Irland - Tückische Insel

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Saufen und beten

Bei den meisten Unglücken ist Alkohol mit im Spiel. Das gilt zwar auch für andere Länder, aber für Irland ganz besonders. Nehmen wir zum Beispiel Joseph McElwee aus der Grafschaft Donegal. Als er vor seiner Stammkneipe eine Zigarette rauchte, weil das Rauchverbot in öffentlichen Räumen selbst in den entlegensten Winkeln der Grünen Insel eingehalten wird, kam der Polizist Nicholas Freyne vorbei.

McElwee kannte ihn, er wusste, dass er aus der Nachbargrafschaft Mayo stammte, und begann sogleich, ihn als »Mayo-Wichser« zu beschimpfen. Dann legte er ihm nahe, sich gefälligst »zurück nach Mayo zu den anderen Wichsern« zu verpissen. Der Wutausbruch dauerte geschlagene zehn Minuten. Freyne hörte sich alles in Ruhe an. Danach nahm er McElwees Personalien auf und zeigte ihn wegen Beleidigung, Androhung von Gewalt, Volltrunkenheit, schlechtem Benehmen und Missachtung der Anweisungen eines Polizisten an.

Vor Gericht erklärte McElwees Verteidiger, sein Mandant sei ein arbeitsloser Schreiner. Ein Handwerker, herrje! Er sei verheiratet, habe zwei Kinder und sei ein unbescholtener Bürger. Ja, er habe in seinem Leben bisher recht wenig geflucht. Irgendetwas müsse in den Getränken gewesen sein, argumentierte der Anwalt. Dafür habe der Richter sicher Verständnis.

Hatte er nicht. Mit Entsetzen vernahm McElwee, dass Richter Seamus Hughes mit breitem Mayo-Dialekt sprach. Die Voraussetzungen für einen Freispruch waren äußerst schlecht, das war McElwee klar. Ob er schon mal in Mayo gewesen sei, wollte der Richter wissen. Nein? Nun, dann solle er die Grafschaft kennen lernen. Hughes verurteilte den Angeklagten, binnen eines Monats auf den Croagh Patrick in Mayo zu klettern, vier Stationen des Kreuzwegs zu absolvieren und ein paar Gebete zu sprechen. Dann ändere McElwee vielleicht seine Meinung über die Leute aus Mayo.

Der Croagh Patrick ist der heilige Berg der Iren, Zehntausende von Sündern erklimmen ihn jedes Jahr zur Buße. Zwar ist er nur 753 Meter hoch, aber der Aufstieg ist mühsam. Die letzten 500 Meter sind eine Tortur. Der Weg führt über ein steiles Geröllfeld zum Gipfel. Irlands Schutzpatron Patrick, nach dem der Berg benannt ist, soll im Jahr 441 auf dem Gipfel 40 Tage gefastet und Pläne für die Christianisierung der Insel geschmiedet haben.

McElwees Anwalt lachte über den vermeintlichen Scherz des Richters, doch der meinte es ernst. McElwee wurde dazu verdonnert, in einem Monat erneut vor Gericht zu erscheinen – und zwar mit Beweisen, dass er auf dem Berg war. Wie um Himmels willen solle er das denn beweisen, fragte der Anwalt. »Ich werde ein paar Fragen stellen, die er nur beantworten kann, wenn er oben war«, sagte Hughes. »Und ich rate ihm, die Antworten parat zu haben.«

Joseph McElwee murmelte, er würde lieber in den Knast als in eine Grafschaft voller Wichser gehen, sagte das aber lieber nicht laut. Sonst hätte ihn Hughes womöglich dazu verurteilt, wie Patrick 40 Tage auf dem Berg auszuharren. Ohne Alkohol.

