Kleines Bernstein

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4. Nebel

Kirnis trug ein weiteres Bündel trockenes Brennholz herum, das er selbst hackte und zu so großen Scheiterhaufen aufstapelte, dass es für all die Winter reichen würde, die ihm noch blieben. ›Warum nur schleppst du, Kirnis, du alter Krieger, Brennholz durch die Gegend, wie oft haben wir dir doch schon gesagt, dass du das Deine getan, dem Anführer nach Kräften gedient hast. Dein Schild und dein Speer stehen an die Wand gelehnt in deiner Hütte und warten darauf, mit dir im Grab ihre letzte Ruhe zu finden.‹ Aber was konnte man einem Greis schon sagen, welcher uralte Greis würde denn auf einen hören?

Kirnis zwängte sich mit einem weiteren Bündel Brennholz an Selija vorbei durch die Tür, an einem Fuß ein luxuriöser Lederstiefel, unterhalb des Knies zugeschnürt mit einem Riemen, dessen Schnalle glänzte, und Glöckchen daran, die leise klingelten – klingeling –, wenn Kirnis langsam seine alten Beine anhob, ein luxuriöser Lederstiefel, den Kirnis einem Germanen vom Fuß genommen hatte, nachdem er zuvor seine Brust mit seinem langen, meisterhaft gefertigten Speer durchbohrt hatte. Kirnis sagte, da sei auch ein anderer Schuh gewesen, vom selben Germanen, genauso schön, gleichfalls aus Leder, mit Riemen und Anhängern, sogar die Bewohner anderer Siedlungen seien gekommen, um ihn sich anzusehen, so schön und einzigartig sei er gewesen, nur glaubt ihm das kaum einer mehr, denn Kirnis’ anderes Bein war mit Pelzen umwickelt, sowohl im Sommer als auch im Winter, Kirnis war weder kalt noch heiß, doch die Anhänger bimmelten immer – klingeling.

»Kirnis, du lieber Kirnis, du uralter Greis, wo ist denn dein Schuh, wo ist dein Verstand?«

»Verbrannt«, erwiderte Kirnis, er sagte immer dasselbe.

»Wirklich verbrannt«, sagten die Älteren, die sich noch daran erinnerten. Damals, vor langer Zeit, als Gondas noch nicht gehen konnte und sich erst langsam auf die Beine stellte, erhielt sein Vater eine Nachricht, ob gut oder schlecht, weiß allein die Göttermutter. Julian, der für Kaiser Nero die Gladiatorenkämpfe veranstaltete, hatte Gesandte an die Ostseeküste geschickt, um Bernstein für ihn zu erwerben. Eine Gruppe Reiter, einige Händler und viele weitere Männer waren schon seit einer Woche am Meer unterwegs und tauschten allen Bernstein, den die Küstenbewohner gefunden hatten, gegen Geld ein. Man sagte, sie seien vierzig Tage lang ohne Rast gereist und deshalb wütend und erschöpft angekommen, ihre Pferde prusteten und scharrten mit den Hufen den Boden, glänzten in der Sonne – der Schweiß und die gute Rasse –, die Reiter stellten Schilde und Schwerter auf den Boden, wie sie hier noch keiner gesehen hatte, ihre Händler aber waren friedlich und wussten genau, was sie wollten.

Gondas’ Vater, der erfahrene Krieger und oberste Stammesführer, war benachrichtigt, man musste über das weitere Vorgehen entscheiden. Im Heiligen Hain wurde umgehend eine Versammlung der Männer des Stammes einberufen, sie besprachen die Angelegenheit, berieten sich mit der Göttermutter, und schließlich erkannten sie, dass sie selbst an die Küste reisen und nachsehen mussten. Nebel kann man nur vor Ort auseinandertreiben.

Kirnis rückte die Schuhriemen zurecht, nahm seinen Schild und den Speer mit der schmalen und kurzen Spitze zur Hand, scharf genug, dass er bei Bedarf sowohl aus einiger Entfernung als auch aus der Nähe kämpfen konnte. Als zweitstärkster Mann folgte er auf Gondas’ Vater, Kirnis war schlau und erfahren, auch wenn es noch viele andere Männer gab, ging er immer neben dem Anführer und kämpfte um kein Haar schlechter.

