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5 Das aktuelle Scheitern

Die Gemeindetheologie 1935 war der Versuch, die katholische Kirche als eine amtszentrierte Heilsinstitution autoritär und gleichzeitig kommunitär umzuformatieren. Dieser Versuch scheiterte letztlich mit dem Untergang des österreichischen Ständestaates und wohl auch an der Resistenz des volkskatholischen Milieus gegen allzu forcierte religiöse Aktivierungs- und Partizipationsforderungen.

Die Gemeindetheologie 1970 war der Versuch, in Zeiten der beginnenden Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung auch von Katholikinnen und Katholiken die katholische Kirche von einer amtszentrierten Heilsinstitution zu einer quasi-familiären gemeindlichen Lebensgemeinschaft umzuformatieren. Dieser Versuch scheiterte an seinem Charakter als halbierte, ja selbstwidersprüchliche Modernisierung, einem Widerspruch, wie er etwa schon in Klostermanns Doppelziel von Intensivierung und Expansion zum Ausdruck kommt. Die internen Widersprüchlichkeiten des gemeindetheologischen Konzepts sind denn auch unübersehbar: Die gemeindetheologische Modernisierung der Nachkonzilszeit wollte freigeben („mündiger Christ“) und gleichzeitig wieder in der „Pfarrfamilie“ eingemeinden. Sie wollte Priester und Laien in ein neues gleichstufiges Verhältnis bringen – bei undiskutierbarem Leitungsmonopol des priesterlichen Gemeindeleiters. Sie wollte eine Freiwilligengemeinschaft sein, die aber auf ein spezifisches Territorium bezogen sein sollte,254 sie wollte für alle da sein, war es aber doch für immer weniger, und wurde immer mehr, wie Rolf Zerfaß und Klaus Ross früh schon bemerkten, ein „Ort beharrlichen Kreisens um sich selber, um den Kirchturm, das Pfarrfest und die wenigen Personen, die derzeit (und wie lange schon?) im Pfarrgemeinderat das Sagen haben“255. Zudem wurden die ehemals extrem aufgespannten Partizipationsgrade an Kirche auf das berühmte „aktive Gemeindemitglied“ hin mediatisiert und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als auch die Katholiken und Katholikinnen die Lizenz zu bindungsfreier religiöser Praxis bekamen.

Aus den inneren Selbstwidersprüchlichkeiten der Gemeindetheologie 1970 entwickelten sich denn auch ihre äußeren Paradoxien: Die Gemeinde sollte das Leben in Christus vermitteln und musste doch offenbar selbst ständig „verlebendigt“ werden, sie war auch in ihrem eigenen Selbstverständnis kein Selbstzweck, zog aber alle Bemühungen und Initiativen auf sich, sie war plötzlich die „Summe und Pointe aller Pastoral“256, und doch expandierten die nicht-gemeindlichen Handlungssektoren der Kirche, also Diakonie, Kategorialpastoral oder Bildungsarbeit, weit stärker.

Die Gemeindetheologie 1970 formulierte ein spezifisches innerkirchliches sozialtechnologisches Projekt. Sie versprach Vergemeinschaftung jenseits der Repression einer unverlassbaren Schicksalsgemeinschaft und doch diesseits der unheimlichen und ungebändigten Freiheit des Einzelnen. Deshalb thematisiert die Gemeindetheologie auch primär Sozialformen, nicht aber pastorale Inhalte. Die werden auch in der Gemeindetheologie immer noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeitsaura umgeben, mag diese Selbstverständlichkeit, etwa in der Sakramentenpastoral, auch nach und nach noch so hinfällig geworden sein. Ähnlich wie beim Papsttum soll über eine institutionelle Struktur gesichert werden, was in der liberalen Gesellschaft gefährdet erscheint: die Tradierung des Christlichen.

Der Kern der Selbstwidersprüchlichkeit des gemeindetheologischen Konzepts gründet in seinem ambivalenten Verhältnis zur Freiheit. Diese Ambivalenz aber rührt aus dem Status der Gemeindetheologie als kriseninduziertem Rettungsprogramm. Und wieder gilt: Ähnlich wie das Papsttum im späten 19. Jahrhundert, und daher auch ähnlich emotional aufgeladen, zog die Gemeindetheologie enorme Rettungsphantasien einer durch die moderne liberale Gesellschaft und ihre ganz anderen Lebensstile unter Druck geratenen Kirche auf sich – wenn auch diesmal bei den eher modernitätsfreundlichen Teilen der Kirche. In einem kommt sie mit der forcierten Papstkirche der Pianischen Epoche überein: Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden. Das aber scheint nicht zu gelingen.