Die zwölf Iren, die ein Flugzeug auf dem Weg nach Jamaica zur Notlandung in Virginia zwangen, hatten mehr Glück mit ihrem Richter. Sie gehörten ein und derselben Familie an, obwohl die Verwandtschaftsverhältnisse nicht ganz klar waren: Die »Travellers«, wie das irische fahrenden Volk heißt, geben ihre Kinder oft in frühem Alter einer befreundeten Familie in Pflege, damit sie selbständig werden. Dabei behalten die Kinder ihren Namen oder nehmen den ihrer Pflegefamilie an – oder sie erhalten einen neuen Nachnamen.

Der US-Richter, dem die Familie nach der Notlandung vorgeführt wurde, war mit der Sache überfordert und ließ sie laufen. Der Einfachheit halber behaupteten einige Zeitungen, dass es sich um sechs Schwestern handle, die mit sechs Brüdern verheiratet sind und alle zwölf Driscoll hießen. Man wunderte sich, woher die Familie das Geld für einen Karibikurlaub hatte.

Warum aus dem Urlaub letztendlich nichts wurde, darüber gibt es zwei Versionen. Die Großfamilie sagte, sie habe unterwegs ein paar fröhliche irische Volksweisen angestimmt, was einem Mitreisenden nicht gepasst habe. Er habe sie aufgefordert, den Schnabel zu halten und, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, ein Bier über die Sänger gekippt. Daraufhin habe man ihm höflich erklärt, dass man sein Verhalten unangemessen finde. Dass der Pilot dann in Virginia gelandet sei und sie hinausgeworfen habe, liege wohl an antiirischen Vorurteilen. »Wir sind die Opfer«, sagte eine der Schwestern.

In Kapitän John Austins Bericht las sich das anders. Die zwölf seien bereits voll wie Nattern – Austin umschreibt es etwas milder – gewesen und hätten noch mehr Alkohol verlangt. Als man ihnen nur ein Getränk pro Person gab, öffneten sie verbotenerweise ihre zollfreien Einkäufe – Bier, Rum und Likör. Als auch diese Vorräte verbraucht waren, liefen die durstigen Menschen im Flugzeug herum und verlangten von anderen Passagieren, ihnen Alkohol zu beschaffen. Das ging fünf Stunden lang, bis einer der Mitreisenden die Nerven verlor und ihnen das verlangte Bier ins Gesicht schüttete. Daraufhin brach hoch über den Wolken eine Keilerei wie im Wirtshaus aus. Acht Besatzungsmitglieder warfen sich auf die ungezogenen Passagiere, und für einen Moment sah es so aus, als ob die Driscolls die Kontrolle über das Flugzeug erlangen würden.

Ein völlig normales Verhalten, meint die Luftfahrtpsychologin Helen Muir. »Menschen sind nicht dafür gebaut, für längere Zeit auf engstem Raum eingepfercht zu sein.« Möglicherweise werde es bald eine Air-Rage-Katastrophe geben, glaubt Muir: »Eigentlich merkwürdig, dass es nicht schon längst passiert ist. Wenn man Mäuse derselben Situation wie Passagiere aussetzt, dann fressen sie sich gegenseitig auf.« Da hat Kapitän Austin ja noch mal Glück gehabt.

Leute wie die Driscolls sind schuld daran, dass die Iren in den USA als Volk von Trunkenbolden gelten. Das meint auch der Anwalt John Stemberger aus Florida. Vor einem Gericht vertrat er ein irisches Ehepaar, dessen Tochter bei einem Autounfall in den USA ums Leben gekommen war. Sean McGrath, der Freund der Tochter, der den Leihwagen gefahren hatte, war betrunken. Stemberger verklagte die Mietwagenfirma: Jedes Kind wisse, dass man Alkohol am Steuer in Irland nicht so eng sehe. So sei die Wahrscheinlichkeit sehr hoch gewesen, dass McGrath angetrunken fahren würde. Schließlich sei er Ire, und deshalb hätte man ihm nie einen Wagen leihen dürfen.