»Nein, Kirnis, du musst hierbleiben«, sagte Gondas’ Vater. Kirnis blinzelte in die Sonne schauend, schnappte nach Luft, wusste nicht, was er sagen sollte.

»Jetzt, Kirnis, wo ich den Sohn Gondas habe, ist es deine Pflicht, dort zu sein, wo er ist, um ihn zu beschützen.«

Kirnis blinzelte in die Sonne schauend, schnappte nach Luft, wusste nicht, ob das eine Ehre oder sein Niedergang war, doch dem Stammesführer widersetzt man sich nicht.

Es verging kein Tag, und Gondas’ Vater versammelte die stärksten Männer und die schärfsten Speere – man konnte ja nie wissen, ob jene Krieger und Händler Gutes oder Böses im Sinn hatten, sie würden unsere Länder durchqueren, wer weiß, ob in Frieden oder raubend und mordend –, und sie setzten sich, kaum hatten sich die Morgennebel gelichtet, auf ihre Pferde oder liefen in Richtung Küste los, ihre Kinder und Frauen ließen sie in der Obhut von Kirnis und einiger Vertrauter zurück. Unruhe stellte sich ein. Kirnis wusste als alter Krieger mit gutem Riecher, was das bedeutete.

Ein seltsames dumpfes Grollen kam immer näher, Kirnis wusste, das war kein Gewitter und auch keiner der anderen natürlichen Donner. Pferdehufe polterten über die Erde. Ihre Erde. Dem alten und mutigen Krieger Kirnis stockte das Herz. Am Klang erkannte er, wie ungleich die Kräfte verteilt sein würden. Diese verfluchten Langobarden, so nannten sie die Germanenstämme: Wer weiß, welcher genau es diesmal war, die Gotonen, Lugier oder auch Burgunden, grausam und gierig, sie hatten alle nur eins im Sinn – fette Beute. Kirnis hatte schon Siedlungen gesehen, die sie verwüstet hatten, obwohl er noch keinem von ihnen begegnet und auch keinen niedergekämpft hatte.

Kirnis wusste, die wenigen Männer wären nicht genug, er wusste, dass die Schutzzäune mit den spitzen Pfosten die Langobarden nicht aufhalten würden. Sie mussten möglichst schnell fliehen, in die Erdhöhlen kriechen, die sie für das Getreide gegraben und von außen gut mit Mist abgedeckt hatten, vielleicht würden diese Scheusale sie ja dort nicht finden.

›Gondas. Ich muss immer da sein, wo er ist, und ihn beschützen.‹ Kirnis packte Gondas, steckte ihn unter einen Arm und stürmte wie ein Wilder davon. Den Speer in der einen Hand, den Schild in der anderen, die Mutter folgte ihm laut kreischend, sie begriff vielleicht nicht einmal, was in ihn gefahren war, warum er mit ihrem Kind davonlief, mit ihrem Leben, sie hatte doch kein anderes; die vom Geschrei geweckten Leute aber, alte Männer und Frauen liefen ihnen samt den Kindern hinterher. Jetzt hörten alle das Grollen, ihre Herzen blieben vor Angst stehen, die Füße zertrampelten das Getreide, wer weiß schon, ob sie es überhaupt noch brauchen würden.

Es schrie nur die Mutter, ihr hatte jemand das Kind weggenommen, die anderen schwiegen beim Rennen, bewahrten den letzten Schrei für den Abschied auf, wenn ein Langobardenspeer sich in ihren Rücken bohren würde oder auch ein Schwert in ihr Herz.

5. Met

Kirnis rannte voran, Gondas, den er unter den Arm geklemmt hatte, schlief, seine Mutter kreischte, wenn jemand euer Kind davontrüge, würdet ihr auch schreien, dieser Verrückte, Gondas’ Mutter bedauerte, dass sie kein Messer dabei hatte, sie würde es ihm in den Rücken rammen, das Grollen kam immer näher, während die Glöckchen seiner Stiefel immer weiter bimmelten, das hatte gerade noch gefehlt.

