Zwischen "nicht mehr" und "noch nicht"

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Zwischen "nicht mehr" und "noch nicht"
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Ulla Peffermann-Fincke

Rainer Fincke

Zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«

Übergangszeiten bewältigen und gestalten


Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020

ISBN 978-3-7365-0328-1

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020

ISBN 978-3-7365-0344-1

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Dr. Matthias E. Gahr, mit einer Illustration von Mascha Greune

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt

Einleitung · Damit Übergänge nicht übergangen werden

Lebensstufen und ihre Übergänge – Krisen und Reifung

Die Phasen eines Übergangs

Rückblick und Abschied: die Ablösungsphase

Innehalten zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«: die Zwischenphase

Ausblick und weitergehen: die Integrationsphase

Die zehn Lebensstufen

Lebensstufe 1: Urvertrauen versus Misstrauen

Lebensstufe 2: Erste Emanzipation von Vater und Mutter

Lebensstufe 3: Ich wäre so gerne ...

Lebensstufe 4: Neugierde versus Frustration

Lebensstufe 5: »Held / Heldin« oder die Angst zu versagen

Lebensstufe 6: Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit

Lebensstufe 7: Den eigenen Weg finden

Lebensstufe 8: Aufstieg und Krise

Lebensstufe 9: Die große Chance, weise zu werden

Lebensstufe 10: Abschiedlich leben

Individuelle Umbrüche – mein persönlicher Lebensweg

Wer bin ich – wo will ich hin?

Meine Lebensaufgabe entdecken

Einen Begleiter / eine Begleiterin finden

Damit Übergänge gelingen

Aushalten und Ertragen – was mich hält und trägt

Warten und Erwarten

Allein sein können

In Beziehung bleiben

Selbstvertrauen entwickeln – Mut fassen

Den eigenen Weg finden – konkrete Hilfen

Musik – Literatur – Film

Biblische Geschichten als Wegweiser

Naturerfahrungen

Übergangsrituale und Ankerplätze

Die spirituelle Dimension von Übergängen

Geburt und Tod

Raum und Zeit

Angst und Vertrauen

Nachwort · Niemals geht man so ganz – was bleibt

Anhang · Interview mit Ramona Rudolf, Hebamme

Literatur

Dank

Einleitung · Damit Übergänge nicht übergangen werden

Wir schreiben dieses Buch in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie. Ein kleiner Virus beherrscht die ganze Welt. Ausnahmezustand, ein »kollektives Innehalten«, Ausgangssperre, Kontakte sind auf ein Minimum beschränkt. Geschlossene Geschäfte, die Gastronomie eingestellt, kollabierende Märke, Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit. Die einen quälen existenzielle Ängste, die anderen sind froh, einmal aus dem Hamsterrad auszusteigen, Zeit zum Durchatmen zu haben. Allen aber ist gemein, dass sie Verzicht üben müssen, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedlichem Niveau.

Und was kommt danach? Wir wissen es nicht. Vielleicht befinden wir uns in einem Übergang zu einem neuen Bewusstsein mit weitreichenden Konsequenzen. Oder diese Zeit war nur eine Schrecksekunde in der Geschichte der Menschheit – und alles geht nach einer Erholungsphase wieder seinen gewohnten Gang.

Diese Krisenzeit ist in einem doppelten Sinn fühlbar: als Gefahr und Chance zugleich, so wie die Bedeutung des lateinischen Wortes crisis auch beides beinhaltet. Krise meint Wendepunkt, an dem sich etwas entscheidet, Weichen gestellt werden.

Die Übergänge, die zu unserem Leben »organisch« dazu gehören, sowie die individuellen Umbrüche im Leben des Einzelnen verlaufen selten linear und fließend, sondern eher sprunghaft. Sie rütteln auf und bringen so einiges durcheinander.

