Der Profiler

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Behutsam legte ich meinen Kugelschreiber auf den Schreibblock und richtete ihn sorgfältig parallel zu dessen Oberkante aus, bevor ich antwortete. »Ist es der Umstand, dass ich eine Frau bin, der mich aus Ihrer Sicht in besonderem Maße dafür qualifiziert, diese Frage zu beantworten, Herr Beckmann?« Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Der ganz alltägliche Chauvinismus eines angegrauten Kollegen, wahrscheinlich nicht einmal böse gemeint, aber trotzdem unerträglich. Wem die Haare bis auf die Schultern reichen, ist prädestiniert zum Kaffeekochen. Am meisten ärgerte mich Krögers schmieriges Grinsen. »Fragen Sie doch den Herrn Kröger, der ist Junggeselle und macht vieles selbst, was sonst eine Frau macht.«

Wegener schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und ging mit einem gequälten »Lasst es bitte gut sein!« dazwischen, bevor Kröger sich öffentlich aufregen konnte. »Erzähl weiter, Rolf.«

Mit einem Seitenblick zu mir, halb spöttisch, halb skeptisch, setzte er seine Ausführungen fort. »Das Klebeband, mit dem er das Mädchen an den Besen gebunden hat, sieht auf den ersten Blick nach einem Massenprodukt aus, aber das untersuchen wir noch. Wenn es das ist, was ich vermute, bekommst du es in jedem Baumarkt westlich des Urals. Zunächst denkt man, damit könnte man nicht einmal einen toten Hering auf dem Teller festkleben, aber Irrtum. Drei Lagen von dem Zeug um die Handgelenke und nichts geht mehr.« Ich notierte mir, dies bei Gelegenheit auszuprobieren, auch wenn ich dem Urteil Beckmanns vertraute. Es wäre mir nicht eingefallen, seine fachliche Kompetenz anzuzweifeln, auch wenn er mir manchmal auf die Nerven ging.

»Fingerabdrücke haben wir jede Menge, wie nicht anders zu erwarten. Allerdings waren auf dem Klebeband definitiv keine, also hat er vermutlich Handschuhe getragen. Von den Nachbarn, die in der Wohnung waren, haben wir Abdrücke zum Abgleichen genommen. Morgen wissen wir mehr.«

»Was ist mit der Unterwäsche um den Hals und im Mund?«, mischte sich Kröger ein.

»Die Unterwäsche gehörte wahrscheinlich dem Opfer, ein String Größe 38 und ein Büstenhalter 80 C. Die Größen stimmen mit ihrer anderen Wäsche im Kleiderschrank überein. Vorausgesetzt sie schläft nicht in Unterwäsche – und das widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung –, sieht es so aus, als sei die Wäsche im Tatverlauf aus dem Schrank genommen worden.« Beckmann vermied es angestrengt, in meine Richtung zu sehen. Ich war froh, nicht auch noch als Expertin für die Schlafgewohnheiten der Frauen meiner Altersgruppe auserkoren zu werden.

»Auffällig dabei ist«, fuhr er fort, »dass es sich nach unserer Auffassung um ihre auffälligsten Dessous handelt. Schwarz mit Spitze, knapp geschnitten, keine teuren Stücke, aber auch keine Alltagswäsche, würde ich sagen.« Jedenfalls bestimmt nichts, was Beckmann von seiner Frau kannte. Da hatten anscheinend die Herren von der Spurensicherung die Arbeit für eine kleine Modenschau unterbrechen müssen. Sicherlich handelte es sich bei dem, was uns Beckmann zu diesem Thema vortrug, um die sorgfältig abgestimmte Meinung seines gesamten Teams.

»Wenn er sie vergewaltigt hat, haben wir kein Problem mit der DNA-Analyse. Wenn nicht, sieht es schlecht aus. Wir sind zwar noch nicht fertig, aber bis jetzt haben wir nichts gefunden, was wie DNA-fähiges Material aussieht. Selbst unter den Fingernägeln war auf den ersten Blick nichts zu holen. Entweder er hat ihr gar keine Chance gelassen, sie vielleicht sofort bewusstlos geschlagen. Oder sie hat sich gar nicht gewehrt, als ihr Mörder sie an den Besenstiel gebunden hat. Eventuell hat sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt sogar freiwillig mitgemacht.«

Hatten wir es mit einer Tat zu tun, bei der sich Täter und Opfer kannten? Bei der das, was als Sex-Spielchen begann, in Gewalt endete? Oder wurde Gabi Hellmann von einem – oder mehreren – Fremden umgebracht?