Die Mutter hörte die Pferde nicht, nur den Atem des schlafenden Kindes, es war noch so klein, erwachte nicht einmal, wenn es herumgetragen wurde, und das wurde es, weil man es schon verstecken musste. Die Mutter weinte, ohne Tränen, der Abend nahte, Wind kam auf, die Bäume rauschten gleichgültig.

Kirnis legte Waffen und Kind auf den Boden, grub mit den Händen ein Loch in den Mist, die Mutter hob Gondas auf und wandte sich um, sah die anderen angelaufen kommen, erst jetzt wurde ihr klar, was eigentlich los war. Das Grollen war nun ganz nah, es dämmerte, man konnte kaum etwas sehen; Kirnis schob die Leute in die Erdhöhle, so viele Platz fanden, zuerst die Mutter und Gondas, die anderen gruben sich in andere Erdhöhlen durch, krochen hinein, die Männer schlossen die Höhlen von außen wieder mit Mist. Auch die stärkeren Frauen blieben draußen, erhielten jede ein Messer und einen Speer mit schmaler und kurzer Eisenspitze, scharf genug, dass sie bei Bedarf sowohl aus einiger Entfernung als auch aus der Nähe kämpfen konnten.

Alle rannten zurück ins Dorf, so wären sie nicht in der Nähe der Erdhöhlen, wenn ein Kind weinte oder einer der Alten es nicht mehr aushielt und stöhnte. Die schützende Palisade stand schon in Flammen: ›Gleich brennen auch alle Häuser‹, dachte Kirnis bei sich, es herrschte Trockenheit, es dämmerte, das Löschen war ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wiehern der Pferde und die ihre Schwerter schwingenden Langobarden mit ihren vor Gier geweiteten Nüstern. Kirnis hatte weder Frau noch Kinder, in den Diensten von Gondas’ Vater hatte er nie die Zeit gefunden, um darüber nachzudenken – und das war gut so, denn er musste dessen Kind beschützen.

Die Häuser in der Nähe der Palisade brannten schon lichterloh, sie waren aus Holz, schön mit Lehm verputzt. Rauch, Schreie, Metall auf Metall, der stumme Abschiedsgruß der Sterbenden an die Göttermutter.

Kirnis drückte die Wildschweinfigur, die an seinem Hals hing: »Beschütze mich, beschütze Gondas«, und stach zu. Immer wieder, wo immer er ein Loch in der Rüstung ausmachte; den Speer hielt er in die Höhe, die Vandalen stürzten von ihren Pferden, Kirnis, blutüberströmt, wer weiß, ob es ihr Blut war oder seines, er würde später nachsehen, jetzt stach er einfach immer wieder zu. Er, der alte Krieger, hatte viele Schlachten geschlagen, aber nie zuvor hatte er eine solche Wut im Bauch gespürt, er wusste, wenn nicht er, dann niemand, ein paar Männer und Frauen, es wurden immer weniger, Kirnis sah, wie die Vandalen in ihren Häusern herumtrampelten und das Beste mitnahmen. Kirnis hörte nicht auf zuzustechen, der Geruch von Blut und Hass war stärker als der schwärzeste Rauch.

Er würde nicht fliehen, aber auch nicht sterben, das durfte er jetzt nicht, er musste dort sein, wo Gondas war, und ihn beschützen. Stille trat ein, keiner lebte mehr, nur Kirnis und die Vandalen, sie lachten laut, zeigten einander, was sie gefunden hatten, und klimperten nicht mehr mit Schwertern, sondern mit dem Silber. Kirnis drückte sich an die Außenwand des Eckhauses, den Speer fest umklammernd für den Fall, dass eines dieser Scheusale ihm zu nahe kam. Ein Schuh war weg, offenbar hatte sich der Riemen gelöst, alles stand in Flammen, Kirnis’ Haare waren versengt, das Feuer kam immer näher, er legte sich ins Gras und kroch leise zum Wald hin los. Die Vandalen setzten sich schon auf ihre Pferde und verschwanden johlend in der Dunkelheit.

