Verschollen am Nahanni

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Verschollen am Nahanni
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Monika und Rainer Hamberger

VERSCHOLLEN AM NAHANNI

Nach einem Skript von Rudolf Woller


IMPRESSUM

VERSCHOLLEN AM NAHANNI

Monika und Rainer Hamberger nach einem Skript von Rudolf Woller

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.ddb.de abrufbar.

© 2019 | 360° medien gbr mettmann | Marie-Curie-Straße 31 | 40822 Mettmann

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Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb

der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.

Redaktion und Lektorat: Christine Walter

Satz und Layout: Serpil Sevim-Haase

Gedruckt und gebunden:

Himmer GmbH Druckerei & Verlag | Steinerne Furt 95 | 86167 Augsburg | www.himmer.de

Bildnachweis:

Cover: CTC Asymetric Jason Van Bruggen | ADASM Archives (public domain)

S. 6o: Darren Roberts/NWT Tourism | S. 6u: NWT Tourism | S. 7: Kokko/NWT Tourism | S. 197: Rainer Hamberger | Anzeige: NWT Tourism

ISBN: 978-3-948097-49-3

Hergestellt in Deutschland

www.360grad-medien.de

Wir bedanken uns ausdrücklich bei dem Reiseveranstalter CRD International GmbH für die Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches. CRD International ist ein hanseatisches Familienunternehmen, das seit über 40 Jahren maßgeschneiderte Individual- und Pauschalreisen nach Kanada und in die USA anbietet.

Advertorial

Kanadas Nordwesten – Lockruf für Naturliebhaber und Abenteurer

Imposante Natur, ungezähmte Wildnis und eine faszinierende Tierwelt kennzeichnen den Nordwesten Kanadas. Gerade weil die Region touristisch bisher nur schwach erschlossen und äußerst dünn besiedelt ist, bietet sie einmalige Chancen, ein ursprüngliches Kanada zu erleben.


Flora und Fauna sind im Norden von British Columbia und in den Northwest Territories an kurze Sommer und lange Winter angepasst. Urwälder und Tundra sind belebt mit den größten Karibuherden Nordamerikas, zahlreichen wilden Bisons und noch weiter nördlich auch mit Moschusochsen. Dementsprechend hoch sind die Chancen, Tieren in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu begegnen. In diesen Vegetations-Regionen sind zudem zahlreiche Orchideenarten beheimatet. Entlang des Alaska Highways und rund um den Nahanni National Park bilden schroffe Gebirgszüge, ungestüme Flüsse und tiefe Canyons eine der wildesten Landschaften des Kontinents. Einen Zugang zum 30.000 Quadratkilometer großen Nahanni National Park gibt es nur per Wasserflugzeug oder mit einer anspruchsvollen mehrtägigen Paddeltour. Die Virginia Falls des South Nahanni River mitten im Nationalpark sind fast zweimal so hoch wie die Niagara Falls, aber ohne Zufahrt und von unverfälschter Wildnis umgeben. Tosende Wassermassen stürzen hier fast 100 Meter in die Tiefe und erzeugen einen spektakulären Regenbogen! Es gibt eine gut gepflegte Portage um die Wasserfälle herum. Hier wurden auch für Wanderer sichere Trails angelegt. Mit etwas Glück sind auch Dallschafe, Bergziegen, Karibus, Wölfe oder Bären zu sichten. Lohnend ist vor allem der kurze Weg zur Kopfzone der Fälle mit einem spritzigen Blick in die Tiefe. Wasserflugzeuge können etwas weiter flussaufwärts oberhalb der Fälle sicher landen. Nicht einmal 1000 Besucher kommen jährlich zu diesem abgelegenen Naturschauspiel.