Als die Einzelheiten des Prozesses in Irland bekannt wurden, gab es einen Aufschrei: Die Nation bzw. die Medien waren empört. Der Irish Independent wetterte, Stemberger sei Rassist. Und die sonst recht gesetzte Moderatorin einer morgendlichen Radiosendung tobte, als sie Stemberger zum Interview am Telefon hatte. Sie warf ihm vor, auch nicht besser zu sein als die englischen Karikaturisten des 19. Jahrhunderts, bei denen die Iren wie Affen aussahen.

Stemberger gab klein bei und änderte die Klageschrift. Jetzt sollte nicht mehr die irische Trunksucht schuld am Unfall gewesen sein, sondern die Tatsache, dass die Iren auf der falschen Seite fahren und nicht an gute Straßen gewöhnt seien – auf der Grünen Insel seien die Fahrbahnen voller Pflastersteine. Er meinte wahrscheinlich Schlaglöcher, denn Kopfsteinpflaster und Eselskarren sind auch in Irland selten geworden.

Stembergers Rückzieher löste plötzlich Selbstkritik aus: Vielleicht hat der Mann ja recht? Irland hat in Europa den höchsten Verbrauch pro Kneipensitzung, nämlich 4,5 Einheiten Alkohol. Aber es gibt auch eine ansehnliche Temperenzlerbewegung, der immerhin 100.000 Iren angehören. Die »Pioneers«, wie sie sich nennen, müssen stets eine Anstecknadel tragen, damit man sie schon von Weitem erkennt und ihnen nicht versehentlich einen Whiskey anbietet. Allerdings sind die »Pioneers« inzwischen genau so pleite wie die gesamte Insel. Der Vorsitzende Pádraig Brady klagte: »Unser Verband steht unmittelbar vor der Schließung, wenn wir nicht sofort 100.000 Euro erhalten.« Man habe vergessen, mit der Zeit zu gehen, meinte Brady. »Unsere Bewegung beruht zuallererst auf dem Gebet.« Ist beten denn so teuer? Jedenfalls will Brady von den 100.000 Abstinenzlern jeweils zehn Euro kassieren, um die Schulden zu begleichen. Wer nicht trinkt, kann auch nicht rechnen, meint Brady offenbar. Wenn er es schafft, den Mitgliedern eine Million aus der Tasche zu ziehen, hat er sich ein Fläschchen Champagner verdient.

Die Medien wünschen den »Pioneers«, dass sie überleben. Eine Zeitung klagte: »Wie oft hört man Leute sagen, dass sie sich auf ihre Urlaubsreise freuen, und dann geben sie damit an, wieviel sie dort trinken werden. Wir vergleichen die Menge Alkohol, die wir zu uns nehmen, und bewundern gegenseitig unsere Megakater.«

Allerdings können die Iren noch von den britischen Nachbarn lernen. Einer von ihnen, ein junger Mann, kniete auf dem Gehweg vor der Kneipe in Dublins Temple-Bar-Bezirk und übergab sich ständig. Sein Kopf war mit Rasierschaum und Konfetti bedeckt, seine Hände waren mit Handschellen aus gelbem Plastik gefesselt. Dennoch umklammerte er mit beiden Händen ein Glas Whiskey, dessen zahlreiche Vorgänger ihn offenbar in diesen erbärmlichen Zustand versetzt hatten. Um ihn herum standen sieben Freunde und erkundigten sich besorgt nach seinem Wohlbefinden: »Alles in Ordnung, Kumpel?« Aha, Engländer. Der Akzent ist auch in gelallter Form unverkennbar.

Es war eine jener »Stag Parties«, wie der Abschied vom Junggesellenleben anschaulich genannt wird. Der künftige Bräutigam und seine Freunde hatten dabei nur ein Ziel vor Augen: soviel Alkohol zu trinken, bis sie überliefen. Der junge Mann mit den Plastikhandschellen hatte sein Ziel bereits erreicht, die anderen sieben waren auch nicht mehr allzuweit davon entfernt.