 

Es war Kirnis’ kühnste Schlacht, aber auch seine letzte. Kirnis’ Haus brannte im Gegensatz zu den meisten nicht nieder, daher brachte er Gondas zu sich, und dessen Mutter folgte ihm. Alle im Dorf hatten Angst und schwiegen, starrten mit leeren Augen in die nächtliche Finsternis – aber was hätten sie dort sehen sollen? Am Morgen machten sich die Überlebenden sofort an die Arbeit und räumten in den Brandruinen auf, sammelten herumliegende Sachen ein, fingen ein paar entlaufene Pferde der Langobarden ein, während Gondas seine ersten festen Schritte ging und Kirnis Schild und Speer an die Wand im großen Raum seiner Hütte stellte, wo sie bis zu seinem Tod auf ihn warten würden. Nach jener Schlacht verstummte Kirnis, beantwortete nicht einmal mehr Fragen, sogar als Gondas’ Vater zurückkehrte, sagte er nichts, erklärte nichts, sondern übergab Gondas nur schweigend seinem Vater, sah sich in der ausgebrannten Siedlung um, das linke Bein hatte er schon mit Pelzen umschnürt, und nur die Glöckchen des rechten Schuhs bimmelten wie gewöhnlich – klingeling, klingeling.

Die Häuser wurden wieder aufgebaut, Silber häufte sich an, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang, nur Kirnis verlegte sich auf das Herumtragen von Brennholz und ließ sich nicht beirren. In der warmen Jahreszeit saß er in seiner Hütte oder ging in den Wald, und sobald der Frost kam, tat er alles, was nötig war, um Gondas vor der Kälte zu schützen. Manchmal öffnete er auch einfach die Tür, sah nach Gondas und ging wieder nach Hause, ohne zu jemandem ein Wort zu sagen, er atmete die Luft ruhig ein, schnupperte, ob alles in Ordnung war, drehte den Kopf zur Seite und horchte, ob da keine Pferde waren, fremde, die eigenen kannte er, er zog nie mehr mit Gondas’ Vater aus, selbst wenn er ihn dazu einlud, aber weder eine Frau noch Kinder hatte er je, niemand begriff, was er ferner zu tun oder wohin er zu gehen gedachte, niemand sah ihn je mehr glücklich oder traurig, also vergaß man ihn und ließ ihn in Ruhe auf den allein der Göttermutter bekannten Wegen wandeln.

Wenn Kinder oder Frauen an guten Tagen gerade nichts zu tun hatten und jemanden necken wollten, dann sagten sie:

»Kirnis, du lieber Kirnis, du uralter Greis, wo ist denn dein Schuh, wo ist dein Verstand?«

»Verbrannt«, erwiderte Kirnis, er sagte immer dasselbe.

Es braucht so wenig, dass der Verstand verbrennt.

Einmal reisten Soldaten des Kaisers Nero auf den Handelswegen an der Ostseeküste und brachten von dort so viel Bernstein nach Rom mit, dass man damit das Podium der Gladiatorenkämpfe und die Knoten des Netzes zum Schutz vor den wilden Tieren verzieren konnte, während der Sand der Arena, die Leichentragen und die Utensilien, die für Abwechslung bei den täglichen Prozessionen sorgten, aus Bernstein bestanden. Sie brachten winzige Stücke mit und auch sehr große, die mehr als ein neugeborenes Kind wogen.

Die Häuptlinge der Ästier bereiteten ihnen einen freundlichen Empfang, töteten keinen von ihnen und tauschten den Bernstein gegen eine Fülle von Silber, Münzen und anderen Schätzen ein, an denen Männer und Frauen gleichermaßen Gefallen fanden. Sie bereiteten ihnen einen freundlichen Empfang, töteten niemanden, denn wer bekommen hat, was er wollte, kommt wieder.