Bei allen Übergängen, Umbrüchen und Krisen ist die Phase zwischen dem Alten und dem Neuen eine entscheidende Zeit. Sie verunsichert, man geht auf schwankendem Boden, das Alte trägt nicht mehr, das Neue ist noch nicht in Sicht. Es gibt noch keine Struktur, keinen »Fahrplan« für das, was kommt. Und dieses Nicht-Wissen, dieser Zustand, die Kontrolle verloren zu haben, ist schwer zu ertragen oder zumindest spannungsvoll. Aber genau diese Situation birgt die große Chance, sich zu öffnen für neue Erfahrungen, neue Möglichkeiten, auch wenn sich das zunächst alles andere als gut anfühlt. Es braucht Vertrauen und Mut, Leidenschaft und Gelassenheit. Es fordert den ganzen Menschen. Deshalb sollten Übergänge nicht übergangen werden.

Dieses Buch will ein hilfreicher Begleiter sein und Sie ermutigen, sich zuversichtlich auf diese besondere Zeit einzulassen.

Lebensstufen und ihre Übergänge – Krisen und Reifung

Die Entwicklung unserer Persönlichkeit verläuft nicht linear, sondern in Stufen und mit den dazwischenliegenden Übergängen. Jeder Übergang bringt Unsicherheit mit sich. Das führt zu einer Krise, deren Bewältigung für die Entwicklung der Persönlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Mit diesen Sätzen kann man einen Kern der Erkenntnis des berühmten deutsch-amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Erik H. Erikson beschreiben.

Im Unterschied zum Begründer der Psychoanalyse, Siegmund Freud, der die Entwicklung der Persönlichkeit vor allem durch innere Kräfte (Triebe) gesteuert und motiviert sah, hält Erikson zusätzlich die psychosozialen Beziehungen für wesentlich. Wir sind eben nicht nur triebgesteuert, sondern entwickeln uns auch – und manchmal mehr – durch familiäre und freundschaftliche Beziehungen, aber ebenso durch Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen. Die einzelnen Lebensstufen haben alle ihre besonderen Aufgaben, Chancen und Gefahren. Es sind Zeiten besonderen Glücks und es sind Phasen, die anstrengend und überfordernd sein können.

Jede Lebensstufe hat aber auch eine gemeinsame Aufgabe: Sie soll uns bei der großen Frage nach unserer Identität helfen, bei der Suche nach Antworten auf die Frage: »Wer bin ich, und wer könnte ich sein?« Und: »Was ist der Sinn meines Lebens?«

Wir sind technisch und von unserem Wissen her in der Lage, unseren Planeten zu zerstören. Aber sind wir auch in der Lage, von unserem Bewusstsein, unserem Glauben, unserer mentalen Kraft her die Erde zu schützen und zu bewahren? Wenn man die politischen Führungspersonen in den verschiedenen Ländern betrachtet, kann einem Zweifel kommen. In immer mehr Ländern sind Autokraten an der Macht. Demokratie wird von vielen Menschen offensichtlich nicht mehr als die beste Gesellschaftsform angesehen. Der bekannte Psychiater und Neurologe Borwin Bandelow schreibt: »In Krisen reagieren wir noch immer steinzeitlich. Wir wollen einen starken Anführer und wir wollen einen einfachen Ausweg« (Märkische Zeitung 20.05.2020).

 

Das muss aber nicht so sein. Es gibt auch eine andere geistige Grundhaltung, die jedoch häufig schwieriger einzunehmen ist, weil sie uns fordert: Ein non-duales Denken, das die Wirklichkeit nicht nur in »richtig« oder »falsch« unterteilt, sondern in »sowohl« und »als auch«. Es ist leichter, in Schwarzweiß-Kategorien zu denken. Damit werde ich aber der Wirklichkeit, die meist differenzierter und damit spannungsreicher ist, nicht gerecht. Ein Beispiel: Barack Obama wurde auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin gefragt, wie er mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten umgeht. Er antwortete: »Ich frage mich in solchen Situationen, ob der andere nicht auch recht haben könnte – und sei es nur ein wenig!« Eine solche Haltung erfordert, die Perspektive zu wechseln, Spannungen auszuhalten und keine einfachen Lösungen zu suchen. Jesus treibt das Ganze auf die Spitze, indem er von seinen Jüngern fordert, nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde zu lieben (Matthäus 6,27–35). Die Beispiele großer Friedensstifter – Jesus, Martin Luther King, Mahatma Gandhi – zeigen, dass es ein lebenslanger, oft dorniger Weg ist, seine Feinde zu lieben, der einen manchmal sogar das eigene Leben kostet.