 

Die Iren sind Invasionen von der Nachbarinsel gewöhnt. Keine davon war friedlicher Natur. Die »Hirschfeiern« sind es auch nicht. Seit sich herumgesprochen hat, dass die irische Hauptstadt trotz Rezession längst nicht mehr das verschlafene Nest früherer Zeiten ist, sondern über ein hektisches Nachtleben verfügt, fallen an den Wochenenden immer mehr Gruppen junger Engländer wie Heuschrecken über Dublin her. Je stärker die Sterling-Währung, desto mehr Heuschrecken. Dublin ist inzwischen eins der beliebtesten Kurzreiseziele in Europa.

Die meisten Pubs und Nachtklubs in der Innenstadt haben »Bouncer« eingestellt. Offiziell heißen sie »crowd control engineers«, Techniker für Massenkontrolle. Sie sind korrekt mit Anzug und Fliege gekleidet und unerbittlich, wenn sie eine Stag Party herannahen sehen. So schleichen sich die jungen Männer einzeln in die Pubs, um die Türdrachen zu überlisten. In den Hotels sind sie ebenfalls nicht gern gesehen: Einmal wollte eine solche Gruppe nach der Sperrstunde im Hotelzimmer weiterfeiern. Weil die Zimmer dafür zu klein waren, rissen die Barbaren kurzerhand die – zugegebenermaßen nicht sehr stabilen – Trennwände ein und verwandelten die Einzelzimmer in einen großen Schlafsaal. Da ihnen beim Feiern das Mobiliar im Weg war, lagerten sie es im Hof aus, und zwar auf dem kürzesten Weg: durch das Fenster im zweiten Stock. Seitdem fragt man bei telefonischen Reservierungen aus England nach Alter und Ehestand, wenn mehr als zwei Zimmer gebucht werden.

»Hen Parties« sind dagegen willkommen. Zwar geht es bei dem weiblichen Pendant zur Stag Party ebenfalls ums Trinken bis zum Abwinken, aber wenigstens sind Hühnchen friedlicher als Hirsche. Und sie sind besser organisiert, manch Wochenendplan sieht aus wie eine militärische Operation. Sie beinhaltet am Nachmittag das unvermeidliche Abenteuerspiel, bei dem es unter anderem darum geht, einen Polizisten zu küssen. Englischer Humor ist mitunter unergründlich. Die meisten Teilnehmerinnen kehren jedenfalls zufrieden nach England zurück, ohne sich an irgendwelche Einzelheiten ihrer Reise zu erinnern. Dublin ist vermutlich nicht nur eine der meistbesuchten Städte Europas, sondern auch die unbekannteste Stadt.

Aber ich will hier nicht nur die Inselvölker an den Pranger stellen. Mitunter trinke ich auch mal einen kleinen Schluck zuviel, und das hat manchmal peinliche Folgen. Als ich die Fünf-Liter-Kartons mit billigem französischem Landwein sah, ahnte ich, wie der Abend verlaufen würde. Es wurde dann noch schlimmer. Colm und Mary hatten uns sowie Declan und Nora eingeladen, weil sich unsere Töchter seit kleinauf kennen. Jetzt waren die Girls 17 und versuchten mit allen Mitteln, das Treffen zu hintertreiben, denn Eltern haben ein hohes Peinlichkeitspotential.

Declan und ich streiten uns jedesmal, wenn wir uns treffen, denn er hält die klotzköpfigsten Politiker für fähige Staatsmänner. Darüber hinaus bestreitet er, dass es in Afrika jemals Kolonien gab. Merkwürdigerweise kommt das Gespräch stets automatisch auf diese Themen. Diesmal mussten wir den Töchtern versprechen, unter keinen Umständen über Politik zu reden, und anfangs ging alles gut. Doch niemand hatte den Rotweinfaktor bedacht. Mary, die Gastgeberin, ist Stewardess und hatte von ihren Auslandsflügen einen enormen Vorrat an Weinkartons mitgebracht.