WIDER DEN SANFTEN INSTITUTIONALISMUS DER GEMEINDE
Zur Priorität der Pastoral vor ihren sozialen Organisationsformen

Dass die Gemeinde in einer massiven Krise steckt, ist eigentlich ziemlich klar erkennbar – nicht zuletzt am Erscheinen voluminöser Rettungsversuche257 (Wollbold, Müller). Jede andere Institution hätte aus der Tatsache, dass sie – so in Deutschland – seit 1950 fast 70 Prozent der regelmäßigen Teilnehmer verloren hat, irgendeine institutionelle Konsequenz gezogen. Nicht so, lange, das katholische Pastoralmanagement.

Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn Vertreter der katholischen Pastoraltheologie das, was da offenkundig nicht wie gewünscht funktioniert, weiterhin zur „Summe und Pointe aller Pastoral“258 erklären. Angesichts der Realität ist das mindestens mutig. Es setzt aber vor allem falsche Prioritäten im Grundsatzbereich. Über die aber lohnt sich jede Auseinandersetzung.

1 Der Rückblick: Wie die „Gemeindetheologie“ entstand, und was sie wem versprach

Ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ging es mit der „konstantinischen Formation“ hierzulande endgültig zu Ende. Die Pastoraltheologie hat darauf mit einer ganzen Reihe innovativer pastoraler Konzepte reagiert. Deren folgenreichstes war die Gemeindetheologie. Sie lief darauf hinaus, die auseinander getretenen Größen „kirchliche Sozialform“, „religiöses Sinnsystem“ und „gesellschaftliche Wirklichkeit“ neu zu arrangieren. Näherhin: Kirchliche Sozialform und religiöses Sinnsystem wurden unter dem Gemeindebegriff in ein spezifisches Nahverhältnis gebracht und (mehr oder weniger) kontrastiv der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübergestellt. Der sachorientierten modernen Außenwelt mit ihrer rational-kühlen Handlungslogik wurde konzeptionell nun eine verdichtete gemeindliche Innenwelt mit religiös aufgeladener Kommunikations- und Subjektrhetorik entgegengesetzt.

Diese Gemeindetheologie unterbreitete drei attraktive Versprechen. Zum einen schien hier ein Ort der anspruchsvollen Konkretion des Christlichen gefunden, zweitens verbreitete sie die Hoffnung, in den Modernitätsstrudeln der Gegenwart mit anderen, ebenfalls gegenwartssensiblen Katholiken und Katholikinnen dies sein und vor allem bleiben zu können, drittens aber versprach sie, das alte repressive Katholizismuskonzept der Pianischen Epoche zu überwinden: respektable Dinge allesamt. Viele haben vieles in diese Hoffnung investiert – und es wäre vermessen zu sagen, sie hätte immer nur getrogen.

2 Die geheimen Imperative der Gemeinde – und warum sich die Menschen ihnen verweigern

Die Gemeinde forderte dafür freilich einiges. Im Wesentlichen ein Vierfaches: Man musste erstens „dazugehören“, zweitens „mitmachen“, drittens sich (zumindest zumeist) über seinen Lebenslaufstatus (Kind, Jugendliche/r, Mann, Frau, „Senior/in“) identifizieren lassen und schließlich die „Gemeinde“ als Selbstverständlichkeit akzeptieren. Es galten also ein Integrations- und ein Aktivitätspostulat, es wirkte, gemeindlich reformatiert, die alte Standespastoral nach und es herrschte eine institutionelle Selbstverständlichkeitswahrnehmung.