Es geht aber bei dieser Haltung nicht nur um die äußeren Feinde, sondern auch um die inneren: um Leidenschaften, die mir das Leben schwer machen, wie Neid, Geiz oder Wut. Diese Leidenschaften können wir nicht einfach wegzaubern, aber wir können sie zähmen. In diesem Buch geht es daher nicht nur um Krisenzeiten, sondern auch darum, herauszufinden, wer ich bin und wer ich sein will. Und es geht um das eigene Selbstbild und Fremdbild, also: Wer bin ich und für wen halten mich die anderen beziehungsweise wer möchte ich nach außen sein?

Von diesem Zwiespalt oder diesem inneren Kampf erzählt das bekannte Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: »Wer bin ich?«:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest,

wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

(Widerstand und Ergebung, S. 188)

Wer sind wir und wie können wir uns weiterentwickeln auf unserer Lebensreise? Diesen Fragen wollen wir in diesem Buch nachgehen.

Erik H. Erickson unterscheidet acht Stufen der Entwicklung, die jeweils eine spezifische Herausforderung für den Menschen bereithalten. Bei aller Zustimmung zu diesem Entwicklungsmodell, das vor allem dazu diente, die Entwicklungsschritte junger Menschen auf dem Weg ins Erwachsenwerden zu beschreiben, ist zu beachten, dass auch in der zweiten Lebenshälfte einschneidende Lebensveränderungen und »Sprünge« auf uns warten.

Heute wissen wir, dass die Dynamik der Persönlichkeit in der individualisierten, pluralisierten und multioptionalen Gesellschaft auch in höheren Jahren noch dramatische Veränderungen mit sich bringt. Deshalb unterscheiden wir hier zehn Lebensstufen, die durch Zwischenräume getrennt sind. Wenn wir diese Lebensstufen mit ihren Herausforderungen besser wahrnehmen und verstehen, kann uns das helfen, auf eine gute Weise in unserer Persönlichkeit zu wachsen.

Die Phasen eines Übergangs

Der deutsch-französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) hatte vor allem bei indigenen Völkern beobachtet, dass beim Übergang von einer Lebensstufe zur nächsten (zum Beispiel vom Jugendlichen zum Erwachsenen) besondere Rituale eine große Rolle spielen, die sogenannten Rites de Passages (Übergangsriten), die in den Zwischenräume zur Geltung kommen. Es sind Zeiten, in denen wir spüren, dass eine Veränderung im Leben ansteht, aber noch nicht da ist. Victor Turner, ein Ethnologe mit Schwerpunkt Ritualforschung, benutzt für diesen Zustand den Begriff »liminal space«. Dieser drückt aus, dass es sich um einen Grenzraum handelt, einen Zustand auf der Schwelle, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht greift. Es geht darum, diesen Spannungszustand bewusst zu durchleben. Nichts verläuft wie immer oder normal, weil es in dieser Phase keine Normalität mehr gibt. Alles ist anders und deshalb wird eine erhöhte Aufmerksamkeit von uns gefordert. Wir werden mit uns selbst auf eine neue Art konfrontiert. Ein Beispiel: Wenn ich mich auf eine neue berufliche Herausforderung beworben, eine Zusage erhalten habe und meinem neuen Arbeitgeber bestätigen muss: Ja, ich werde die Stelle antreten. Plötzlich werde ich unsicher. Soll ich das wirklich tun? Soll ich meinen Wohnort wirklich wechseln? Was ist mit meinen Freunden? Jeder kennt wohl solche Situationen.

Vor sieben Jahren – ich war zu dem Zeitpunkt 59 Jahre alt – befand ich mich genau in einer solche Situation. Ich hatte damals mit meiner Frau lange Diskussionen über unsere Zukunft geführt. Wir hatten zwölf Jahre in Lübeck gelebt, einer wundervollen Stadt an der Ostsee und der Trave. Ich sah überhaupt keinen Grund, von hier wegzugehen. Doch meine Frau – eine überzeugte Rheinländerin – bat mich inständig darum, zu versuchen, eine Pfarrstelle im Rheinland zu finden. In einem Alter, in dem andere intensiv an den Ruhestand denken, sollte ich noch einmal als Pfarrer in einer neuen Stadt, einer anderen Landeskirche, einer anderen Kultur anfangen. Dann wurde tatsächlich eine Stelle in Bad Godesberg frei.

