt: Was sagt denn der Nackentransparenztest? Was bringt der Organ-Ultraschall ans Licht? Warum ist der Kopf denn so klein und der Oberschenkel so kurz? Dass wir alle der Norm nicht wirklich entsprechen, gerät bei der Vermessung während der Schwangerschaft in Vergessenheit.

JMH | Das könnte von Medizinerseite aber doch entsprechend erklärt und relativiert werden.

GS | Die kritisch-ängstliche Wahrnehmung wird aber von Fachseite oft geteilt und das hat unter anderem juristische Gründe. Viele Frauenärzte haben Angst, etwas zu übersehen, was ihnen zum Vorwurf gemacht oder wofür sie verklagt werden könnten. Den Kinderärzten geht es später ebenso. Auch die Hebammen haben Angst, einen Fehler zu machen. Eigentlich ist die gesamte Begleitung von Schwangerschaft und Geburt von Unsicherheit und Angst geprägt.

JMH | War das der Auslöser für die Gründung der Initiative Wir von Anfang an. Schwangerschaft und Geburt als Grundlage der Gesundheit?

GS | Auslöser für unsere Arbeitsgruppe aus Gynäko­logen und Kinderärzten war der Kongress Kindergesundheit heute, an dem ich vor einigen Jahren mitgearbeitet habe. Wir haben damals festgestellt, was für ungeheure Defizite es langfristig mit sich bringt, dass es zum einen keine gute Schwangerschafts­begleitung und zum anderen außerdem keine genügende Kommunikation und keinen Wissenstransfer zwischen Frauen­ärzten, Hebammen und Kinderärzten gibt. Diese Professionen sollten Hand in Hand arbeiten, tun das aber nicht. Wir Gynäkologen sind nur zuständig dafür, dass das Baby groß genug aber nicht zu groß ist. Ab einer gelungenen Geburt und einem APGAR-Wert* von 9-10-10 sind wir raus aus der Verantwortung. Kinder­gesundheit beginnt aber bereits vor der Geburt – und damit meine ich nicht, dass eine Schwangere natürlich keinen Alkohol konsumiert. Das ist selbstverständlich. In der ärztlichen Geburtshilfe gibt es einfach bislang zu wenig Studien über das weitere Leben der Kinder – besonders, wenn die Schwangerschaft normal verlaufen ist. Der Dialog über die Grenzen des eigenen Fachbereichs wird zu wenig geführt.

* Die Abkürzung APGAR steht für: A – Atmung; P – Puls, G – Grundtonus (Körperspannung), A – Aussehen (Hautfarbe) und R – Reflexe. Mit Hilfe eines Punktesystems wird ausgewertet und zum Schluss die Punkte zur APGAR-Zahl addiert.


JMH | Was für Konsequenzen hat die mangelnde Kommu­nikation zwischen den Fachärzten?

GS | Ein Beispiel: die Wochenbett-Depression. Als Frauenärztin sehe ich Mütter nach der Geburt nicht mehr oft. Wer sie häufiger sieht und mit ihnen spricht, sind die Kinder- und Jugendärzte. Die haben aber kaum Zeit auf das Wohlbefinden der Frauen zu achten, weil sie so eine Fülle an Fragen bei ihren Untersuchungen abarbeiten müssen. Wenn man bereits in der Schwanger­schaft wüsste, wer der zuständige Kinder- und Jugendarzt sein wird, könnte man einige wichtige Informationen vorab austauschen. Dann hätten Kinder- und Jugendärzte die Kapazität, auch die Gesundheit der Mutter oder die des Vaters wahrzunehmen und Handlungsbedarf zu erkennen. Die Verfassung der Eltern ist auch für das Kind zentral. Es ist ganz wesentlich, wie selbstbewusst, entspannt oder ängstlich die Bezugsper­sonen mit ihren Kindern umgehen. Ein Kind spürt beispielsweise sofort, wenn man es mit unsicherem Griff anfasst und reagiert darauf oft mit Unruhe oder sogar Bauchschmerzen.

JMH | Dürfen Eltern denn nicht unsicher sein? Das klingt nach hohem Erwartungsdruck in der ohnehin ganz schön stressigen Anfangszeit mit einem Neugeborenen.

GS | Unsicherheit ist ganz natürlich. Schwierig ist die Kombination aus Perfektionsdrang, dem Wunsch nach Kontrolle und fehlendem Urvertrauen zu sich selbst. Wir haben heute mit einer Eltern-Generation zu tun, die es gewohnt ist, dass immer jemand aufpasst, damit nichts passiert. Das war früher nicht so, weil den Eltern schlicht die Zeit dafür gefehlt hat. Seit etwa Mitte der 1970er Jahre steht neben Kindern immer ein Erwachsener, der ihnen hilft, etwa wenn sie irgendwo heraufklettern. Gleichzeitig fehlt aber inzwischen der Verbund, der Sicherheit versprochen hat. Wir leben heute nicht mehr in Groß­familien. Früher war immer jemand im Haushalt, der schon ein Kind groß gezogen hatte. Unsere Eltern haben auch oftmals noch ihre kleineren Geschwister versorgt. Sie haben von klein auf mitbekommen, wie man stillt und wickelt, ein Kind hält, es Bäuerchen machen lässt. Das waren Normalitäten. Die sind weggebrochen und müssen neu erlernt werden.