Am charakteristischen Schlagwort dieser pastoralen Epoche – „Lebendige Gemeinde“ – ist nun eine fünfte, wahrscheinlich die grundlegende Eigenschaft der Gemeindetheologie abzulesen: ihr latenter Institutionalismus. „Lebendige Gemeinde“ als Zielgröße erklärt das Leben einer sozialen Größe zum obersten Zweck des eigenen Handelns, nicht das Leben ihrer Mitglieder259 oder gar das Leben ihrer Mitglieder aus und mit dem Evangelium. Ganz abgesehen davon, dass, wem ständig Leben eingehaucht werden muss, ungewollt zugesteht, permanent vom Hinsiechen bedroht zu sein.

Nun beginnt sich freilich die Lage zu ändern. Allerdings nicht, weil einige wenige Pastoraltheologen beginnen, die Gemeindeideologie der 1970er Jahre mit der Realität zu vergleichen260 – das würde den aktuellen Einfluss der Pastoraltheologie weit überschätzen. Die Änderungen kommen nicht aus dem Diskurs, sondern aus der institutionellen Wirklichkeit. Es sind vielmehr die Pastoralämter mit ihren einschlägigen pastoralplanerischen Initiativen, die de facto den Pfarrpriester zunehmend wieder zu dem werden lassen, was er schon in der Spätantike war: der Kleinbischof einer ganzen Anzahl von Pfarreien mit primärer Sakramentenspendefunktion und oberster, in vielen Bereichen eher formaler Leitungsgewalt. Es bleibt den Pastoralämtern unter den gegebenen Bedingungen freilich auch gar nichts anderes übrig, denn den „Pfarrfamilien“ gehen die Väter aus und laufen die Kinder, vor allem die Töchter, davon.

Generell gilt: Gemeinden werden zu dem, wozu religiöse Gemeinschaften in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften immer werden, so sie nicht das Alternativszenario der Versektung wählen: zu stets reversiblen und daher prekären Kundenzirkeln auf Freiwilligkeitsbasis. Die soziologischen Gründe hierfür wurden schon öfter analysiert. Sie laufen einerseits auf die Einsicht in die „lokale Entbettung sozialen Lebens“ hinaus: Soziale Identität wird immer weniger über lokale Beziehungen definiert. Unsere Nächsten sind nicht zuerst jene, die zufällig um uns herum wohnen, sondern jene, deren Nummer in unserem Handy gespeichert ist. Die vormoderne Identität von sozialem Beziehungsraum, lokalem Nahraum und gesellschaftlichem und zumeist auch kirchlichem Organisationsraum löst sich zunehmend auf.

 

Zum anderen aber vergesellschaftet sich Religion in unserer Gesellschaft dramatisch neu: nicht mehr in geburtsabhängigen, also ständischen Schicksalsgemeinschaften, sondern marktförmig. Ein großer Teil der aktuellen Probleme der Kirche dürfte im Übrigen darin bestehen, dass sie diesen epochalen Kontextwechsel in ihrem konkreten Handeln weit gefügiger nachvollzogen hat als in ihren Reflexionsdiskursen, was zu einer unübersehbaren theoretischen, vor allem systematisch-theologischen Unterbestimmung ihres Handelns und zum Auseinanderklaffen eines marktkritischen theologischen Selbstverständnisdiskurses und eines marktförmigen Verhaltens führt. Dass eine Mehrheit der Kirchenmitglieder mittlerweile die Kirche schon ganz anders nutzt, als diese selbst es wünscht und vorschreibt, bleibt dann merkwürdig wenig beachtet, ja „unbekannt“.261

Das alles gefällt der Kirche nicht sehr – im Übrigen mit einigem Grund. Aber sie wird nicht gefragt, ob es ihr gefällt, und es ist auch ziemlich irrelevant. Sie wird vielmehr gefragt, wie sie sich darin bewährt, oder besser und genauer: wie sie in dieser Situation das Evangelium in Wort und Tat präsentiert. Denn dafür ist sie da – und nicht umgekehrt das Evangelium für sie oder gar für eine ihrer sicherlich spannendsten und wichtigsten Sozialformen, die Gemeinde.

3 Pastoral: Die „Summe und Pointe der Kirche“

Es ist nicht selbstverständlich, wozu es Kirche gibt. Sonst müsste man es nicht immer wieder neu definieren. Das letzte Konzil hat es wieder getan, mit eindringlichen Formulierungen. Für das Konzil ist die Kirche „das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1) und darin ein „allumfassende(s) Sakrament des Heiles, welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (Gaudium et spes 45).