Unweit davon durchzieht der legendäre 2237 Kilometer lange Alaska Highway die Rocky Mountains. Besonders reizvoll ist die 90 Kilometer lange Fahrt durch den Muncho Lake Provincial Park. Das Naturschutzgebiet liegt 650 Kilometer nördlich der „Mile 0“ in Dawson Creek, wo der Alaska Highway beginnt. Mit der Northern Rockies Lodge bietet sich eine stilvolle Station für einen kurzen Aufenthalt. Vielleicht lockt von da aus ein Abstecher zu den etwa 70 Kilometer nördlich gelegenen Liard Hot Springs und der gleichnamigen Lodge. Welch ein besonderes Erlebnis in den heißen Quellen zu baden, die inmitten der Wildnis gefasst sind! Es ist keine leichte Wahl in welcher der beiden Lodges mit ihren landestypischen Blockhäusern übernachtet wird. Nur wenige Straßen ermöglichen Abstecher in Seitentäler. Auch heute noch sind Forscherteams, Vermessungsingenieure und Goldsucher deswegen meist mit Wasserflugzeugen unterwegs. An einigen Stationen entlang der Flüsse oder Highways werden auch Rundflüge angeboten, die den besten Gesamteindruck von dieser unglaublichen Landschaft ermöglichen.


Erlebnisse mit Wildtieren, das Tosen der Wasserfälle, Begegnungen mit echten Pionieren, Aufenthalte in kanadischen Lodges und über allem der Atem der Wildnis. Willkommen im Nordwesten Kanadas!

Informationen, Beratung und Buchung von individuellen Reisen nach Kanada und in die USA: CRD International – Spezialist für Nordamerikareisen im stilwerk Hamburg | Tel. 040-300 61 670 | info@crd.de | www.crd.de

Vorwort

Für Naturbegeisterte ist Kanada oft ein Land ihrer Träume: weite Horizonte über den Prärien, die Wildheit der Rocky Mountains, tosende Wasserfälle, schier undurchdringliche Wälder, Seen wie Binnenmeere, hilfsbereite Einwohner und der Charme des sogenannten Pionierlebens. Schon immer reizte es Menschen aus dem dicht besiedelten Europa sich hier niederzulassen. In der neuen Heimat suchen und finden sie oft auch eine neue Freiheit. Einige arbeiten in ganz anderen Berufen.

Allseits geschätzt wird die optimistische und empathische Mentalität der Kanadier. Viele von ihnen haben sich hier nach der Einwanderung eine neue Existenz aufgebaut. Das weite Land bietet interessante Gelegenheiten für Abenteuer wie das Jagen oder Fliegen.

Wo keine Straßen hinführen, bleiben nur Luft- oder Wasserwege. In den Weiten des Nordens garantieren Wasserflugzeuge die Versorgung der wenigen Bewohner und erledigen lebenswichtige Aufträge, im Sommer mit Schwimmern, im Winter auf Kufen. In ihrer Berufsausübung sind Piloten oft hohen Risiken ausgesetzt durch unberechenbare Winde, riskante Landeflächen und nicht vorhersehbar eintretende Wetteränderungen. Die Landschaften im Norden von British Columbia und den Northwest Territories sind von großer Einsamkeit und Wildheit. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das aus der Vogelschau. Hier ist das Einsatzgebiet der Buschpiloten.

Ein aus Deutschland Eingewanderter sucht in diesem Buch die Verwirklichung seines Lebenstraumes als Buschpilot. Dabei begegnet er allen denkbaren Abenteuern während eines Spezialauftrages mit mehr als ungewissem Ausgang.

Wir widmen diesen Roman allen, die sich für die großartige Natur in Kanada begeistern, Fernweh in sich tragen, ausgetretene Pfade verlassen und besonders allen Buschpiloten für ihre furchtlosen Einsätze.

Monika & Rainer Hamberger, Maierhöfen im Frühjahr 2019

Inhaltsverzeichnis

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Der staubbedeckte Greyhound-Bus kommt ächzend am Straßenrand zum Stehen. Im Leerlauf geht der sonore Ton des schweren Dieselmotors in ein dröhnendes Nageln über. Eine von den gebremsten Rädern aufgewühlte Staubwolke zieht träge zum angrenzenden Feld hinüber und verliert sich langsam im Gelb des reifen Weizens. Felder so groß, dass es scheint, sie würden bis an den Horizont reichen. Vom Wind getriebene Steppenhexen bleiben am nächstbesten Hindernis hängen, bis eine noch stärkere Bö sie mitnimmt. Präriehunde strecken neugierig den Kopf aus ihrem Bau, um gleich darauf wieder in der kühlen Höhle zu verschwinden. Die wabernde Hitze dieses Spätsommertags in der topfebenen, unendlichen Prairie-Landschaft der Provinz Saskatchewan im kanadischen Westen verzerrt die Konturen ins Unwirkliche, als wäre es eine Fata Morgana in der Wüste. Es ist kurz nach zwei Uhr nachmittags.