Die Mädels beobachteten uns argwöhnisch, zumal vier Austauschschülerinnen aus Deutschland und Frankreich dabei waren. Dann kam der fatale Augenblick, in dem ich Declan vorschlug, spaßeshalber einen Streit zu inszenieren, um den Töchtern einen Schrecken einzujagen. Declan war sogleich Feuer und Flamme und sang ein Loblied auf einen seiner Lieblingspolitiker. Leider hatten wir vergessen, Colm einzuweihen. »Was«, schnappte er nach Luft, »das ist doch ein Faschist!« Das war zuviel für Declan. Mit hochrotweinigem Kopf sprang er auf und pries die größten Versager in der irischen Politik. Die Töchter, deren schlimmste Befürchtungen sich gerade bewahrheiteten, hätten sich am liebsten Papiertüten über die Köpfe gezogen.

Ich versuchte, die Diskussion in andere Bahnen zu lenken, wählte aber das falsche Mittel: Ich nahm Declan in den Schwitzkasten und schlug ihm mit der Faust mehrmals leicht auf den Kopf. Für die Mädchen war das aus dem Garten, in den sie die Austauschschülerinnen bugsiert hatten, nicht als Scherz erkennbar. Für Declan wahrscheinlich auch nicht, nur Colm lachte lauthals und reichte mir einen Schürhaken, um Declan den Rest zu geben. Ich verzog mich vorsichtshalber für eine Weile auf die Toilette.

Als ich zurückkam, war Declan eingeschlafen. Er hatte jedoch Schluckauf, und bei jedem Schlucken schoss eine Fontäne Rotwein aus seinem Mund und ergoss sich über seinen weißen Freizeitanzug. Baby Jane, seine fünfjährige Tochter, war davon überzeugt, ich hätte ihren Daddy bewusstlos geschlagen, und aus seinem Mund liefe Blut. Mary, die Gastgeberin, war ebenfalls eingeschlafen, würgte aber in ihrem Delirium so furchterregend, dass ihr jemand den Hundenapf auf den Schoß gestellt hatte. Colm schnarchte auf der Gartenbank, und irgendwann bin auch ich eingenickt. Die Austauschschülerinnen machten unterdessen eifrig Notizen für den nächsten Brief nach Hause. Áine, die keinen Rotwein mag, fuhr dann alle heim. Die Töchter sprachen eine Woche lang kein Wort mit ihren Vätern. Sie brachen das Schweigen nur, um zwischen den Elternpaaren eine Kontaktsperre zu verhängen. Seitdem müssen wir uns heimlich im Pub treffen. Aber auch das hat seine Tücken.

Der Pub gilt in Irland als sozialer Knotenpunkt. Manchmal kommt es jedoch ganz anders. Wir hatten uns ausgerechnet Cumiskey’s am Dubliner Broadstone als Stammkneipe ausgesucht, als man in den Pubs noch rauchen durfte und mit Pfund bezahlen musste. Vater und Sohn Cumiskey, denen der Laden gehörte, hatten den festen Vorsatz, sich nicht nur gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen, sondern auch ihren Gästen. Der alte Aidan ging dabei allerdings gewitzter vor als sein einfältiger Sohn Stephen.

Der erste Eindruck war bereits prägend: Die Kneipe war vom Fußboden bis zur Decke in Alt­rosa gehalten, was auch ohne Alkohol desorientierend wirkt. Das war Absicht. Der kleine, drahtige Aidan, mit schlohweißen Haaren und knielanger grauer Strickjacke, schlich unauffällig zwischen den Tischen herum und tat so, als ob er leere Gläser abräumte. Wer sich davon einlullen ließ, hatte schon verloren: Im Handumdrehen war das halbvolle Guinness futsch. Spätere Proteste waren zwecklos.