Diese Bindung der Kirche an ihre sakramentale Sendung dezentriert Kirche aus dem Sog ihrer institutionellen Selbsterhaltung und verweist sie auf ihre existenzlegitimierende Aufgabe: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Der quasi immanenten Häresie einer jeden religiösen Institution, der Selbstverwechslung mit dem, dem sie zu dienen hat, wird hier zielgerichtet ein aufgabenbezogenes Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Kirche hat die Zusage, das Evangelium, also das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen authentisch zu verkündigen, sie hat aber auch diese Aufgabe tatsächlich zu verwirklichen.

Pastoral ist nun aber genau das, was geschieht, wenn die Kirche ihre Aufgabe wirklich in Angriff nimmt, das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich zu offenbaren und zu verwirklichen. Pastoral genau so und nicht enger, weder nur als (Individual-)Seelsorge noch gar als rein priesterliches Tun, definiert zu haben ist einer der (vielen) Fortschritte des II. Vatikanischen Konzils und eines seiner großen Verdienste. Das Evangelium dieser Welt zu erschließen, indem sie es von den Menschen dieser Welt her entdeckt, dieses Entdeckungsgeschehen ist der Kern der Pastoral und das Kerngeschäft der Kirche. Alle Sozialformen in der Kirche sind dazu da. Die Kirche ist damit aber vor allem eines: Pastoralgemeinschaft.262

Nicht die Gemeinde ist also die Summe und Pointe der Pastoral, und selbst die Kirche ist es nicht. Sondern die Pastoral ist die Summe und Pointe aller kirchlicher Sozialformen, auch der Gemeinde. Wer das umdreht, mit welchen guten Absichten auch immer, begibt sich auf den schiefen Weg des Institutionalismus und nimmt zugleich der Kirche den institutionellen Möglichkeitssinn, den sie heute so dringend braucht. Er arbeitet an der Rettung des Alten, wo es doch um die Möglichkeitsbedingungen von Pastoral heute ginge.

4 Das Territorialprinzip und die Liturgie: Wo die Pfarrei Gott präsentiert

Was bleibt dann aber der Pfarrei? Potentiell: alle Pastoral, die sie tun kann und gut tun kann. Also alles, was jenen Männern und Frauen, die sich in ihr versammeln, an Erschließung des Evangeliums aus dem Leben und des Lebens aus dem Evangelium möglich ist. Das kann an verschiedenen Orten ganz Verschiedenes sein – aber die Gläubigen vor Ort müssen es auch wirklich können. Dies könnte man die potentielle charismatische Omnipotenz der Gemeinde nennen: Was ihr geschenkt ist, soll sie verwirklichen – und auch verwirklichen dürfen. Aber was ihr nicht geschenkt ist, soll sie nicht machen müssen – mit zwei Ausnahmen, und beide sind gnadentheologisch begründet: Liturgie und Territorialpräsenz.

Soziologisch gesehen ist die Liturgie enorm pluralitätsfähig. Gerade als relativ normiertes und auch formalisiertes Geschehen, bei dem der individuelle Partizipationsgrad zwischen tiefster Teilhabe und diffuser „Abwesenheit in der Anwesenheit“ offen bleiben kann, hat die Liturgie die Chance, der zentrale Ort der Integration von Gemeinde im Angesicht Gottes zu werden. Damit ist aber auch schon der zweite, wichtigere Grund benannt: Die Liturgie ist der zentrale gnadentheologische Vollzug der Kirche, sie ist Ort der diskreten Öffnung der Menschen zueinander angesichts der unendlichen Offenheit Gottes für uns.

Zum anderen aber muss sich die Pfarrei als Angebotsstruktur des Evangeliums in der Fläche bewähren. Wieder legt dies die Dopplung von soziologischen Eigenschaften und gnadentheologischem Auftrag nahe. Denn als Angebotsstruktur präsentiert das Territorialprinzip eine einfache, überschaubare Organisationsstruktur, die identifizierbare Orte und damit erreichbare Nähe für Erst- oder Dauerkontakte zur Botschaft des Evangeliums angibt.