Von da an befand ich mich in einem »liminal space«: Die Gemeinde in Bad Godesberg hatte Interesse, meine alte Gemeinde hätte mich gerne behalten. Ich hatte einige schlaflose Nächte, war hin- und hergerissen, habe die Frage »durchkaut«, wie es Ignatius von Loyola in seinen Exerzitien vorgibt. Ich kam damit aber nicht weiter. Geholfen hat mir dann der heilige Franz von Assisi.

Einer unserer spirituellen Lehrer, den wir in unserem Buch öfters erwähnen, ist der Franziskanerpater Richard Rohr. Wir mögen seinen wertschätzenden, aber gleichzeitig kritischen Blick auf unsere christliche Tradition und seine Offenheit für andere spirituelle Wege. In seinem »Center for Action and Contemplation« in New Mexico lehrt er die franziskanische Spiritualität, bei der es um einen praxisbezogenen Weg geht und weniger um theoretische Überlegungen theologischer Art. Er beschreibt beispielsweise die Lösung von Problemen bei einer Entscheidungsfindung gerne so: Wenn der Heilige Franz auf einer Wegkreuzung stand und nicht wusste, wo er hingehen sollte, streckte er seinen rechten Arm aus, drehte sich, und dort, wo der Arm am Ende des Drehens hinzeigte, ging er lang. Wenn der Weg richtig war, dankte er Gott. Und wenn der Weg falsch war, drehte er wieder um und dankte ebenfalls Gott, der ihn nun rechtzeitig hatte umkehren lassen und ihn jetzt ganz sicher den richtigen Weg führen würde. Ich nahm die Stelle also an, ging mit meiner Frau ins Rheinland, unsere Tochter fing an zu studieren und ich erlebte noch sechs intensive und erfüllende Jahre als Pfarrer bis zum Ruhestand.

Zwischen jeder der Lebensstufen gibt es solche Zwischenräume. Es sind Zeiten, in denen wir eine besondere Klarheit finden, Mut und innere Kräfte, um das, was uns hemmt und unfrei macht, abzugeben. Und es sind Zeiten der Offenheit und Gottesnähe. Ich muss durch diese Zwischenräume kommen. Es führt kein Weg daran vorbei.

Van Gennep beobachtete in diesen Zwischenräumen bestimmte, immer wiederkehrende Abläufe von ritualisierten Handlungen. Diese Rituale können sehr hilfreich sein für die Bewältigung von Krisenzeiten. Man kann drei Abschnitte unterscheiden, die man am besten am Beispiel einer Brücke und eines Flusses zeigen kann.

Rückblick und Abschied: die Ablösungsphase

Übung

Stellen Sie sich einmal vor, vor Ihnen liegt ein großer, breiter Fluss. Auf der anderen Seite sieht man schemenhaft das andere Ufer. Sie merken: Dieser Fluss ist tief und breit, hier kommen sie nicht mehr weiter, der Weg ist an diesem Fluss zunächst an sein Ende gekommen.

Sie müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass etwas zu Ende geht: das Arbeitsleben, die Jugend, die Ehe, das Leben, das Leben der Lieben. Sie möchten das möglicherweise gar nicht. Sie möchten, dass es immer so weiter geht wie bisher. Aber das nützt alles nichts. Unser Körper altert sogar schon vor dem Alter, die Zeit bleibt nicht stehen, der Ruhestand steht bevor, Beziehungen sind nicht mehr zu retten.

Wenn ich das nicht akzeptieren kann, laufe ich wie ein Hund am Fluss hin- und her und bin kreuzunglücklich, weil ich den Weg nicht finden kann. In unseren Kursen machen wir an dieser Stelle eine einfache Übung: Wir drehen uns um und blicken zurück auf das, was war.