Mir graute bei der Vorstellung, die sexuellen Vorlieben der Toten recherchieren zu müssen. Ich notierte mir, in dieser Angelegenheit ihren Verflossenen zu befragen. Aber wie ermittelt man pietätvoll, ob die ermordete Exfreundin auf Fesselspielchen stand?

***

»Lass uns Schluss machen für heute, Hanna.« Wie auf Kommando sahen wir beide aus dem Fenster, es wurde bereits dunkel. Die Straßen würden frei sein, Sonntagabend, halb elf.

Hartmut sah erschöpft aus. Er hatte Ringe unter den Augen. Vor ein paar Tagen war er 45 geworden. In den zwei Jahren, seit er die Leitung der Mordkommission innehatte, war er sichtlich gealtert. Die Last der Verantwortung, die unregelmäßigen Arbeitszeiten und die Überstunden hinterließen ihre Spuren in seinem Gesicht. Der Umstand, dass er in letzter Zeit zudem offenkundig Stress mit seiner Frau hatte, tat sein Übriges. Er war kein Mensch, der sich im Büro aussprach, aber seine wechselnden Launen, die ich früher nicht von ihm kannte, und die halblaut geführten Telefonate ließen keinen Zweifel an seiner Verfassung.

Ich freute mich auf mein Bett und bedauerte die Kollegen mit Ausnahme von Horst Kröger, die bis in die Nacht hinein mit Routinearbeiten beschäftigt sein würden. Aus den Kommissariaten für Raub und Sittlichkeitsdelikte hatten wir Kollegen zusammengetrommelt, die nun ohne Rücksicht auf die Uhrzeit mit einem kleinen Fragebogen von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung zogen, um einen Nachbarn zu finden, der vielleicht die entscheidende Beobachtung gemacht hatte. Das musste sehr zeitnah geschehen, denn die Erinnerung an scheinbar unwichtige Details verblasst schnell. Die Aufklärung eines Mordes wird mit jedem Tag Abstand zur Tat schwieriger. Fälle, die nicht nach drei Tagen aufgeklärt sind, beschäftigen uns oft monatelang, mitunter sogar Jahre – oder werden nie gelöst.

Eine Einheit der Bereitschaftspolizei war dabei, die Vorgärten zu durchkämmen. Kröger hatte den Hauptgewinn gezogen: Er sollte – großzügig mit Hilfstruppen ausgestattet – die sichergestellten und sorgfältig registrierten Müllsäcke aus den Tonnen der Falkenstraße und der näheren Umgebung durchsuchen.

Mich erheiterte die Vorstellung, wie er in Kaffeefiltern, Essensresten und Zigarettenkippen stöberte, auf der Suche nach der Tatwaffe, Latexhandschuhen oder anderen Gegenständen, die der Mörder unterwegs entsorgt haben könnte.

Für die Fahrt von Linden, wo wir in der Hanomagstraße 11 unser Büro hatten, bis zu meiner Wohnung in der Südstadt benötigte ich dank der späten Stunde nur zehn Minuten. Im Berufsverkehr reichte bisweilen der dreifache Zeitansatz nicht aus.

Kaum hatte ich die Haustür aufgeschlossen, hörte ich, wie sich im ersten Stock eine Tür öffnete. Ich wusste sofort, um welche es sich handelte und was mir außer der angenehm kühlen Luft des Treppenhauses noch entgegenkommen würde. Mit einem Seufzer auf den Lippen nahm ich den Weg in den zweiten Stock in Angriff. Kaum hatte ich den ersten Treppenabsatz erreicht, fing es auch schon an.

»Frau Denkow, so geht es nicht.« Frau Brauner pflegte meinen Namen mit einem »ff« am Ende auszusprechen, obwohl ich ihr bereits mehrfach erläutert hatte, dass es sich um ein dehnendes, stimmloses »w« handelt. Ob sie es aus Dummheit oder Boshaftigkeit ignorierte, darüber war ich noch unschlüssig. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.

»Ja, Frau Brauner, ich weiß.«

Inzwischen hatte ich den ersten Stock erreicht und sah die Lärmquelle in ihrer Wohnungstür stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Alte Leute sollten um diese Zeit längst im Bett sein. Ohne meinen Schritt zu verzögern ging ich vorbei, was ihr Blut erfahrungsgemäß noch mehr in Wallung brachte.