Ich versuchte gar nicht erst, mein fast neues Guinness zurückzuerbeuten, sondern begab mich an die Theke, um ein anderes zu bestellen. Stephen hatte jedoch keineswegs die Absicht, ein Getränk herauszurücken. Er ignorierte mich. Nach einer Weile verlor ich die Geduld und beschwerte mich lauthals, was Stephen die Laune verdarb. Das allerdings löste beim Vater verblüffende Fröhlichkeit aus, was Stephen noch mehr auf die Palme brachte. »Was grinst du so blöd, du alter Zausel«, schrie er seinen Vater an, der inzwischen schallend, aber gehässig lachte. An mein Guinness war nicht mehr zu denken.

Nun griff mein Freund Phil ein, der in einem masochistischen Anfall ebenfalls Cumiskey’s als Stammkneipe auserkoren hat. Er brüllte Aidan an, er solle gefälligst seinen Arsch in Richtung Zapfhahn bewegen – schließlich habe er es mit Stammgästen zu tun. »Stammgäste werden bei uns nicht bedient«, meinte Aidan voller Häme und fügte hinzu: »Und jetzt verpiss dich.«

Phil ging schnurstracks zur Sitzbank in der Ecke und zog unter dem Polster das »Buch der Aidanismen« hervor – ein Oktavheft, in dem die Stammgäste sämtliche Gemeinheiten notieren, die Aidan ihnen angetan hat. Der Schrecken der Gäste ahnt nichts von der Existenz des Heftes, in das Phil nun ein neues Kapitel eintrug.

Stephen schmiss inzwischen ein Pärchen hinaus, das sich zu innig geküsst hatte. »Ihr verderbt die Kinder«, schnaubte er, während die Frau völlig vergeblich einwand, dass Kinder bei Cumiskey’s schon seit 15 Jahren Hausverbot haben. Als alles auf die jugendgefährdenden Küsser achtete, schaltete Aidan kurzerhand den Ventilator aus. Innerhalb einer Viertelstunde war die Kneipe so verqualmt, dass man die beiden Wirte nur noch schemenhaft erkannte. Die Stammgäste griffen instinktiv nach ihren Gläsern und hielten sie fest.

Einmal ging Aidan jedoch zu weit. Er zog mir das frisch gezapfte Glas Guinness weg. »Du wolltest mit Falschgeld bezahlen«, behauptete er, »die beiden Pfundmünzen sind ziemlich schlecht nachgemacht.« Zum Beweis ließ er eine auf den Tresen fallen: Sie hörte sich billig und blechern an, ganz im Gegensatz zu dem glockenreinen wertvollen Klang der echten Münze, die er zum Vergleich herangezogen hatte. »Außerdem ist die Fälschung dünner, und der Rand hat eine andere Riffelung«, sagte er. »Man erkennt sie aber auch an der Jahresprägung: 1999 wurden gar keine Pfundmünzen hergestellt.«

Ich hatte die ganze Tasche voller 1999-Pfunde. Ein Getränk würde ich hier dafür nicht bekommen, soviel stand fest. Ich musste sie anderweitig loswerden. Zwei Münzen konnte ich dem Zeitungshändler unterjubeln, drei drehte ich dem Milchmann an, doch als ich beim Tankwart mit 16 einzelnen Münzen bezahlen wollte, wurde dieser misstrauisch. »Die sind alle falsch, die sind von 1999«, zeigte er sich wohlinformiert.

Ich gab auf. Am nächsten Tag warf ich das Falschgeld in den Klingelbeutel einer kirchlichen Einrichtung und malte mir im Geiste aus, wie die frommen Herren in der Bank der Falschmünzerei bezichtigt würden. Am Abend kam im Fernsehen die Meldung, dass die irische Staatsbank eine neue Serie Pfundmünzen herausgegeben hatte, die etwas dünner sowie anders geriffelt waren und weniger Edelmetall enthielten, als die bisherige Version. Ich Schwachkopf hatte der katholischen Kirche echtes Geldes gespendet.