Es geht dabei darum, danke zu sagen – zum Beispiel für die Zeit meiner Jugend mit ihren Ambivalenzen: Es gab schöne Zeiten in der Schule. Der erste Kuss, gute Noten, gute Freunde. Aber es gab auch unglückliche Zeiten, wenn die Angst da war, keinen passenden Partner zu finden, alleine zu sein, vielleicht in der Schule ein Jahr wiederholen zu müssen. Ähnliches gilt für andere Lebenszeiten, in denen es ebenfalls immer Glück und Unglück gab. Für beides versuche ich dankbar zu sein und dann ohne Bitterkeit Abschied zu nehmen. Ohne dieses »Umdrehen«, um ehrlich mein Leben zu betrachten, kann ich nicht wirklich frei werden für die nächste Phase.

Innehalten zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«: die Zwischenphase

Übung

Sie betrachten wieder den Fluss. Jetzt sehen Sie eine schmale Brücke oder eine Hängebrücke, die darüberführt. Um ans andere Ufer zu kommen, müssen Sie über diese Brücke gehen. Eine wackelige Angelegenheit. Als Sie mitten auf der Brücke sind, können Sie nach unten blicken. Tief nach unten. Sie merken plötzlich, dass Sie nicht mehr zurückgehen können. Der Rückweg ist versperrt.

Das ist der schwierigste Moment: Wenn wir merken, wir sind in dieser Schwellensituation, wie Richard Rohr diesen Übergang nennt. Es ist ein Moment existenzieller Angst, aber zugleich auch tiefer Vorfreude. Werde ich die neue Situation bewältigen oder werde ich scheitern? Diese Zeit der Unsicherheit muss ich aushalten, man kann sie nicht abkürzen, ohne seelischen Schaden zu nehmen. Es ist auch eine Zeit des inneren Kampfes. So wie Jesus in der Wüste mit dem »Verführer« kämpfte, kämpfe ich mit meinen Dämonen, meinen Schattenseiten. Zudem muss ich diesen Weg alleine gehen, niemand kann es mir abnehmen, das durchzustehen und meine eigenen Entscheidungen zu treffen – und mit den Konsequenzen zu leben. So wie der etwa 40-jährige Mann, der an einem unserer Seminare teilnahm. Es stellte sich heraus, dass er kurz vor seiner Hochzeit stand. Das Brautkleid, der Anzug waren schon gekauft, die Feier organisiert und die Gäste eingeladen. Eigentlich eine Zeit großer Vorfreude. Er fühlte sich aber kreuzunglücklich bei dem Gedanken, verheiratet zu sein. In dieser besonderen Zeit, auf der Schwelle zum Eheleben, wurde ihm immer klarer, dass er nicht heiraten wollte. Es wäre nur Theater. Doch was nun? Manche Klarheit entsteht erst in einem solchen Zwischenraum!

Ausblick und weitergehen: die Integrationsphase

 

Übung

Stellen Sie sich vor: Sie gehen Ihren Weg über die kleine Brücke. Sie sind sicher, Sie werden es schaffen. Sie kommen am anderen Ufer an.

Integration meint, mein bisheriges Leben mit all seinen Höhen und Tiefen mit dem neuen Lebensabschnitt zu verbinden. Das Alte ist vorbei, aber die Erfahrungen, die ich gemacht habe, haben mich geprägt, mich zu dem, zu der gemacht, der oder die ich heute bin.

Erwachsenwerden bedeutet, den eigenen Weg zu gehen, Übergänge und Brüche zu bewältigen, die das Leben für uns bereithält. Das braucht manchmal Abgrenzung, ist schmerzlich, voller Enttäuschungen. Und es heißt manchmal auch, andere zu enttäuschen, um sich selbst treu zu bleiben, sein Leben zu leben und nicht von anderen gelebt zu werden. In unserem Beispiel entschied sich der Bräutigam, die Hochzeit abzusagen. Für die Braut brach eine Welt zusammen. Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen und zahlte alle entstandenen Kosten, aber er spürte, dass die Entscheidung richtig war.

Diese Übergangsphasen durchlaufen wir immer wieder auf den verschiedenen Lebensstufen. Wir bleiben nicht stehen, Leben geht immer nur vorwärts, auch wenn wir es oft erst im Rückblick verstehen. Aber es lassen sich Phasen erkennen, die jeder Mensch mehr oder weniger deutlich durchläuft und durchlebt oder durchleben muss. Daher möchten wir im Folgenden die zehn Lebensstufen etwas genauer anschauen.