Nein, hier am Straßenrand, nicht weit von dem einsamen Farmhaus, ist eigentlich keine Haltestelle. Der Mann, der sich jetzt mit einem leichten Akzent in der Stimme beim Fahrer bedankt – ist er Niederländer oder Deutscher? – fragt, ob man ihn hier absetzen könne. Er wisse sonst nicht, wie er von dem letzten Ort hier heraus kommen sollte. Die vor sich hin dösenden Fahrgäste in den ersten Sitzreihen haben mit halbem Interesse zugehört, und einer von ihnen hat genickt. Er wusste wohl, was Reisen in dieser Weltgegend bedeutet. Ist doch selbstverständlich, dass man den hier rauslässt. Der abschätzende Blick des Omnibusfahrers lässt seine Gedanken erkennen. Mit dem Koffer und dem Rucksack, sagt er sich mit einem verborgenen Grinsen, hätte der Mann in der sengenden Hitze viele Stunden gebraucht, um die sechzehn Meilen von dem kleinen Ort hierher zu laufen. Taxis gibt es ja in dem Nest nicht. Und hier draußen fahren nur hin und wieder Autos oder Trucks vorbei, die einen Anhalter mitnehmen könnten. Fremde kommen überhaupt selten zu einer dieser Farmen in der Mitte von Nirgendwo. Und der sieht nicht aus wie ein Geschäftsmann aus dem hundertzwanzig Meilen entfernten Saskatoon. Er trägt Jeans und ein ausgebleichtes Holzfäller-Hemd und hat sich keinen Schlips umgebunden. Wer könnte das denn sein? Sein neugieriger Blick kann nichts ergründen. So nickt er dem Mann freundlich zu, als der aussteigt und zieht dann kräftig am Hebel. Die schwere Tür schließt ächzend. Dann den ersten Gang rein und weiter geht es über die Ebene zum nächsten Halt, vielleicht nach hundert Meilen. Wäre da nicht flotte Musik aus dem Radio und eine gut gefüllte Kaffeekanne, hätte der Busfahrer Mühe bei so viel Eintönigkeit die Augen offen zu halten.

Das Farmhaus liegt um die zweihundert Schritte weit von der Landstraße, meilenweit entfernt vom nächsten Nachbarn. Auf der Westseite ist es durch eine dichte Reihe von Pappeln gegen die Präriewinde geschützt. Es ist eines dieser zweistöckigen Dutzendhäuser aus dem Katalog, wie sie im Westen überall zu finden sind. Breit ausladend, unter einem flachen, mit unempfindlichen Asphaltschindeln gedeckten Satteldach. Das Hauptgeschoss ist oben, darunter befindet sich, was hier Basement genannt wird. Nein, schön oder architektonisch bemerkenswert ist es sicherlich nicht, aber zweckmäßig. Dahinter schaut die Scheune hervor, rot gestrichen mit ausladendem Giebel. Und daneben, in einem offenen Hufeisen, der Maschinenschuppen samt Werkstatt. Alles ist ordentlich aufgeräumt. Der Hund, dessen Bellen weithin hörbar ist, muss hinter dem Haus angebunden sein. Sonst gibt es kein Zeichen von Leben. Es ist noch zu heiß im Freien.

Das Gesicht des Fremden nimmt die Szene mit einem Ausdruck von Genugtuung auf, als freute er sich, dass alles noch da sei. Er hat den prallen Rucksack locker über die Schulter gehängt. Der Koffer scheint nicht sonderlich schwer zu sein. So setzt er ohne Eile einen Fuß vor den anderen auf dem Einfahrtsweg zur Farm hinüber. Da öffnet sich dort die Haustür im Untergeschoss. Ein älterer Mann, die Holzfällerkappe auf dem schütteren grauen Haar, tritt ins Freie und geht in Richtung des Maschinenschuppens. Plötzlich bemerkt er den Fremden den Weg heraufkommen und bleibt stehen. Etwas wie ungläubiges Erkennen zeigt sein Mienenspiel. Er zögert noch einen Moment, als ob er es nicht glauben kann, was er sieht, um dann dem Ankömmling ein paar vorsichtige Schritte entgegen zu gehen. Dann bleibt er stehen, schirmt seine Augen mit der Hand gegen das gleißende Sonnenlicht und fragt mit verhaltener, belegter Stimme:

„Bist du das, Uwe?“

„Ja John, ich bin es“, kommt die Antwort, während der Mann seinen Koffer abstellt und den Rucksack heruntergleiten lässt.