»Sie sind dieses Wochenende für die Treppenhausreinigung zuständig, und das wissen Sie ganz genau. Jetzt ist es Sonntagabend, und nichts ist passiert«, keifte sie hinter mir her.

Während ich meinen Schlüssel aus der Handtasche fischte, sprach ich leise ihre nächsten Worte mit: »Ich habe drei Kinder großgezogen, mein Mann stand in Russland im Felde, und trotzdem habe ich immer getan, was getan werden musste.«

»Morgen, Frau Brauner, morgen.«

Sie rief noch etwas über den Lebenswandel von Leuten, die sonntags lange ausgehen, der Rest wurde bereits von der sich hinter mir schließenden Tür geschluckt.

Zu meiner Freude fand ich in meinem Zimmer auf dem Bett einen Stapel gebügelte Wäsche vor. Als ich zu Ralf und Michael in die Wohngemeinschaft zog, hatten die beiden etwas klischeehafte, fast mittelalterliche Vorstellungen von unserem Zusammenleben, die ich bei Studenten der Geisteswissenschaften so nicht erwartet hatte. Nachdem sie ihre Enttäuschung verwunden hatten, entwickelte sich ein harmonisches Miteinander fernab vom Rollenverständnis früherer Generationen. Jeder brachte seine Talente zum Wohle der Gemeinschaft ein, wobei meine Stärke zweifellos das regelmäßige Einkommen war, während meine Mitbewohner meine Defizite in Fragen der Organisation und Hauswirtschaft auszugleichen hatten. Inzwischen war es mir nicht einmal mehr peinlich, wenn sie meine Unterwäsche zusammenlegten oder ich ihnen Tampons auf den Einkaufszettel schrieb. Beide hatten sich lediglich verweigert, einen Termin beim Frauenarzt für mich zu verschieben.

Zurzeit waren Semesterferien und die beiden gestalteten ihr Leben noch unsolider als gewöhnlich, fanden aber anerkennenswerterweise zwischen Ausschlafen und Partys immer noch Zeit für ihre Pflichten im Haushalt. Bedauerlicherweise gehörte die Treppenhausreinigung nicht dazu. In einer schwachen Minute hatte ich die ausschließliche Verantwortung für diesen Frondienst übernommen – als Ausgleich für andere Tätigkeiten, die sicherlich nicht annähernd so viel Nerven kosteten.

Mir knurrte der Magen. Das Abendessen hatte aus einer Packung Keksen bestanden. Ich war auf dem Weg in die Küche, als mich mein Handy zurückrief. Marianne, ich hätte es mir denken können.

 

»Ich habe gerade von dem Mord in Ricklingen gehört. Warst du dort?«

»Ja, leider.«

»Und?«

»Es gibt schönere Beschäftigungen an einem sonnigen Sonntagnachmittag. Schreibst du darüber?« Ich ließ mich auf das Sofa fallen und legte die Füße auf den Tisch.

»Nein, das ist Platners Geschichte. Aber er hat mich gebeten, bei dir nachzufragen.« Marianne wusste, dass ich eher bereit gewesen wäre, etwas zu erzählen, wenn es ihre Story gewesen wäre. Trotzdem blieb sie fair und bei der Wahrheit. Ich schätzte ihren Respekt, wenn sie merkte, dass ich Details nicht preisgeben konnte. Stolz ist eine Eigenschaft, den man bei Presseleuten gewöhnlich mit der Lupe suchen muss.

»Tut mir leid, Marianne. Wegener hat alle zu absolutem Stillschweigen vergattert. Ich kann dir auch nur das sagen, was offiziell an die Presse rausgegangen ist.«

»Du klingst ganz schön fertig, Kleine.«

»So fühle ich mich auch. Das war kein schöner Anblick, glaub mir.«

»Kannst du mir sagen, ob es eine heiße Spur gibt?« Sie insistierte nicht, sie fragte einfach in dem ihr eigenen, ruhigen Tonfall. Marianne war eine tolle Frau. Für mich Einzelkind war sie zu einer große Schwester geworden, mit der ich gerne meine Zeit verbrachte.

»Nein, keine heiße Spur. Wenn ich etwas für dich habe, melde ich mich bei dir, O. K.? Bin jetzt nur noch müde und freue mich auf mein Bett.«

Ich raffte mich auf und schmierte mir Brote. In Michaels Zimmer brannte Licht, aber ich war froh, ihm nicht mehr zu begegnen. Ich mochte mit niemandem mehr reden.