JMH | Die Großfamilie wird kein Comeback erleben. Was schlagen Sie vor, um Unsicherheiten abzubauen?

GS | Es wäre sinnvoll, Elternseminare während der Schwanger­schaft zu institutionali­sieren. Die sollten genauso als normale Kassenleistung finanziert werden wie Geburtsvorbe­reitungskurse. In solchen Kursen könnte man alle Alltagsfragen thematisieren, beispielsweise die passende Kleidung, Zu-Bettbring-Riten, gute Kinderbücher. Man könnte mit werdenden Eltern regelmäßig kochen und ein Bewusstsein für Ernährung und gute Qualität von Nahrung schaffen. Viele junge Erwachsene wissen nicht, wie man Mahlzeiten zube­reitet und nicht nur Fertig­gerichte aufwärmt. Dass Diabetes zunimmt, liegt nicht nur am Übergewicht der Menschen, sondern auch daran, dass unsere Gesellschaft viel zu viel versteckten Zucker konsumiert.

JMH | Gibt es für solche Kurse überhaupt Fachpersonal? Derzeit haben schwangere Frauen doch schon Probleme,überhaupt eine Hebamme oder einen Gynäkologen zu finden. Auch die Anmeldung im Krankenhaus ist schwierig, die Kreißsäle sind immer öfter überfüllt.

GS | Es ist viel Vertrauen in die Geburtshilfe verloren gegangen – von Seiten der Eltern und auch von Seiten der Fachkräfte. Die Arbeitsmarktsituation ist so schlecht, dass viele aus diesen oft belastenden unerträglichen Bedingungen geflohen sind. Dadurch hat sich die negative Spiralbewegung noch verstärkt: Zeitlicher, wirtschaftlicher und juristischer Druck werden in der Geburtshilfe immer dominanter. Wir haben im Kreißsaal oft einen Betreuungsschlüssel von 1:5 oder 1:8 – eine Hebamme betreut bis zu acht Frauen gleich­zeitig! Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Komplikationen und dann zu einem Kaiserschnitt kommt.

JMH | In Deutschland wird bei 30 Prozent der Geburten ein Kaiserschnitt gewählt. Woran liegt der Rückgang «normaler Geburten»?

GS | Das Problem ist auch, dass eine normale Geburt einfach zu schlecht bezahlt wird. In den 1990er Jahren ist die Geburtshilfe in das System der DRG, der Diagnosis Related Group (Diagnosebezogene Fallgruppen), eingestuft worden. Aber eigentlich kann man eine Geburt nicht in so eine Diagnose­gruppe und mit so einer Fallpauschale einordnen, weil sie einfach nicht kalkulierbar ist. Ich fordere schon lange, dass jede normale Geburt mit dreitausend oder sogar fünftausend Euro für das Krankenhaus bezahlt wird. Das würde genug Luft schaffen, um mit der angemessenen Geschwindigkeit oder eben auch Langsamkeit zu arbeiten.

JMH | Ist der zeitliche Druck die Hauptursache dafür, dass immer mehr Frauen berichten, sie hätten unter der Geburt gelitten? Und was kann getan werden, den Druck zu mildern, damit nicht Angst, sondern die Freude aufs Kind überwiegt?

GS | In der Geburtshilfe ist ein vertrauensvoller Umgang unglaublich wichtig. Eine Geburt ist immer ein Grenzerlebnis, ein Schwellenerlebnis. Manchmal ist dabei keine Zeit für verbale Kommunikation. Manchmal erleben die Frauen – oder auch das Paar – einen Kontrollverlust, der schwer auszuhalten ist. Das ist dann erträglich, wenn man vorher das entsprechende Vertrauen aufgebaut und das Gefühl hat, bei jemandem gut aufge­hoben zu sein. Wir brauchen viel mehr Zeit für Beziehungsmedizin. Umso mehr freue ich mich darauf, neue Impulse zu bekommen aus einer guten Zusammenarbeit zwischen den Professionen. Die Gesundheit unserer nächsten Generationen wird es uns danken. Und die ist ja unser gemeinsames Ziel.


5 – augenblicke

Auf den Spuren von

Olav H. Hauge in Südnorwegen

von Elisabeth Weller (Text und Fotos)

Hat Olav H. Hauge nicht in einem rot gestrichenen Holzhaus mit Blick auf den Hardangerfjord gewohnt?» Stein Olav Kolås, der Großneffe des Dichters, lacht amüsiert auf, als er meine Irritation beim Anblick des weißen Hauses, vor dem wir stehen, bemerkt. «Doch», sagt er, «dazu kommen wir später».