Der Versuch, Aidan für das Debakel mitverantwortlich zu machen, scheiterte. »Ich kann in meiner Kneipe machen, was ich will«, erklärte er. »Wenn ich montags keine Zehn-Pence-Münzen nehme und dienstags nicht an Brillenträger ausschenke, ist das meine Sache. Und heute bediene ich keine Nichtraucher.«

Wir suchten uns lieber eine neue Stammkneipe, kamen aber vom Regen in die Traufe. Eamonn, der Wirt des Pubs im Nord-Dubliner Arbeiterviertel Cabra, war gerade von einer Beerdigung in der Grafschaft Limerick im Westen Irlands zurückgekommen. »Der alte Wirt war gestorben«, erzählte er, »und zur Totenfeier gingen wir in seine winzige Kneipe. Und alle tranken Schnaps, selbst die Dorfjugend. Stellt euch den Umsatz vor.« Davon hatte der Wirt zwar nichts mehr, aber Eamonn bekam trotzdem leuchtende Augen. Seine Gäste trinken nämlich Bier. »Um denselben Profit zu machen«, sagte er, »müsste meine Kundschaft Bier trinken, bis sie klinisch tot wäre.« Nur wenn Hurling-Spiele im Fernsehen übertragen werden, bestellen die Leute Schnaps. Hurling ist eine traditionelle irische Sportart, bei der die Spieler mit einem Holzschläger, den sie wie eine Keule über dem Kopf schwingen, auf einen kleinen Lederball eindreschen. »Es ist das schnellste Mannschaftsspiel der Welt«, sagt Eamonn. »Weil die Fans nichts verpassen wollen, trinken sie Schnaps, damit sie nicht so oft auf die Toilette müssen.« Anhänger des gälischen Fußballs, der anderen, langsameren Traditionssportart, ziehen dagegen Bier vor und riskieren den Gang aufs Klo.

Vielleicht liegt es aber auch an den Kellnern und Kellnerinnen, dass die Gäste lieber auf Nummer Sicher gehen und die Bestellung möglichst simpel halten. Die meisten Pubs beschäftigen Jugendliche, die für ein mageres Taschengeld den ganzen Abend Getränke an die Tische schleppen. In den meisten Läden geht alles gut, doch Eamonn hatte eine abenteuerliche Crew angeheuert.

Ich bestellte einen »Black Bush«, um ihm eine Freude zu machen. Das ist ein milder Whiskey aus Nordirland. Fünf Minuten später servierte mir Veronica ein Halbliterglas mit einer schwarz­braunen Flüssigkeit, auf der zwei extrem rote Kirschen und ein künstliches giftgrünes Blatt schwammen. Dafür wollte sie zehn Euro haben. Ich brachte vor Verblüffung weder einen Ton noch das Portemonnaie hervor. »Sie hatten doch einen Black Russian bestellt.« Hatte ich nicht, ich bin doch nicht verrückt: Ein Schwarzrusse besteht aus Wodka, Tia Maria, Cola, Guinness und dekorativem Obst. Ich dagegen wollte nur einen kleinen Whiskey ohne Brimborium. »Na, macht nichts«, meinte Veronica, setzte das Glas an und trank es aus. Die Kirschen und das Blatt spuckte sie ins Glas zurück und gab einen allmächtigen Rülpser von sich.

Die nächste Bestellung nahm Joey entgegen – jedenfalls sah es so aus. Plötzlich ließ er sich aber neben mich auf die Bank plumpsen und stöhnte ganz erbärmlich. Er habe Grippe, sagte er, und die heißen Whiskeys würden auch nicht helfen. Dafür war er nun betrunken. Er begann, unseren Tisch mit einem alten Lappen zu wienern, wobei er sich jeden Quadratzentimeter einzeln vornahm. Nach zehn Minuten hatten wir den saubersten Tisch im ganzen Wirtshaus, wenn nicht sogar in Dublin. Dann begann Joey von vorne.