Anstatt wahllos durch die Fernsehprogramme zu zappen, entschied ich mich für Musik, in der Hoffnung, damit den Kopf für angenehmere Gedanken frei zu bekommen. Ich legte Springsteen auf und machte mich mit meinen Broten und einem Glas Pinot Grigio auf der Coach lang.

Der gefüllte Magen, der Alkohol und die Musik taten ihre Wirkung. Noch ein Lied, verabredete ich mit mir, und dann ins Bett.

»I’m on fire« erschien mir würdig, meinen Tag zu beschließen.

»Sometimes its like somebody took a knife, baby, edgy and dull and cut a six inch valley through the middle of my skull.«

Das warf mich deutlich zurück. Die Bilder von Gabi Hellmanns geschundenem Körper erschienen wieder vor meinem inneren Auge. Ich hatte schon bessere Nächte.

***

»Willst du die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?«, begrüßte mich Hartmut.

»Nach einer Obduktion kann mich nichts mehr erschüttern.« Hinter mir lag eine zweistündige Gratwanderung am Abgrund des Brechreizes entlang. »Zuerst die schlechte.«

»Also gut. Kröger hat seine Nacht vergeblich im Müll verbracht, kein Messer, kein blutiger Fetzen Stoff, nichts, was uns irgendwie weiterhilft.«

»Hätte mich auch gewundert. Und die gute Nachricht?«

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Die Liste mit den Hausschlüsselbesitzern ist fertig. Und der Personenkreis, der zudem noch einen Schlüssel zur Wohnung hat, ist recht übersichtlich: der Hausmeister, das Opfer selbst und der Hausbesitzer – ein Schuhgroßhändler aus Köln mit einem einwandfreien Alibi. Uns fehlt nur noch die Person, die Gabi Hellmanns Reserveschlüssel hat. In der Wohnung war er nicht.«

Das konnte noch nicht alles sein. Er strahlte mich an, während ich mir Kaffee eingoss. »Wir haben alle Besitzer der Haustürschlüssel überprüft. Und – bingo – Volltreffer.«

Er lehnte sich vor und grinste verschwörerisch. »Unser Freund, Hausmeister Behnsen. Ein Notzuchtdelikt vor sieben Jahren. Versuchte Vergewaltigung an einer geistig Behinderten. Dafür hat er 18 Monate gesessen.« Er reichte mir eine fingerdicke Akte über den Tisch.

»Du erinnerst dich, dass die Nachbarin sagte, Gabi habe immer die Sicherungskette benutzt? Demnach kann ihm sein Wohnungsschlüssel nichts genutzt haben.«

»Ja, ich weiß, aber er ist trotzdem unsere heißeste Spur. Besser gesagt, unsere einzige. Übrigens, um zwölf ist Besprechung bei Feldmann, Sachstandsbericht und Planung der weiteren Vorgehensweise.«

»Das ist nicht fair. Du hast nur von einer schlechten Nachricht gesprochen.« Besprechungen bei Feldmann waren die schlimmste Geißel der Menschheit seit Ausrottung der Beulenpest.

»Was ist bei der Obduktion herausgekommen?«

»Gott sei Dank nicht mein Frühstück.«

Gabi Hellmann wurde tatsächlich mit ihrem Büstenhalter erdrosselt. Die große Überraschung war, dass ihr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Vergewaltigung erspart blieb. Fremde Schamhaare wurden nicht gefunden. Wichtiger noch: Die Leiche wies weder Verletzungen im Genitalbereich auf, noch war Sperma zu entdecken. Um eine Vergewaltigung mit Präservativ auszuschließen, hatte Dr. Grabner einen Abstrich genommen, das Ergebnis stand noch aus.

Vor ihrem Tod wurde ihr eine kleine blutende Verletzung am Hinterkopf zugefügt. Für das Entstehen der Blutergüsse an der linken Schläfe, unter dem rechten Auge und am rechten Mundwinkel, vermutlich durch Faustschläge oder mit Hilfe eines stumpfen Gegenstands, galt ebenso, dass Gabi zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war, genau wie für die kleinen Hämatome an beiden Oberarmen, die nach Dr. Grabners Ansicht eher auf Quetschungen denn auf Schläge zurückzuführen waren.