Theologisch kann das Territorialprinzip als ein Signal diakonischer Selbstanbietung der Kirche an und für alle verstanden werden. Es steht für die Ungeschuldetheit und Offenheit der Gnade Gottes an alle, wo immer sie leben und wer immer sie sind. Das Territorialprinzip zwingt die Kirche hinein in die Gesellschaft, zwingt Kirche, alle Menschen wahrzunehmen, sich mit ihren Sorgen und Nöten zu identifizieren, sie in sich aufzunehmen, ihnen gerecht zu werden. Das Territorialprinzip ist damit – ganz gegen den ersten Anschein – ein großer Anspruch.

5 Und ansonsten: Vertrauen in den institutionellen Möglichkeitssinn des Volkes Gottes

Das Neue ist in seinem Wesen Überraschung. Deswegen ist wenig von dem, was kommen wird, heute noch oder schon planbar. Die Statik der Unveränderlichkeit war das Signum des Selbstverständnisses vormoderner Zeiten, die Planbarkeit der Zukunft die Ideologie der klassischen Moderne. Die Gegenwart aber ahnt die Brüchigkeit aller Logik der Projekte: Die Zukunft wird nicht das sein, was wir heute planen. Was wir heute planen, wird die Zukunft bestimmen, natürlich, aber wie, das wissen wir nicht.

In der katholischen Kirche scheint – gerade was ihre Basisorganisation betrifft – noch der Kampf zwischen den Statikern der Unveränderlichkeit und den Technokraten der Zukunft zu toben. Das macht es nicht eben einfach, Vorschläge, die auf der Basis der Unplanbarkeit der Zukunft oder – theologisch gesprochen – auf dem Gnadenwirken Gottes, dem Glaubenssinn des Volkes Gottes und der prophetischen Autorität seiner Hierarchie beruhen, vorzulegen. Solche Vorschläge wären:

Die „Zeichen der Zeit“ erkennen: Das Ende der unterstellten Selbstverständlichkeit

Pastoral entsteht aus der kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir den Sinn, und schon gar nicht, dass wir die Bedeutung des Evangeliums heute wirklich kennen. Dazu, sagt das Konzil (Gaudium et spes 4), ist zum Beispiel die Kenntnis der „Zeichen der Zeit“ notwendig, also die Wahrnehmung der Herausforderungen, die dem Evangelium heute gestellt sind. Diese Wahrnehmung ist daher das erste Thema der Pastoral und also auch der Pastoraltheologie. Mit ihr hat alle Pastoral zu beginnen – nicht mit der Apologetik von kirchlichen Sozialformen.

Pastorale Prozessorientierung statt Sozialformorientierung

Natürlich braucht pastorales Handeln Strukturen und stiftet Pastoral Gemeinschaft. Aber das sachlich Primäre ist der pastorale Prozess und er ist es gegenwärtig immer mehr auch zeitlich. Pastorale Erfahrungen stiften Gemeinschaft und geben ihr Dauer und Stabilität, ohne sie verdunsten kirchliche Gemeinschaften oder sklerotisieren sich in Autoritarismus und Bürokratismus. Pastoral und Pastoraltheologie sollten sich Orten gelingender pastoraler Prozesse, ihren Bedingungen und Möglichkeiten mehr widmen als der Rettung alter pastoraler Orte. Sie sollten schauen, was warum an Pastoral wo gelingt, und das analysieren und weitergeben. Das wäre die notwendige „materiale Wende“ in der katholischen Pastoral(-theologie).

Tendenzielle Aufhebung der Trennung von Pfarr- und Kategorialpastoral

Die alte Trennung von Pfarr- und Kategorialpastoral scheint immer weniger funktional zu sein für die Organisation pastoraler Prozesse.263 Sie separiert, was gerade in seiner Differenzierung sich wahrnehmen, kennen und bereichern müsste. Daher scheint eine differenzierte Struktur „dichter pastoraler Orte“ das Naheliegendste zu sein: ausstrahlungsstarke, erkennbare, niederschwellige Orte pastoraler Intensität, zu denen man kommen, zu denen man hin verwiesen werden, von denen man aber auch wieder gehen kann. Das einschlägige Stichwort heißt bekanntlich „Netzwerk“.264 Voraussetzung hierfür wäre natürlich das Ende jedes Sozialformegoismus.