Er ergreift die ausgestreckte Hand mit einem festen Griff. Die beiden schauen sich in die Augen und mustern sich eine Weile schweigend. John Musgrove, der alte Farmer, bekommt eine feierliche Miene.

„Es ist lange her, Uwe Breuer. Ist es dreizehn oder vierzehn Jahre, seit du aus der Gefangenschaft entlassen worden bist?“

„Ja“, kommt die leise Antwort, „und damals hast du gesagt, ich sei bei euch stets willkommen, wenn mich mein Geschick je in dieses Land zurückbrächte.“

„Das Wort gilt. Aber komm doch erst mal ins Haus.“

Seine Stimme wird fröhlich lärmend.

„Donna wird sich freuen. Du musst erzählen, was du so erlebt hast.“

Er greift nach dem Koffer, Uwes abwehrende Geste missachtend, und geht voraus in Richtung Haustür. Währenddessen mustert er Uwe von der Seite.

„Du hast eine Menge Falten bekommen, na ja, wir werden eben alle älter, ich bin ja auch bald sechsundsechzig und werde mich in spätestens zwei Jahren auf meinen Altenteil zurückziehen. Tom ist in Saskatoon und studiert Landwirtschaft. Er ist bald fertig und will dann hier übernehmen. Und der Zweitälteste, der Wally, der nie genug von deinen Fliegergeschichten hören konnte, der ist in dein Fach gegangen, er ist Pilot geworden; da drüben, kaum zwanzig Meilen von hier, weißt du, auf dem alten Flugplatz, der während des Krieges für die Flugschule gebaut wurde.“

Sie sind an der Haustür angekommen. John öffnet sie und ruft mit polternder Stimme das Treppenhaus hinauf:

„Donna, du wirst nicht glauben, wer hier ist!“

Oben in der Küche legt Donna Musgrove hastig die Schürze ab, hängt sie ordentlich an den Haken und schaut neugierig das Treppenhaus herunter.

„Sag' schon, wer es ist“, sagt sie ärgerlich.

Gegen die Helligkeit von den kleinen Fenstern über der Haustür kann sie das Gesicht des Fremden nicht erkennen. So kommt sie mit zögernden Schritten die Treppe herunter, um plötzlich wie angenagelt stehen zu bleiben.

„Mein Gott, das ist doch nicht möglich – Uwe!“

Sie nimmt ihn an die Hand und zieht ihn zu dem Flurfenster hinüber, um ihn bei vollem Licht anschauen zu können. Da wird sie still und streichelt ihm mütterlich die Wange.

„Du hast es schwer gehabt, nicht wahr?“

Und Uwe antwortet gemessen: „Ja, so friedlich wie es hier für einen Kriegsgefangenen auf der Farm war, ist es nie wieder gewesen!“

„Wo kommst du denn jetzt her?“, fragt John, die bei seiner Frau aufkommende Rührung abfangend.

„Wie lange bist du schon unterwegs?“

„Die letzten vier Tage habe ich praktisch im Bus geschlafen, von der Gegend um Toronto. Ich habe dort nach meiner Ankunft für ein halbes Jahr als Mechaniker gearbeitet, in einer Autowerkstatt, manchmal auch auf einem nahen Flugplatz, für so einen Fliegerclub. Und Inhaber eines Berufspilotenscheins bin ich auch. Aber dann habe ich mir in den Kopf gesetzt, in den Westen zu gehen.“

„Und wo ist deine Frau?“, fragt Donna Musgrove leise.

„Du bist doch verheiratet.“

„Nein, Donna, nicht mehr. Aber das ist eine lange Geschichte.“

Sein Gesicht bekommt einen gequälten Ausdruck.