An Armen und Oberlippe fehlte stellenweise die Körperbehaarung. Die Leiche war zwar vom Besenstiel befreit worden, Dr. Grabner hatte jedoch darum gebeten, das Klebeband soweit es möglich war und nicht im Labor benötigt wurde, bis zur Obduktion am Körper zu belassen. Als er es abriss, waren die Stellen darunter ebenso haarlos, die Haare hafteten an dem Klebeband.

Als der Mörder ihren Körper zerschnitt, war Gabi Hellmann bereits tot. Die Schnitte – die Leiche wies keine Stichverletzungen auf – wurden mit einem scharfen Messer mit mindestens 15 Zentimeter langer, glatter Klinge geführt. Dr. Grabner war überzeugt, dass das Vorgehen des Täters bei Ausführung der Schnitte planlos war. Sie wurden willkürlich gesetzt ohne einem System zu folgen. Der Oberkörper war der Länge nach geöffnet, mit einem etwa drei Zentimeter tiefen, gleichmäßigen Schnitt vom Kehlkopf bis unter den Bauchnabel, wodurch auch einige innere Organe verletzt wurden. Die Beine waren mit insgesamt 14 Schnitten, zum Teil bis auf den Knochen, regelrecht zerlegt, der rechte Arm fast vom Rumpf getrennt. Der linke Arm hingegen war unversehrt.

Der Mageninhalt war vollständig verdaut, sodass die letzte Mahlzeit einige Stunden zurückgelegen haben dürfte. Dies, die gefüllte Harnblase, die Körpertemperatur beim Leichenfund, der Zustand der Leichenstarre und -flecken, all das deutete auf den Eintritt des Todes am Freitag in den frühen Morgenstunden hin. Die Laboruntersuchungen würden noch Aussagen über den eventuellen Konsum von Drogen, Alkohol und Medikamenten sowie über die Zusammensetzung von Gabis letzter Mahlzeit liefern.

Nachdem ich meine Berichterstattung abgeschlossen hatte, legte Wegener den Stift hin und sah mich eine Weile schweigend an. Dann fragte er: »Hast du schon einen Ablauf vor Augen?«

Ich lehnte mich zurück und fixierte den Kunstdruck an der gegenüberliegenden Wand, ein Mirò, schön bunt. Den Namen des Bildes konnte ich mir nicht merken, aber als Fixpunkt zur Konzentration war es für mich ideal.

»Gabi hat ihrem Mörder selbst die Tür geöffnet. Er greift sie an, schlägt ihr ins Gesicht, vermutlich mit den Fäusten. Gabi taumelt zurück und verletzt sich dabei am Hinterkopf. Wenn die Hypothese stimmt, müssten wir in der Wohnung eine Stelle finden, die zur Wunde passt. Eine Schrankecke, ein Bilderrahmen. Auf alle Fälle müsste Blut daran nachzuweisen sein. Beckmann sagte doch, der Schuhschrank im Flur sei verschoben gewesen. Da sollten wir suchen.«

Hartmut notierte den Punkt für unsere Begehung der Wohnung, die wir für den Nachmittag vorgesehen hatten. Die Kollegen der Spurensicherung hatten bis in die Morgenstunden in der Wohnung nach Fasern und Fingerabdrücken gesucht. Nun, da sie den Tatort geräumt hatten, konnten wir uns noch einmal in aller Ruhe in der Wohnung umsehen. Wir wollten ein Bild von der Persönlichkeit des Opfers entwickeln, um nach Anhaltspunkten zu suchen, die bisher übersehen worden waren. Auch wenn wir mit Behnsen einen interessanten Verdächtigen vorzuweisen hatten, waren wir verpflichtet, in alle Richtungen weiter zu ermitteln.

»Gabi fällt, er stürzt sich auf sie, kniet sich auf ihre Oberarme – dadurch entstehen die Quetschungen – und knebelt sie mit dem Klebeband. Dann fesselt er sie provisorisch und schleppt sie durch die Wohnung, bis er den Besenstiel in der Abstellkammer findet. Er reißt die provisorische Fesselung ab – das erklärt die stellenweise fehlende Körperbehaarung – und bindet sie so an den Besenstiel, wie wir sie dann gefunden haben. Irgendwann zwischendurch schneidet er sie aus dem Schlafanzug heraus. Er sucht Unterwäsche aus dem Schrank, erdrosselt sie mit dem BH, reißt ihr das Klebeband vom Mund, stopft dafür den Slip hinein. Dann schneidet er an ihr herum und verschwindet wieder.«

Hartmut hatte den Kopf auf die Hände gestützt, sodass er mit den Handballen die Augen bedeckte. Er hatte offensichtlich bei meinen Ausführungen in seinem Geist den entsprechenden Film ablaufen lassen.