6. Tränen

Wie jeden Frühling würde auch dieses Jahr der Tag kommen, an dem sich alle freuten, tanzten und sangen, der richtige Tag, um den Willen der Göttermutter zu erfahren, um sie um Gefallen zu bitten. Das war Frauenarbeit, die Männer mischten sich nicht ein, sie hatten ihre eigenen Pflichten, als Soldaten und Händler, die Frauen hätten sie auch gar nicht teilnehmen lassen, es überstieg die Kräfte der Männer, sich um Geburt, Fruchtbarkeit, Ernte und ähnliche Angelegenheiten zu kümmern, mit der Natur zu beraten.

Wenn der Schnee langsam schmolz und die Tage länger wurden, sahen sich die Frauen allmählich rastlos um, schienen stets auf etwas zu warten, aber keine ahnte, worauf – nur die Alte mit den Wolfsbissen am Bein wusste es, sie rief plötzlich alle zusammen, sagte, es sei Zeit; und alle Frauen, ob jung oder alt, ob voller Kraft oder kränkelnd, wenn die Beine sie nur trugen, die Wohlhabenden und sogar die Sklavinnen, flochten, bevor die Dämmerung hereinbrach, ihre Zöpfe, wuschen das Haar mit Kräutersuden, damit es im Abendrot so richtig glänzte, hüllten sich in ihre schönsten Schleier, ließen Kinder und Männer zurück und eilten auf den Lindenhügel, fröhlich und außer Atem; alle liefen sie hin, die jungen und die alten, als wären sie jung, sie spürten keinen Schmerz, sie spürten weder das Knirschen der Gelenke noch die Alltagsmüdigkeit noch irgendeine Art von Furcht: Du bist am Leben, solange du auf den Frauenberg steigen kannst, und wenn du das nicht mehr kannst, wozu dann leben?

Sie mussten auf den richtigen Augenblick warten, wenn Tag und Nacht gleichlang waren; nur die alte Frau wusste Bescheid, sie bereitete sich vor, kochte Trünke für alle und Tollkirschensalbe für die Greisinnen: Die Zutaten waren jetzt vorhanden, die dünnen Frühlingskräuter hatte sie schon in den Kessel geworfen, das Quellwasser und der Zauber der Alten entzogen ihnen ihre Essenz; nur in den Händen der Alten wurden sie so, sonst grünten sie nutzlos, auch die anderen alten Frauen wussten viel über Kräuter, die Hexen, sie wussten zu heilen und zu verzaubern, doch nur die Alte mit den Wolfsbissen am Bein wusste, wie sie sich mit der Göttermutter unterhalten musste, sie um Gnade und Erlaubnis bittend, ihr die auf der Zunge liegenden Fragen stellend; nur sie kannte die Sterne und sah, wann der Tag lang genug war zum Feiern und Bitten.

Ihre Geheimnisse hütete die Alte wie ihren Augapfel. Aber sie war schon alt – was wäre nach ihrem Tod? »Seid beruhigt, habt keine Angst, die alte Frau mit den Wolfsbissen am Bein lässt euch nicht allein, sie weiß viel besser als ihr, wann der Tod kommt, und wird ganz sicher nicht von euch gehen, ohne eine von euch in ihre Geheimnisse eingeweiht zu haben.« Keine der Frauen wusste, wen von ihnen sie im Sinn hatte, alle wollten diejenige sein und warteten voller Ungeduld, aber es war nicht an ihnen zu wählen, die Alte würde die Geeignetste nennen, die Göttermutter würde sie auswählen, und ihr könnt nicht anders, als ihrem Willen zu folgen.