 

Als Veronica an uns vorbeischwankte, warf er ihr den nassen Lappen ins Kreuz. Daraufhin entwickelte sich zwischen den beiden ein munteres Handballspiel über die Tische hinweg. Schließlich landete der Lappen in meinem Black Bush, den ich mir inzwischen selbst von der Theke geholt hatte. Nun war ich zu Eamonns Freude reif für einen Black Russian. Und eine Uhr werde ich mir auch kaufen müssen. Zwar war ich eigentlich sehr gut ohne ausgekommen, aber manchmal ist es nicht ratsam, jemanden nach der Uhrzeit zu fragen. Im Pub kurz vor der Sperrstunde zum Beispiel, und die ist sonntags um elf. Man darf den Zeitpunkt für die letzte Bestellung nicht verpassen, will man nicht auf dem Trockenen sitzen.

Diesmal hatte Declan sein elektronisches Notizbuch vergessen, das uns in der Vergangenheit schon so manches Mal vor einer Dürre bewahrt hatte. Man kann es nämlich so programmieren, dass es kurz vor Zapfenstreich panische Warntöne ausstößt, so dass man noch drei Minuten für den Weg zum Tresen hat. Doch ohne den Last-Order-Piepser waren wir auf die Kooperation wildfremder Trinker angewiesen.

Der erste antwortete auf die Frage nach der Uhrzeit: »Noch Zeit für mindestens zwei Bier.« Diese vage Angabe nützte uns nichts, da der rotnasige Uhrenbesitzer so aussah, als würde er zwei Pints – das sind jene 0,56-Litergläser, in denen das Bier in Irland daherkommt – in Null Komma nichts hinunterstürzen. Der Richtwert für uns gesittete Alkoholkonsumenten liegt freilich weit darunter. Der nächste Beuhrte, der an unserem Tisch vorbeilief, lallte ein banales Sprichwort, das etwa so klang: »Der Glückliche schlägt dem Fass keinen Boden aus.«

Und dann kam Endora vorbei, die so hieß, weil sie Samanthas Mutter in »Verliebt in eine Hexe«, dieser wunderbaren Fernsehserie aus den sechziger Jahren, ähnlich sah. Endora machte ein solch glückliches Gesicht, als ob sie den ganzen Tag darauf gewartet hatte, dass sie jemand nach der Uhrzeit fragt. Es stellte sich heraus, dass sie in Wirklichkeit schon seit einer Woche darauf gewartet hatte, denn sie besaß eine neue Uhr, aber keine gewöhnliche. »Du kannst meine Uhr selbst fragen«, rief sie strahlend und hielt mir die Zwiebel dicht ans Ohr. Dann drückte sie einen Knopf, und die Uhr gab ein schnarrendes Geräusch von sich, als ob sie gerade einen Kolbenfresser erlitten hätte. »Nun weißt du es«, behauptete Endora, »fünf vor elf.« Das sollte die Uhr gesagt haben?

Im nächsten Augenblick flackerte das Licht mehrmals. »Es muss elf sein«, rief ich, »das war die Lichtwarnung für die letzte Bestellung.« Mitnichten, gab Endora zurück. Die Kneipenuhr müsse vorgehen. Das möge sein, wandte ich ein, aber es sei nun mal das offizielle Zeitmessgerät, das über Getränk oder Nichtgetränk entscheide. Nichts zu machen: Endora drückte mir die Uhr ans Ohr, bis ich das Schnarren richtig deutete: Jetzt war es eleven o’clock. Bei ihrer Mutter hätte es auch eine Weile gedauert, bis die Verständigungsschwierigkeiten mit der Armbanduhr über­wunden waren, tröstete sie mich.

Die 87jährige Mutter hatte vorher eine moderne Uhr mit Digitalanzeige besessen, die sie aber nicht sehen konnte, weil sie blind war. Die Tochter konnte die Uhr zwar sehen, aber nicht lesen, weil sie Legasthenikerin war. Dann stieß sie auf die sprechende Uhr und kaufte zwei Stück. Und nun drückte Endora noch mal auf den Knopf, damit auch die letzten Hoffnungen auf ein Bier verflogen: »Ten minutes past eleven.« Aus dem Mund der Uhr klang es fast höhnisch.

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