»Sag mir nur noch eins, Hanna.« Er nahm die Hände vom Gesicht und sah mir in die Augen. »Warum? Warum überfällt er nachts eine Frau, zieht sie aus und macht mit ihrer Unterwäsche rum? Warum dieser eindeutig sexuelle Bezug, wenn er anscheinend nicht einmal versucht hat, sie zu vergewaltigen?«

***

Dank der Neigung unseres Fachinspektionsleiters zur Schönschrift dauerten seine Besprechungen üblicherweise doppelt so lang wie eigentlich nötig. Problematisch für den Vortragenden war dabei stets, darauf warten zu müssen, bis Feldmann seine Notizen zu Papier gebracht hatte, ohne dabei selbst den Faden zu verlieren. Die Gabe, schreiben und gleichzeitig zuhören zu können, schien ihm nicht gegeben.

Nach zwei Blättern Kalligrafie, die jedem mittelalterlichen Kopisten zur Ehre gereicht hätten, waren alle Informationen ausgespeichert. Der Künstler vollendete seine Arbeit mit Nummerierung und Datum rechts oben in der Ecke. Obwohl ich die Prozedur kannte und wusste, dass ich enttäuscht würde, starrte ich auf die Blätter, um zu sehen, ob er sein Werk auch noch signierte.

»Vielen Dank, Frau Denkow, meine Herren. Um vierzehn Uhr ist die Pressekonferenz angesetzt. Der Polizeipräsident möchte eine offensive Pressearbeit, um weiteren Spekulationen den Nährboden zu entziehen. In seinem Stab steht das Telefon nicht still. Die Presse will Details wissen. Das Wort vom Ritualmord geht bei den Journalisten bereits um.«

Er schaute bedeutungsvoll in die Runde. Hartmuts Blick wanderte zu Kröger. Der zog die Augenbrauen hoch und öffnete die Hände, als ob er glühende Kohlen darin gehalten hätte. Da war offensichtlich geplaudert worden. Eine dumme Geschichte, so ein Informationsleck. Am Morgen hatte nur das wenige in der Zeitung gestanden, was die Öffentlichkeit auch erfahren sollte. Selbst die Boulevardpresse hatte von dem Mord kaum Notiz genommen. Nach dem, was Feldmann berichtete, würden dem Fall am nächsten Tag die Schlagzeilen gehören.

»Wo sehen Sie die Motivation des Täters begründet, Herr Wegener, wenn Sie eine Vergewaltigung ausschließen?«

»Wir schließen sie mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Aber wir lassen zurzeit noch prüfen, ob Spuren eines Gleitmittels nachweisbar sind, ob also der Mörder ein Präservativ verwendet hat.«

Er formulierte sorgfältig. Feldmann hatte ein drittes Blatt begonnen. Auch der Polizeipräsident würde diese Sätze zu hören bekommen, jedoch wäre Wegener nicht dabei, um ergänzen und erklären zu können.

»Haben Sie ein Präservativ gefunden? Sie haben doch den Hausmüll durchsuchen lassen.« Hoppla. Den Auftrag, explizit danach zu suchen, hatte Kröger bei seiner Spätschicht im Müll nicht.

»Nein, danach haben wir nicht gesucht. Dieser Verdacht stand bei der Mülldurchsuchung noch nicht im Raum.« Ich bewunderte seine Geistesgegenwart. »Herr Kröger wird sich der Sache annehmen.«

»Was? Jetzt soll ich den Dreck noch mal durchwühlen? Wegen einer benutzten Lümmeltüte?« Krögers Gesichtsfarbe hatte sich schlagartig in Dunkelrot gewandelt, sein Oberkörper lag auf dem Tisch, soweit es sein Bierbauch erlaubte, und ich erwartete jeden Augenblick, dass seine Hand vorschnellte, um unseren Chef am Kragen zu packen. Sein rauchiger Atem waberte umher. Wegen der an die Presse gelangten Informationen schienen ihn keine Schuldgefühle zu plagen.