„Also Schluss jetzt. Du wirst uns das ja erzählen, wenn du willst. Aber jetzt soll er sich erst mal frischmachen. Er kann ja in seinem alten Zimmer im Keller schlafen, nicht wahr, Donna?“

„Ja, selbstverständlich. Ich habe es in ein paar Minuten fertig. John, biete ihm was zu trinken an. Er wird es brauchen bei der Hitze. Oben im Kühlschrank ist noch Limonade, die hast du doch immer so gerne gemocht, Uwe.“

Und sie macht sich eilig auf den Weg in den Flur des Untergeschosses, in dem Uwe zwei Jahre als Kriegsgefangener beim Arbeitseinsatz untergebracht war.

Uwe Breuer steht am Fenster seines alten Zimmers. Es ist klein und schmucklos, mit einer Art Feldbett, einem Nachttisch und einem in die Wand eingebauten schmalen Schrank. Auf der Kommode steht eine Waschschüssel mit einem Wasserkrug aus Blech, eine Seifenschale daneben. Und Donna hat ihm ein Handtuch dazugelegt. Ihm ist, als sei er in die Vergangenheit zurückgekehrt. Hier stand er oft und dachte an Zuhause zurück. Und an den Krieg im Mittelmeer, wo er als Oberleutnant im Jagdgeschwader 2, mit seinen Kameraden jenen aussichtslosen Kampf gegen die wachsende Übermacht in der Luft zu fechten hatte. Und an jenen Palmsonntag 1943, an dem für ihn der Krieg zu Ende gegangen war.

Für ihn ist alles, als sei es gestern gewesen.

Die Erinnerung überwältigt ihn.

Er ist unterwegs von Sizilien kommend mit sieben Maschinen Geleitschutz für einen riesigen Schwarm von Transportflugzeugen, Ju 52 und Messerschmitt Giganten. Im Luftkampf wird seine Messerschmitt 109 F flugunfähig geschossen. Er setzt die Maschine ins Wasser und hofft, dass sein Schlauchboot von deutschen Seenot-Flugzeugen entdeckt wird. Aber dann fischt ihn ein englischer Zerstörer aus dem Meer und er landet schließlich in einem Gefangenenlager in Kanada, nahe der Stadt Saskatoon. Dort meldet er sich freiwillig für die Arbeit in der Landwirtschaft. Er erinnert sich noch genau wie freundlich und ohne Vorurteile ihn die Musgroves aufnehmen.

Szenen tauchen in seinem Gedächtnis auf, wie er gemeinsam mit der Familie am Tisch sitzt, glücklich über eine kräftige Mahlzeit. Wie dankbar John für jede Hilfe bei der schweren Farmarbeit ist. Welchen Spaß er hat beim Spiel mit den Kindern. Aber auch, wie der Winter mit seinen Minusgraden und fürchterlichen Stürmen alles Leben mit Schnee oder später im Frühjahr mit Staub zudeckt.

 

Uwe kehrt zurück in die Gegenwart, als er Donnas Stimme hört, die ihn zum Essen ruft. Er gibt sich einen Ruck und geht nach oben.

In der Wohnküche warten die beiden schon auf ihn. Am Tisch sitzend bemerkt John, dass die Runde kleiner geworden ist, seit die Kinder als Erwachsene das Haus verlassen haben. Nach einem kurzen Tischgebet beginnt jeder schweigend seine Mahlzeit. Es dauert eine Weile, bis Donna, die Uwe immer wieder mustert, das Schweigen bricht.

„Wie lange hat es eigentlich damals gedauert, bis du zu Hause angekommen bist?“

„Ich bin nie wieder nach Hause gekommen. Meine Heimat in Ostpreußen ist ja jetzt russisch. Ich wurde nach Westdeutschland entlassen, in die britische Besatzungszone. Über das Rote Kreuz habe ich nach vier Monaten erfahren, dass Inge, meine Frau, in Düsseldorf lebte. Da bin ich dann auch hingegangen. Inge war ja im Krieg Schreibkraft in einer Rüstungsfabrik. So hat sie bald eine gute Stelle bekommen, bei einem Wirtschaftsberater.“

Uwe macht eine Pause.