Zuletzt aber bräuchte es eben dies: Vertrauen in das Volk Gottes und seinen kreativen Möglichkeitssinn.

KIRCHENPOLITIK UND PASTORALTHEOLOGISCHER DISKURS
Beiläufige Beobachtungen über ihren Zusammenhang am Beispiel einer Kontroverse zwischen M. N. Ebertz und J. Werbick
1 Das Problem

Jürgen Werbick und Michael N. Ebertz tauschten vor einiger Zeit die argumentativen Klingen zur viel diskutierten Frage nach der „Zukunft der Gemeinde“, beziehungsweise, ein wenig grundsätzlicher und eigentlich missverständlich formuliert, zur „Verörtlichung des Glaubens“.265

Der Dogmatiker Werbick und der Soziologe und Pastoraltheologe Ebertz repräsentieren die beiden zentralen Referenzwissenschaften der Pastoraltheologie. Sie führen in ihrer kleinen, aber repräsentativen Debatte einen aktuellen, zudem ohne Zweifel relevanten pastoraltheologischen Diskurs von einigem Niveau. Die argumentativen Pfeile fliegen eindrucksvoll hinüber und herüber, allerdings aneinander vorbei: knapp sicherlich, aber eben unübersehbar. Diese Konstellation sich wechselseitig vielleicht noch berührender, kaum schneidender, vor allem aber nicht treffender Diskurse hat Gründe, die über den konkreten Kampfplatz und sein Thema hinausreichen.

Um diese Gründe, also um die Struktur der Auseinandersetzung und was sich an ihr ablesen lässt, soll es im Folgenden gehen. Denn in dieser Auseinandersetzung zeigt sich ein bislang kaum bearbeitetes Thema des theologischen, speziell des pastoraltheologischen Diskurses: seine eigene Situierung im Feld des Politischen, speziell der innerkirchlichen politischen Vektoren. Natürlich ist sich der pastoraltheologische Diskurs seiner eigenen politischen (Interventions-)Chancen und Risiken bewusst,266 doch eher selbstverständlich behandelt er seine eigenen politischen Strukturierungen, Abhängigkeiten und Bedingtheiten. Wiewohl der pastoraltheologische Diskurs als „Praxiswissenschaft“ zentral im Feld des (Kirchen-)Politischen situiert ist, gibt es (praktisch) keine „Kritische Theorie der Pastoraltheologie“.267

An der vorliegenden und hier analysierten Diskussion zweier renommierter Theologen zu einem umstrittenen pastoraltheologischen Thema sollen diese politischen Strukturierungen, Abhängigkeiten und Bedingtheiten analysiert werden. Es kann vermutet werden, dass diese Auseinandersetzung geradezu paradigmatische Qualität für die pastoraltheologische Diskussion, zumindest jene zum Bereich der Kirchenbildung, besitzt.

 

Worum geht es inhaltlich? Schon das ist nicht so ganz klar und auf mindestens zwei Ebenen zu beantworten. Vordergründig geht es um die „Verörtlichung des Glaubens“, was aber auch schon nicht wirklich zutrifft, denn keiner der beiden Kontrahenten bestreitet die Notwendigkeit solcher „Verörtlichung“. Auch Ebertz betont, dass der Glaube auf „verörtlichte Begegnungen angewiesen ist“ und eben nicht „umgebettet werden“ könne „in ortlose Beziehungen etwa des neuen sozialen Raums der elektronischen Medien“268.

Mit seinem Plädoyer für eine „Verörtlichung des Glaubens“ trifft Werbick Ebertz also nicht wirklich, schon hier läuft etwas aneinander vorbei: Ebertz’ Gemeindekritik meint eben kein Plädoyer für rein virtuelle kirchliche Räume oder „Zwischenräume“, wie es anderswo269 bei ihm heißt. Man wird also trotz der vom Herausgeber der Zeitschrift geschickt inszenierten Blattdramaturgie unterscheiden müssen, worum es Ebertz und worum es Werbick geht. Das „Verörtlichungs“- oder „Was wird aus der Gemeinde?“-Thema scheint eher das Forum, der Ort, der Spielraum, auf dem und mit dem andere Themen ausgetragen werden: soweit eine erste Beobachtung. Aber welche Themen? Wie und warum?