Zu meinem Erstaunen war Feldmann schneller als Hartmut. »Herr Kröger, bleiben Sie bitte sachlich. Für solche Recherchen werden Sie schließlich bezahlt. Und wenn es die Ermittlung weiterbrächte, würde ich Sie mit einem Käscher ins Klärwerk schicken, um das Präservativ herauszufischen.« Sein Ausbruch war begleitet von einem Stakkato seiner Handkante auf dem Schreibblock im Stile eines Karatekämpfers, der ein Brett zu zerschlagen versucht.

 

»Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr Feldmann. Zum Motiv können wir uns noch nicht endgültig festlegen. Anzeichen für einen Raub gibt es bislang nicht, es scheint sich demnach um eine sexuell motivierte Tat zu handeln. Wenn wir von unserem Verdächtigen ausgehen, handelt es sich möglicherweise um Zurückweisung, enttäuschte Gefühle und daraus resultierende Wut. Da wird uns ein psychologisches Gutachten weiterhelfen.«

»Ach ja, gut, dass Sie das ansprechen. In diesem Zusammenhang habe ich noch eine erfreuliche Nachricht für Sie. Sie bekommen kompetente Unterstützung. Ein Verwandter des Opfers arbeitet beim LKA als Spezialist für Täterprofilerstellung. Trotz oder gerade wegen der persönlichen Betroffenheit hat er darum gebeten, an dem Fall mitzuarbeiten. Der Kollege scheint gute Beziehungen zu pflegen. Die Entscheidung wurde auf höchster Ebene getroffen.« Feldmann setzte eine verschwörerische Miene auf. »Er kommt aus Göttingen und ist für heute Nachmittag angekündigt.« Ein strenger Blick folgte. »Ich erwarte von Ihnen volle Kooperation.« Das musste der Onkel sein, von dem wir gehört hatten. Mit der Erstellung von Täterprofilen hatten wir bisher noch keine Erfahrung. Zwar waren die Spezialisten des LKA an der Sonderkommission beteiligt, die eine Reihe von Mädchenmorden in der Heide nördlich von Hannover untersuchte. Aber in diesen Fällen hatte die Kripo Lüneburg die Federführung. Über ihre Arbeit war bei uns in der Mordkommission jedoch wenig mehr bekannt geworden als das populärwissenschaftliche Zeug, das in der Zeitung stand. Die Herren ließen sich nicht gern in die Karten sehen. Das Profiling war für uns weiterhin mit der Aura des Mystischen umgeben.

»Nun noch einmal zu dem Verdächtigen. Wie sieht Ihre weitere Planung aus?«

Hartmut sah mich an. Das war der Part, der für mich vorgesehen war. Ich hatte es schon einige Male geschafft, Feldmann einzuwickeln. Langes blondes Haar, ich fiel eindeutig in sein Beuteschema.

»Wir möchten ihn zuerst noch einmal als Zeugen vernehmen, bevor wir ihn formal unter Tatverdacht stellen.« Das hätte für uns den Vorteil, dass kein Anwalt dabei wäre. Ein versierter Anwalt würde ihm garantiert den Mund verbieten. So aber hatten wir die berechtigte Hoffnung, dass Behnsen sich um Kopf und Kragen reden würde.

»Frau Denkow, das verstehe ich sehr gut. Jedoch bedenken Sie bitte, dass wir eine Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit haben. Die Bevölkerung braucht jetzt die Gewissheit, sich auf die Polizei verlassen zu können. Deshalb habe ich noch eine weitere gute Botschaft für Sie, Herr Wegener. In Abstimmung mit dem Polizeipräsidenten beauftrage ich Sie mit der Bildung und Leitung einer Sonderkommission, die diesen Fall bearbeiten wird.«

Wahre Freude war dem frischgebackenen Soko-Leiter nicht anzusehen, während Feldmann gönnerhaft dreinblickte, als müssten ihm alle Anwesenden vor Dankbarkeit und Glück über diese weise Entscheidung um den Hals fallen. Als Leiter der Mordkommission hatte Wegener sowieso alle zu diesem Zeitpunkt erforderlichen Kompetenzen. Und Feldmann war derjenige, der innerhalb seiner Fachinspektion für die notwendige personelle Unterstützung der Ermittlungsarbeit sorgen konnte. Es handelte sich auch nicht um einen regional übergreifenden Fall, in dem zwischen verschiedenen Kripodienststellen koordiniert werden musste. Die Bildung einer Sonderkommission unter Wegeners Leitung war ein völlig sinnfreies Blendwerk für die Presse, blinder Aktionismus, der Sache ungefähr so dienlich wie der Besuch eines Politikers am Schauplatz einer Katastrophe. Einziger Gewinner war eindeutig Feldmann selbst, der mit Hartmuts Berufung lästige Koordinationsaufgaben und damit auch Verantwortung auf ihn delegieren konnte.

»Wir sollten uns nicht klein machen. Sie haben dank Ihrer Ermittlungsarbeit ein respektables Ergebnis vorzuweisen. Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, davon zu erfahren. Sonst geht das wilde Spekulieren in der Presse los. Das würde Ihre Arbeit nur unnötig erschweren. Es wird ja kein Hinweis darauf gegeben, wer dieser Verdächtige ist.«

Genau das hatten wir befürchtet. Feldmann wollte sich vor dem Polizeipräsidenten und der Presse profilieren.

»Wenn wir die Information wenigstens bis heute Abend zurückhalten könnten, dann hätten wir noch die Gelegenheit zu einer ausführlichen Vernehmung.« Das war unser Minimalziel. Wenn Feldmann in der Pressekonferenz von einem Verdächtigen erzählte und wir Behnsen zeitgleich als Zeugen vernahmen, würde uns jeder mittelprächtige Anwalt hinterher in der Luft zerreißen.

»Herr Wegener, reicht der Sachstand nach Ihrer Einschätzung für einen Haftbefehl?«

»Er ist einschlägig vorbestraft, damit ist zumindest der Ansatz eines Motivs vorhanden, wenn wir von einem Sexualmord ausgehen. Durch seinen Generalschlüssel hat er das Mittel, unterstellt, die Sicherungskette war nicht eingehakt. Und über die Gelegenheit, sprich ein eventuelles Alibi, müssen wir ihn noch befragen. Einen Haftbefehl möchte ich damit noch nicht beantragen, eine Hausdurchsuchung schon. Vielleicht finden wir die Tatwaffe.«

»Gut, dann holen Sie sich den Durchsuchungsbefehl.«

***

Während Hartmut den richterlichen Beschluss besorgte und die Hausdurchsuchung vorbereitete, setzte ich mich auf die Spur des Exfreundes, Oliver Prenzel. Bei seinen Eltern hatte er glücklicherweise die Anschrift seines Hotels auf Kreta hinterlassen. Die Auskunft half mir mit der Telefonnummer weiter. Ich musste mein Schulenglisch auf das Äußerste strapazieren, um dem freundlichen Herrn an der Rezeption mein Anliegen verständlich zu machen. Die Rettung war schließlich eine deutschsprachige Dame des Reiseveranstalters, die gerade im Hotel war. Sie erklärte sich bereit, nach Prenzel Ausschau zu halten. Wir vereinbarten, ich solle in zehn Minuten nochmals anrufen. Tatsächlich konnte sie ihn am Pool ausfindig machen. Seine Mutter hatte ihn bereits informiert. Der Urlaub war ihm gründlich verdorben. Der Tod seiner Exfreundin – sie waren sechs Jahre liiert gewesen und hatten sich erst vor einem Jahr getrennt – berührte ihn sehr. Außerdem war zu spüren, wie unangenehm es ihm vor seiner neuen Freundin war, eine Rolle in unseren Ermittlungen zu spielen.

Prenzel sagte, er und Gabi hätten sich in aller Freundschaft getrennt, und nannte »auseinandergelebt« als Grund, was in mir gewisse Erinnerungen weckte. Seit er mit seiner neuen Freundin zusammen war, waren die Kontakte zwar seltener, aber nicht weniger herzlich geworden. Hinweise auf einen möglichen Täter oder wenigstens ein Motiv konnte er nicht geben.

Meine vorsichtige Frage nach dunklen Seiten in Gabis Leben wies er entrüstet zurück: Keine Drogen, keine käufliche Liebe, keine sonstigen finsteren Machenschaften.

Unter Aufbietung aller mir zur Verfügung stehenden Sensibilität näherte ich mich dem Thema Sexualität. Ich war so feinfühlig, dass es geraume Zeit dauerte, bis er begriff, worüber ich sprach. Über 2000 Kilometer Entfernung durch die verrauschte Telefonleitung war ihm anzumerken, wie er errötete. Stimme und Hintergrundgeräusche veränderten sich. An seiner Stelle hätte ich auch die Telefonschnur bis zum Zerreißen gedehnt, um Abstand zwischen mich und die Rezeption – vermutlich war die Reiseleiterin noch in der Nähe – zu bringen.