„Ich selbst habe alles Mögliche angefangen. Auch auf dem Schwarzmarkt versuchte ich etwas Geld zu verdienen. Aber es ist nichts Rechtes draus geworden. Dann bin ich, sozusagen aus Zufall, zu zwei alten Lastwagen mit Holzvergaser-Motoren gekommen und fing damit einen kleinen Fuhrbetrieb an. Das lief auch nicht schlecht. Ich war ja immer ziemlich geschickt in mechanischen Dingen und konnte somit die beiden alten Wracks am Laufen halten. 1948, als unsere Währung bis auf zehn Prozent abgewertet wurde kam ich ganz gut heraus. Ich habe drei Laster dazugekauft. Aber es ging nur mühsam weiter.“

Uwe räuspert sich, seine Verlegenheit nur mühsam verbergend.

„Ich hatte halt einfach kein Talent fürs Geschäftsleben. Also kurz und gut, es ging kaum mehr vom Fleck. Wir lebten zuerst vor allem von Inges Sekretärinnen-Gehalt.“ Uwes Stimme stockt. Leise fährt er fort.

„Ja, sicher, sie hatte wohl mehr von mir erwartet. Und sie hat angefangen, darüber zu klagen, dass wir keine Kinder haben. Aber es hat nicht geklappt.“

Er macht eine Pause.

„Und was das Geschäftliche anbelangt, hat sie mir immer ihren Chef als Vorbild geschildert, er bringe ihr zunehmend mehr Vertrauen entgegen. Da hat es ein paarmal richtig gekracht. Und ich habe bemerkt, dass ihr der Chef, ein Junggeselle, schöne Augen machte. So sind wir immer mehr auseinandergedriftet. Hin und wieder war auch zu viel Alkohol mit im Spiel.“

Uwe starrt vor sich hin. Ein wenig kleinlaut fährt er nach einer Pause fort.

„Sicher, Inge hat sich viel Mühe mit mir gegeben. Auch nachdem ich aus unserer Wohnung ausgezogen bin. Und vielleicht wären wir wieder zusammengekommen, wenn das mit dem Unfall nicht passiert wäre. Wir verbrachten sogar wieder eine Nacht zusammen in ihrer Wohnung.“

Er schluckt, als seine Stimme beinahe versagt.

„Aber dann ist mir am nächsten Tag nachts auf der Königsallee ein Betrunkener direkt vor das Auto gerannt.“ Wieder eine Pause.

„Er war sofort tot.“

Donna legt mit einer mitleidigen Geste ihre abgearbeitete Hand auf Uwes verkrampfte Faust, die ein paar unkontrollierte Bewegungen auf dem Tischtuch gemacht hat.

„Ich habe das wie ein Gottesurteil genommen. Und auch das Gericht hat eindeutig festgestellt, dass ich gar keine Chance gehabt hätte, so rechtzeitig zu reagieren, damit der Mann, der als notorischer Alkoholiker bekannt war, nicht von meinem Wagen erfasst worden wäre.“

„Aber“, Uwes Augen sind unbeweglich und seine Stimme klingt heiser, „aber ich bin das einfach nicht mehr losgeworden. Es war mir, als hätte hier ein höheres Gericht gegen mich entschieden. Ich kam mir als Versager auf der ganzen Linie vor! Da war meine Ehe, die ich nicht ausfüllen konnte, meine Frau offensichtlich vom Glanz ihres erfolgreichen Chefs geblendet. Ja, wenn wir Kinder gehabt hätten. Aber das hat ja auch nicht geklappt! Im Geschäft war ich den harten Methoden der Branche in unserem Wirtschaftswunderland nicht gewachsen. Und nun das!“

Er spricht leise, sein Blick in die Ferne gerichtet.

John und Donna hören schweigend zu und vermeiden, ihr Mitleid offen zu zeigen.

„Ich wollte neu anfangen, wollte Inge nicht mehr im Wege stehen. Ich habe sie nicht mehr gesehen, sondern in aller Stille durch meinen Anwalt die Scheidung einreichen lassen, alle Schuld an der Zerrüttung auf mich genommen, mein Geschäft verkauft und den Erlös bis auf einen Betrag, den ich hier zum Start von ganz unten brauchte, an sie überweisen lassen. Sobald ich vom kanadischen Konsulat die Einwanderungspapiere erhielt, bin ich abgereist.“

Uwe macht einen erschöpften Eindruck. Aber man merkt ihm auch die Erleichterung an, sich das alles von der Seele geredet zu haben, was er tief im Innern mit sich herumschleppte.

„Ja, es sind jetzt schon sieben Monate her. Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, ob ich das Richtige getan habe!“