So tanzten jetzt alle ihre Reigen, flochten die ersten Kränze, ganz kleine noch aus kurzen Gräslein, gerade erst hervorgesprossenen, setzten sie sich oder eine der anderen auf, spritzten mit frischem Wasser um sich, nicht eine von ihnen sah nach, ob die andere ihr eine Freundin oder verhasst war, sie gaben sich so, wie sie es nur ohne Männer taten, sangen Lieder, traurige und auch fröhliche, wie sie gerade an die Reihe kamen, wie die Alte sie anstimmte, die anderen begleiteten sie nur, machten Feuer, erbaten bald die eine bald die andere, was ihr Herz begehrte oder woran es in ihrem Heim mangelte, baten um eine gute Ernte, um Weizen, Gerste und Hafer, dazu ein wenig Roggen und Hirse, dass die Kinder nicht hungrig wären, baten darum, dass weder wilde Tiere noch Krankheiten sie heimsuchten, baten um Kampferfolg für ihre Männer, baten um Silber und andere wunderschöne Dinge, baten um Kinder, wenn sie keine hatten, baten um Ruhe, wenn sie schon von allem reichlich hatten. Sie hörten nicht auf zu bitten, so wollte es der Tag, so wollte es das Fest, die Göttermutter erhörte eine jede, sah jede Träne, man durfte sie selbst wegen des kleinsten Begehrens stören. So sagte es die Alte mit den Wolfsbissen am Bein, wer sollte es auch besser wissen als sie?

Sie tranken, was die Alten für sie zubereitet hatte, für jede einen eigenen Trunk, die Alte achtete genau darauf, dass sie nicht verwechselt würden. Auch Selija schlürfte den ihren, die Alte reichte ihr eine rote Flüssigkeit zur Reinigung, so eine würde nicht einmal die Göttermutter erhören, aber was soll’s, Selija wusste, was sie wollte und bekam es auch. Und auch Glesum trank, die anderen hatten sie gegen ihren Willen hergebracht, völlig verängstigt hierher gezerrt; sie stand starr vor Angst da, glaubte vermutlich, man würde sie opfern, aber nein, du Dummerchen, dieses Fest ist nicht von dieser Art, keine Opfer, der Weihrauch, den die Alte aus Bernsteinstaub gemischt und ein wenig weiter weg von den Tänzerinnen unter der Linde mit den meisten Ästen entzündet hat, um die Göttermutter zu betören und ihr Herz zu erweichen, damit keine der einfachen Frauen verletzt würde, ist genug. Die Alte reichte Glesum ihren Trank, damit sie sich beruhigte, sie würde noch lange hier weilen, wie sollte sie alles aushalten, die Ärmste – sie musste zu Kräften kommen, um für all das bereit zu sein, was sie erwartete. Die Alte mit den Wolfsbissen am Bein streichelte Glesums Haar: »Mein Kind, womit hast du das alles verdient, der Sturm wird sich legen, alles wird gut, du wirst leben.« Und wirklich, Glesum kam zur Ruhe, eine starke Friedlichkeit löste den Blick des verängstigten Wolfswelpen ab.

Auch die anderen tranken, bis die alte Frau zum Abschiedstanz lud, zum allerschönsten; eine nahm die andere an der Hand, und so bildeten sie einen riesigen Kreis, beugten sich vor und wieder zurück wie im Fieberwahn, wussten nicht mehr, wer sie waren, in ihrer Weiblichkeit erstarkt, zu einer Einheit, zur unteilbaren FRAU geworden, deren Stärke für Nöte erforderlich war. Als der Gesang verstummt war, eilten alle nach Hause, noch benommen, überglücklich, zurück blieben nur einige der Ältesten und die Alte mit den Wolfsbissen am Bein.

Wer bleiben durfte, wusste es selbst, sie setzten sich unter die alte Linde, der Bernsteinstaub war schon aufgebraucht, und strichen sich Achselhöhlen und Knöchel mit Tollkirschensalbe ein, murmelten halblaut wer weiß was, die Alte mit den Wolfsbissen am Bein führte sie – sie verwandelten sich in Kolkraben oder schwarze Wolken, erhoben sich in die Lüfte und flogen davon, um sich mit den Alten der anderen Stämme zu treffen, landeten auf den Ästen der Linden, schnatterten und erfuhren so den wahren Willen der Göttermutter, die dieses Jahr dies und das versprach, sowohl Besseres als auch Schlechteres. »Das Leben wird nicht so, wie ihr es gerne hättet, aber es wird zum Aushalten sein, wie immer.«