Ich bin von Ulvik den Berg hoch gestiegen, folgte einem Wegzeiger und vernahm hinter hohen Himbeerstauden Stimmen, sonst hätte ich vermutlich von den verlockend roten Hauben genascht. Plötzlich steht ein drahtiger 50-jähriger Mann in T-Shirt, kurzen Arbeitshosen und roter Baseballkappe vor mir. Ich frage ihn nach dem Haus des Dichters Olav H. Hauge (1908–1994) und er meint, ich hätte Glück, denn er habe heute Zeit, mir dessen Haus zu zeigen, er müsse sich nur kurz die Hände waschen. Einstweilen schaue ich mir, erneut irritiert, die mit Obstspalieren gesäumten Hänge an. Wie auf dem Reißbrett ziehen die kargen, beschnittenen Jungbäume den Berg hinab. Als ich den Blick nach oben richte, sehe ich auf den höchsten Bergkuppen in der Ferne mitten im August noch weiß leuchtende Flecken: Schneefelder. Da kommt mir Hauges Gedicht Der Winter hat vergessen in den Sinn:

Der Winter hat weiße Kühe im Gebirg vergessen,

da weiden sie an grünen Hängen.

Doch die Frühlingssonne und das Gras sind zu stark,

die Kühe magern ab mit jedem Tag.

Irritiert vom Anblick der getrimmten Obstspaliere bin ich, da ich zehn Tage lang, den ganzen Weg von Kristiansand über Bergen bis Ulvik, im Tagebuch Hauges von stattlich ausladenden Apfelbäumen gelesen habe, deren Namen einen altehrwürdigen Glanz ausstrahlen, wie es sich nun einmal für das Symbol der Verführung gehört: «Victoria geerntet und den Rest Rote Prinzen. Begonnen mit Tveit-Äpfeln. Manche sind noch beim Gravensteiner», heißt es am 5.9.1960. Ernte, Hagel und Sturzregen finden sich in Hauges Tagebuch ebenso wie komplexe Übersetzungs- und Lektüregedanken zu Hölderlin, Zen-Buddhismus und Mystik. Zwischen Natur und Literatur lassen sich Verbindungen erkennen. So sind Gedichte für Hauge wie Pflaumen, «sie sehen nicht übel aus», heißt es am 21.8.1960, aber bei den kleinen Sachen habe man eben auch immer wieder «viel Plackerei». Hier erkennt man seinen trefflichen Humor ebenso wie den Dichter der bevorzugt knappen Form. Einige Gedichte erinnern an Haikus, sind Tautropfen statt Gedankengebirge. Hauge macht wenige Worte mit Licht und Luft dazwischen.

Dies gilt vor allem für die Lyrik seines fünften Gedichtbandes Tropfen im Ostwind von 1966, der in Norwegen zum Kultbuch wurde.

Säge

Schrapp,

sagt die Säge.

Gut Holz.

Sie sagt, was

ihr deucht, die Säge.

Dieses Gedicht, in dem ein Objekt auf witzige Weise anthropomorphe Züge trägt, erntete von der damaligen Hippiejugend begeisterte Pfiffe, als er es mit 64 Jahren im altmodischen, akkuraten Anzug 1972 auf einem Literaturfestival rezitierte, wie ich am nächsten Tag im vortrefflichen Hauge-Museum, das sich unten in Ulvik direkt am Fjord befindet, in einem Kurzfilm sehen werde. Er hat den Zeitgeist getroffen und genießt wie ein Popstar seinen Auftritt. Die Dichtung war aber auch vor diesem späten Durchbruch die Rettungsplanke seines Lebens, wovon das Gedicht Ich treibe zeugt.

Ich treibe

In Wind, in Wellen.

Bin auf einen Balken gekrochen

Und bin stolz, dass er geschnitzt ist.

In einem seiner Gedichte bezeichnet Hauge sich selbst als Holzschnitzer. Schnitzen ist wie das Dichten eine Hand-Arbeit, bedarf der Kunstfertigkeit ebenso wie der Tradition. Dies reflektiert er in seinem Tagebuch auf handfeste Art und Weise: «Tradition ist ein starker Fluss, der die Baumstämme vieler tragen kann. Es nützt nichts, das Holz auf der eigenen Pisse zu flößen, es kommt nicht weit.» So wurde Hauge, der die norwegische Lyrik in die Moderne führte, für Jon Fosse, den Doyan der norwegischen Literatur, zum erklärten Vorbild. Da der überwiegende Teil der Häuser in Norwegen aus weiß, rot oder ockerfarben gestrichenen Holzhäusern besteht, gibt es reichlich Gelegenheit, geschnitzte Türen und Fenstereinfassungen zu bewundern. Übertroffen werden sie nur durch die auffallend schönen Hochspeicher, Stabbur genannt, auf den stattlichen Gutshöfen im Numetal bei Kongsberg. Überdimensionierten Schmuckschatullen gleich sind sie mit Schnitzereien reich verziert. Ihr Äußeres verdeutlicht den Wert ihres Inhalts und stellt gleichzeitig den Reichtum ihrer Besitzer zur Schau. Sie bilden damit einen deutlichen Kontrast zur kargen Landschaft der Hardangervidda, der fast menschenleeren Hoch­fläche, die wir auf unserem Weg von den Fjorden Westnor­wegens zu den fruchtbaren Tälern Ostnorwegens durchquerten.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

€3,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
96 S. 44 Illustrationen
ISBN:
9783772572517
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format: