Das polnische Haus

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Aus der Reihe: eva digital
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Überhaupt schienen viele Gebäude in Lwów der offiziellen Geschichtsschreibung zu widersprechen. So prangte an der Fassade des Jesuitenklosters ein großes Wappen der alten Union – mit dem polnischen Adler und dem litauischen Ritter. Unter dem bröckelnden Putz von Jugendstilwarenhäusern kamen polnische Namen zum Vorschein. An einem Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße hing immer noch ein verrostetes Schild mit der Hausnummer und dem polnischen Straßennamen Kanonia. Wahrscheinlich waren die sowjetischen Arbeiter zu faul gewesen, es herunterzunehmen – es hing zu hoch, als daß man mit einer einfachen Leiter herangekommen wäre. Manche alte Männer, die uns Polnisch sprechen hörten, grüßten uns oder zerrten uns zwecks einer heimlichen Unterredung in einen Hauseingang. Sie gehörten zu den Leuten, die Polen nicht rechtzeitig vor den »ethnischen Säuberungen« der vierziger und fünfziger Jahre verlassen hatten. »Haben Sie polnische Briefmarken?« fragte mich einmal ein gekrümmter alter Mann mit weißem Haarschopf. Er schaute mich, einen pubertierenden Teenager, untertänig an. »Ich möchte nur etwas haben, was aus Polen kommt.« Das Wort »Polen« sprach er mit einer fast religiösen Ehrfurcht aus.

Die offiziellen Lügen waren im Falle Lwóws besonders kraß, da die Stadt, anders als weite Flächen Ostpolens, niemals zu Rußland gehört hat, nicht einmal während der polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts. Die Stadtmauern stammten aus dem Mittelalter, es gab Kirchen aus der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus sowie eine armenische Kathedrale mit einem Friedhof, wo armenische Adelige ruhten und die Gräber mit dem polnischen Wappen geschmückt waren. Eine prunkvolle unierte Basilika überragte auf einem Hügel die Stadt. Ein leerer Platz markierte die Stelle, wo einst die Synagoge stand. Lwów, seit dem Mittelalter eine Handelsstadt, war schon immer reich gewesen und hatte im 19. Jahrhundert noch einen kleinen Öl-boom erlebt. In der Stadt war ein amerikanisches Konsulat angesiedelt, ein vornehmes Hotel (das George, das einem Franzosen gehörte) und ein Opernhaus, das der Scala in verkleinertem Maßstab nachgebildet war. Die Straßen von Lwów hatten immer noch ein starkes bürgerliches Flair. Wenn ich die Augen schloß, sah ich noble Automobile über das Kopfsteinpflaster rollen, promenierende Damen in Pelzmantel und geschäftige Herren in Zylinder. Wenn ich die Augen wieder öffnete, sah ich die neuen sowjetischen Bewohner, die seltsam mit der Architektur der Stadt kontrastierten, keinen Sinn für ihre mondäne Vergangenheit zu haben schienen: Bäuerinnen mit Kopftüchern und groben Gesichtszügen, stämmige Männer, die billige Aktentaschen mit sich herumschleppten.

Lwóws gotische Kathedrale wurde von Kasimir dem Großen errichtet, demselben König, der auch meiner Heimatstadt Bydgoszcz das Stadtrecht verliehen hatte. In den Seitenschiffen der Kathedrale befanden sich Marmorgräber von polnischen Adeligen. Fresken und Gemälde erinnerten an Szenen aus der heroischen Stadtgeschichte: die Verteidigung gegen die Tataren, die Brandschatzung durch die Schweden. Doch trotz aller historischen Größe war die einst so bedeutende Kathedrale durch die Willkür der Sowjetbürokraten mit Schließung bedroht. Wir besuchten die Kathedrale jedesmal auf unserer Reise in den Süden, so auch 1979, nur Monate, nachdem Karol Wojtyła zum Papst gewählt worden war. Nach der Messe bahnte ich mir einen Weg zum Altar und zu einer Seitentür im Presbyterium, durch die man in die Sakristei kam. Jacek, der Sohn von Freunden meiner Eltern, die zusammen mit uns reisten, begleitete mich. Wir hatten ein Paket bei uns, dessen Inhalt ich meinen Eltern erst nach der Überquerung der sowjetischen Grenze verraten hatte, weil er uns Ärger hätte einbrocken können: Es handelte sich um mehrere Hundert Bilder vom neuen Papst. Sie bildeten einen Teil meiner Handelsware, und eigentlich hoffte ich, sie verkaufen zu können. Jetzt jedoch, in der Kathedrale, schien es mir richtiger, sie zu verschenken. Die Sakristei war mit dunklem Holz getäfelt. Eine alte Frau, die sich womöglich nicht nur an die polnischen, sondern auch an die österreichischungarischen Zeiten erinnern konnte, saß an einem großen Schreibtisch und machte Eintragungen in einem Hauptbuch. Sie schaute hoch, und ich übergab ihr das Paket.

»Ich habe sie aus Polen mitgebracht, weil ich dachte, daß sie hier vielleicht schwer zu bekommen sind. Ich hoffe, Sie können sie gut gebrauchen.«

Sie öffnete das Paket, breitete ein paar Bilder auf der Tischplatte aus und schwieg eine Weile, während sie auf die Bilder starrte. Dann blickte sie wieder hoch: Sie machte ein ernstes Gesicht, aber ihre Augen leuchteten. Sie weinte. »Der Herrgott hat euch gesandt. Es sind schon viele Menschen von weither gekommen. Sie hatten von unserem neuen Papst gehört, aber noch nie sein Gesicht gesehen, weil die Zeitungen und das Fernsehen es nicht zeigen. Wir konnten ihnen nichts geben, denn wir hatten selbst keine Bilder. Jetzt haben wir welche. Viele Menschen werden noch lange für euch beten.«

»Keine Ursache, ich habe nur meine Pflicht getan«, murmelte ich, und Jacek und ich schlichen gerührt, aber etwas beschämt zur Tür.

»Panowie!« Ihre Stimme klang plötzlich laut und deutlich und schreckte uns auf, als wir gerade zur Tür hinausgehen wollten. Wir standen sofort stramm; es war das erste Mal, daß jemand uns als »Herren« anredete. »Wann werden Sie wieder nach Lwów kommen?« fragte sie.

»Nächstes Jahr wahrscheinlich, wenn wir wieder in die Türkei fahren«, erwiderte ich.

»Nein, ich meinte: in Uniform, meine Herren. Wann werden Sie in Uniform nach Lwów kommen? Wir wünschen uns nichts lieber.«

Wir alle betrachteten Lwów mittlerweile als sowjetische Stadt und nahmen an, daß sich daran so bald nichts ändern würde. Und doch erfuhr ich durch Lwów einen tiefen Respekt für die polnische Vergangenheit. Die Erfahrung einer verbotenen Wahrheit, die dort mit Händen zu greifen war, immunisierte mich gegen die offiziellen Lügen. Als ich später im Exil über die Massaker las, die dort stattgefunden hatten, nachdem die Rote Armee 1939 in die Stadt einzogen war, mußte ich an den alten Mann denken, der mich um polnische Briefmarken gebeten hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was er alles durchgemacht haben mußte, daß er sich sogar nach dem kommunistischen Polen sehnen konnte.

Unseren nächsten Zwischenstopp nach Lwów machten wir normalerweise im Süden Bulgariens auf einem Campingplatz namens Nestinarka, der am Schwarzen Meer gelegen war. Unser Sprungbrett für die Weiterreise in die Türkei verfügte über ein Gebäude mit furchtbar verschmutzten öffentlichen Toiletten, das wir das »Weiße Haus« nannten, doch dafür entschädigte die gute Lage direkt an einem goldgelben, kilometerlangen Strand. Die meisten Campingbesucher waren Touristen aus anderen kommunistischen Ländern: Ostdeutsche, Ungarn und Tschechoslowaken – die alle auf uns Polen neidisch waren, da wir als einzige unsere Reise über die Grenzen der Bruderstaaten hinaus fortsetzen durften. An beiden Enden des Campingstrands befanden sich Felsen aus Vulkangestein, die jeweils einen kleinen Nacktbadestrand umgrenzten. Dort tummelten sich zwar auch ein paar ortsansässige Gigolos auf der Suche nach ausländischer Kundschaft, aber die meisten FKKler waren wohl deutsche Familien – von schrumpeligen Großmüttern bis zu dicklichen Enkeltöchtern –, die sich unbekümmert gaben, ob beim Sonnen, Windsurfen oder Schnorcheln. Die Polen waren dagegen ziemlich verklemmt. Allerhöchstens entblößten die Frauen ihre Brust, um sie jedoch sofort wieder einzupakken, wenn sie die Stimmen von Teenagern vernahmen, die in ihrer eigenen Sprache Kommentare abgaben.

Manchmal machte sich die politische Wirklichkeit Bulgariens auch in unserem Urlaub bemerkbar. Auf einem Streifzug mit Freunden wagte ich mich einmal weiter vor als sonst, bis der Strand völlig menschenleer war. Hoch oben auf einem Felsvorsprung, der weit ins Meer hineinragte, entdeckten wir ein faszinierendes Bauwerk. Es war schon fast dunkel, als wir einen steilen Pfad hinaufkletterten, wobei wir uns an kleinen Steinbrocken hochhangeln mußten. Das Gebäude war von unbestimmtem Alter und bestand aus demselben Felsmaterial, auf dem es errichtet worden war. Eine schwere Holztür war mit einer rostigen Eisenkette verschlossen, doch wir rukkelten solange daran herum, bis die Kette schließlich weit genug nachgab und wir durch die Öffnung hindurchschlüpfen konnten. Drinnen war es stockfinster; nur durch zwei Schlitze direkt unter der Decke drang ein wenig Licht. Bevor unsere Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, stolperte ich über ein großes Stück Holz. Plötzlich wurde ein Goldschimmer sichtbar. Große Kreise, Ovale und Quadrate leuchteten an den Wänden, am Boden lagen Goldbarren. Allmählich konnten wir sehen, wie rosa Gesichter sich in den vergoldeten Rahmen abzeichneten. »Es ist eine Kirche«, flüsterte einer von uns. Auf einmal bekamen wir es mit der Angst. Barfuß und in Badehosen blieben wir wie angewurzelt stehen und staunten beim Anblick der Dinge um uns herum. Die Kirche war entweiht worden. Das Stück Holz, über das ich gestolpert war, entpuppte sich als eine kaputte Bank, und die Goldbarren waren in Wirklichkeit Reste eines Altars, die zusammen mit anderen Trümmern des Kircheninventars über den Boden verstreut lagen. Die meisten Gemälde waren zerrissen oder – wahrscheinlich mit Bajonetts – zerschnitten worden. Das riesige Deckengemälde, das Christus mit Heiligenschein und Schwert darstellte, wies eine Reihe von Einschußlöchern auf, die quer über das byzantinische Gesicht verlief. Als wir uns vom ersten Schrecken erholt hatten, sagte einer, wir sollten gucken, ob wir Ikonen finden könnten.

Einen Moment lang stellten wir uns vor, wir wären Tom Sawyer und Huckleberry Finn und würden mit reichen Schätzen zurückkehren. Aber die Begeisterung hielt sich in Grenzen, der Anblick der Zerstörungen war eher furchteinflößend. Wir schlichen davon und machtenuns mit einem traurigen Gefühl auf den Rückweg. Es war spät und dunkel geworden, als wir den Campingplatz erreichten, wo unsere wütenden Eltern längst auf uns warteten. Wir versuchten, sie zu beschwichtigen, indem wir von unserer Entdeckung erzählten, und forderten sie auf, am nächsten Tag mit uns zur Kirche zu gehen. Vielleicht handelte es sich bei den Gemälden um verlorengeglaubte Meisterwerke, deren Wiederentdeckung uns berühmt machen würde. Die Erwachsenen hatten allerdings andere Ansichten. Wir erhielten eine deftige Standpauke, und der Strand hinter den Felsen wurde für die restliche Dauer unseres Aufenthalts zum Sperrgebiet erklärt.

 

In Istanbul schlugen wir unsere Zelte auf einem weiten Feld am Fuß der römischen Stadtmauer auf – wie eine Belagerungsarmee. Die Campingplatzverwaltung hatte ein großes Schild in polnischer Sprache aufgestellt, das jeden Handel auf dem Gelände untersagte. Aber niemand schien sich darum zu kümmern. Ständig strömten Besucher vorbei, die unsere Ware zu sehen wünschten. Mittlerweile waren wir jedoch geschäftstüchtig genug, um zu wissen, daß es besser war, gleich in den Basar zu gehen, als sich mit den kleinen Zwischenhändlern abzugeben.

Wir schauten uns die Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die unterirdische römische Zisterne an, doch am meisten beeindruckte mich die NATO-Basis in einem der Vororte Istanbuls. Wir hatten eine falsche Abzweigung genommen und gerieten versehentlich auf ein Kasernengelände. Plötzlich fuhren wir an langen Panzerkolonnen vorbei. Wir hielten an und fürchteten schon, daß man uns verhaften oder zumindest vernehmen würde. Statt dessen wurden wir von einem schwarzen Soldaten – dem ersten Schwarzen, den ich überhaupt mit eigenen Augen sah – mit einem breiten Lächeln begrüßt. Dadurch ermuntert, stieg ich aus dem Wagen und bestand darauf, daß er sich mit mir vor einem der Panzer fotografieren ließ. Die Erwachsenen fragten sich nur, wie der Westen bei solchen Sicherheitsvorkehrungen den Kalten Krieg zu gewinnen gedachte.

Der Höhepunkt der Reise war der Besuch im Basar. Hier entschied sich, ob wir einen Gewinn von ein paar Hundert Dollar einfahren, nur die Reisekosten ausgleichen oder einige Hunderter draufzahlen würden – entweder konnten wir ein Polster für den nächsten Urlaub anlegen, oder meine Eltern müßten ein ganzes Jahr sparen, um den Verlust wieder wettzumachen. Unser armseliger Vorrat war alles, was wir hatten, also ließen wir ihn keine Sekunde aus den Augen. Nicht nur unsere Kristallschalen, Elektrogeräte und Brieftaschen hätten langen Fingern zum Opfer fallen können, sondern freundliche Händler warnten meine Eltern, daß mancherorts in Kleinasien immer noch große Nachfrage nach hellhäutigen Jungen wie mir bestand. »Nehmen Sie ihn lieber die ganze Zeit an die Hand«, empfahlen sie.

Die Geschäfte, die mit polnischer Ware handelten, waren leicht zu erkennen, da an ihren Fenstern gefälschte Empfehlungsschreiben von berühmten polnischen Fußballspielern klebten. Das waren noch Zeiten, als unsere Nationalelf ihre großen Triumphe feierte. Die Regierung stellte den Spielern damals großzügige Siegesprämien in Aussicht – in ganz Polen machte das Gerücht die Runde, daß die Spieler für jeden Sieg einen Fiat bekämen. Der Regierung kam es wohl nicht ungelegen, wenn die Leute sich so sehr mit Fußball befaßten, daß sie darüber die Lebensmittelknappheit und die Politik vergessen würden. Womöglich dank dieses kapitalistischen Ansatzes war die polnische Nationalmannschaft während der siebziger Jahre sehr erfolgreich; sie gehörte zu den besten Teams bei der Weltmeisterschaft und gewann Medaillen bei den Olympischen Spielen. Immer, wenn wir Bekanntschaft mit Türken machten, wurden deshalb erst einmal die Namen der polnischen Fußballer abgespult:

»Lubánski – gut, oder?«

»Nein, Gadocha besser.«

»Lato o.k.?«

»Ja, Lato o.k.«

Zu dieser Zeit, Anfang bis Mitte der Siebziger, war dieser Handel eine harmlose Nebenbeschäftigung, mit der Tausende von Familien aus der Mittelschicht nur versuchten, ihr Einkommen ein wenig aufzubessern. In den achtziger Jahren wuchs er sich aber zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig mit professionellen Händlern aus, die das ganze Jahr über zwischen Polen und den östlichen Märkten hin und her pendelten. Für Millionen von polnischen Familien bedeuteten die Basargeschäfte, in denen man Kristallvasen und Küchengeräte aus Polen gegen harte Devisen oder Gold tauschte, eine Einführung in den angewandten Kapitalismus. In den neunziger Jahren gründeten dieselben Leute oder deren Kinder die kleinen Firmen, die die treibende Kraft unseres wirtschaftlichen Aufschwungs bilden. Doch es war in jenen Tagen, in Istanbul und später auf den Märkten von Westberlin und Wien, daß die Polen den Kapitalismus fürs Volk entdeckten.

Durch die Erfahrung des realexistierenden Kapitalismus bekam mein Bild des realexistierenden Sozialismus seine ersten Risse. Ein noch wichtigeres Gegenmittel stellten aber Bücher dar, nicht notwendigerweise illegale Schriften von Emigranten, sondern sogar frei zugängliche Jugendbücher. Unser großes nationales Epos aus dem 19. Jahrhundert, Henryk Sienkiewicz’ Trilogie, habe ich bestimmt fünfzehn Mal gelesen. Es spielt in der dramatischen Zeit von 1648 bis 1684, als das polnische Reich einen abrupten Niedergang erlebte. Nach dem Willen der Kommunisten sollten wir uns mit toter Ideologie identifizieren, nach Zielen wie höheren Produktionszahlen streben und stumpfsinnige Fanatiker bewundern. Sienkiewicz vermittelte ganz andere Werte und einen anderen Verhaltenskodex: Mut, Ehre, Ritterlichkeit. In Gedanken versetzte er mich zurück in eine Zeit, da die Polen sogar in größter Not zuversichtlich und stolz bleiben konnten. In der Trilogie wurden die Helden der Kriege gegen Kosaken, Tataren und Schweden zum Leben erweckt: unerschrockene Edelmänner, treue Diener, gewitzte Bauern und jungfräuliche Damen. Wenn ich heute die Trilogie wieder lese, fallen mir freilich ihre Schwächen auf. Die meisten von Sienkiewicz’ Figuren sind klischeehaft, oberflächlich und unglaubwürdig. So wissen wir von vornherein, daß Pan Zagłoba, der dicke, schlitzohrige Stutzer, in Wahrheit ein goldenes Herz hat, seinen Freunden immer treu bleiben und jede Krise souverän meistern wird. Jan Skrzetuski, streng und unbeugsam wie ein Römer, weicht dagegen niemals vom Pfad der Tugend ab und wird am Ende wieder mit seiner totgeglaubten Braut vereint. Und es muß so kommen, daß Pan Wołodyjow, ein kleiner Ritter und ausgezeichneter Schwertkämpfer, den Heldentod wählt und sich lieber selbst in die Luft jagt, als die Burg von Kamieniec Podolski den türkischen Belagerern zu überlassen. Meine Lieblingsfigur war Andrzej Kmicic, eine der wenigen Gestalten, die zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen sind. Er ist ein Schelm, der während der schwedischen Invasion von 1655 durch eine List dazu getrieben wird, dem Verräter Prinz Janusz Radziwił zu dienen. Seine wunderschöne Verlobte Oleńka, eine von Sienkiewicz’ absurden, vor Vaterlandsliebe schmachtenden Frauenfiguren, will aber eher ins Kloster gehen, als einen Kollaborateur zu heiraten. Der Bruch zwischen ihnen wird noch vertieft, als sie von einem weiteren abtrünnigen Aristokraten erfährt, daß Kmicic versucht hat, den legitimen Fürsten umzubringen – obwohl Kmicic zu diesem Zeitpunkt wieder zum Pfad der Tugend zurückgefunden hat und täglich sein Leben riskiert, um das Kloster von Jasna Góra, wo sich die geheimnisvolle Ikone mit der schwarzen Madonna befindet, zu verteidigen. Schließlich finden die beiden natürlich wieder zueinander.

Die Trilogie mit ihrem altmodischen Patriotismus taugte kaum für den Lehrplan in den Schulen, war aber in den Buchhandlungen immer erhältlich (bis heute ist sie Polens bestverkaufter Titel aller Zeiten). Sie auf den Index zu setzen, wäre etwa genauso undenkbar gewesen wie ein Shakespeare-Verbot in England. In Übersetzung, zum Beispiel in der neueren englischen Ausgabe von W. S. Kuniczak, unterscheidet sich die Trilogie nicht nennenswert von anderen historischen Epen. Wäre Polen zur Zeit ihrer Entstehung ein freies Land gewesen, hätte man sie schlicht als die polnische Antwort auf Sir Walter Scott werten können. Statt dessen ist sie jedoch ein geradezu heiliges Buch, die Bibel des polnischen Patriotismus. Jeder polnische Jugendliche identifiziert sich insgeheim mit einem ihrer Helden; ihre Namen dienten sogar vielen Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg als Pseudonyme. Eine Idee, aber auch eine Nation, muß, damit Leute zu ihren treuen Anhängern werden können, nicht nur wahr oder gerecht, sondern auch attraktiv sein. Die Trostlosigkeit des Kommunismus sah gegen den Elan von Sienkiewicz’ altem Polen natürlich ziemlich alt aus.

Das andere große Epos aus dem 19. Jahrhundert, Pan Tadeusz (deutsch: Herr Thaddäus oder Der letzte Einritt in Litauen), stand dagegen sehr wohl auf dem Lehrplan. Es dreht sich um ein Landgut in Litauen, wo Angehörige des niederen und des Hochadels sich zum Diner treffen, auf die Jagd gehen, flirten, sich zanken und ihre Komplotte schmieden. Es endet damit, daß polnische Freiwillige die Russen verjagen und – was im weiteren Kontext etwas unmotiviert erscheint – Napoleon als Befreier bejubeln. So passierte es, daß uns in der einen Klasse von der unverbrüchlichen polnisch-russischen Freundschaft erzählt wurde, wir in der nächsten Klasse aber ein Gedicht auswendig lernen sollten, das nahelegte, ein sich selbst respektierender polnischer Aristokrat könne mit den Russen nur eins machen, und zwar das Schwert gegen ihn ergreifen. Nur einem Schwachkopf wäre der eklatante Widerspruch entgangen.

Ein Anhänger totalitaristischer Theorien hätte zu Recht monieren können, daß Polen nie ein wirklich totalitaristischer Staat war, da die Partei es versäumte, alle organisierten Autoritätsformen, die zu ihr in Konkurrenz traten, restlos auszumerzen – das galt besonders für die katholische Kirche. Die beiden letzten Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft, die siebziger und achtziger Jahre, während derer ich aufwuchs, werden womöglich einmal als das Goldene Zeitalter der katholischen Kirche in die Geschichte Polens eingehen. Die Unterdrückung durch die Kommunisten war damals nicht mehr so stark, als daß sie eine wirkliche Bedrohung für die Kirche dargestellt hätte, sie war aber immerhin noch drastisch genug, um die Kirche als Opfer erscheinen zu lassen und als einzige Institution, um die herum sich die Menschen versammeln konnten. Für mich bedeutete sie ein weiteres Gegenmittel gegen die Propaganda des Regimes.

Zunächst einmal waren zwei meiner Großonkel Priester. Der eine, Onkel Władek, arbeitete in der Bibliothek der Kathedrale von Gniezno als Konservator für alte Handschriften. Seine Amtsbezeichnung war Kanonikus in der Erzdiözese von Gniezno. Gniezno (Gnesen) war die Wiege des polnischen Christentums und die erste Hauptstadt Polens; das Erzbistum von Gniezno ist das älteste des Landes, und sein Name, abgeleitet von gniazdo (»Nest«), geht auf eine uralte Kultstätte zurück. Die Bibliothek befand sich in der Kathedrale selbst; sie verteilte sich über die Hohlräume direkt über dem Hauptschiff. Wenn ich ihn besuchte, nahm mein Onkel seinen schweren eisernen Schlüsselring und öffnete die Türen zu den Kammern, um mir ihren Inhalt zu zeigen. Dabei gingen wir auf schmalen Stegen über die gewölbte Decke der Kathedrale. Ich erinnere mich an illustrierte Pergamenthandschriften in Ledereinbänden, die ordentlich gestapelt in den Regalen lagen; an Blätter mit mittelalterlicher Kirchenmusik; Kirchenregister aus der Vorkriegszeit; Gebetbücher; theologische Schriften in fremden Sprachen. Mein Onkel beschwerte sich immer wieder darüber, daß für jeden Złoty, der für Restaurationsarbeiten ausgegeben wurde, eine Steuer von anderthalb Złoty an den Staat abgeführt werden mußte. Infolgedessen war ein Großteil der Sammlung dem Verfall ausgeliefert, was ich sehr bedauerte.

Nach unserem Besuch in der Bibliothek spazierten wir dann zur Wohnsiedlung, die zur Kirche gehörte. Die Gebäude waren jüngeren Datums – wahrscheinlich aus der Nachkriegszeit –, verkörperten aber einen traditionellen Baustil. Mit ihren spitzen Dächern, roten Ziegeln und Stuckarbeiten unterschieden sie sich jedenfalls himmelweit von den Bauten, die die Kommunisten schätzten. Das Mittagessen nahmen wir im gemeinsamen Speisesaal ein, wo Heiligenbilder die Wände schmückten und weiße Tücher die Tische bedeckten. Die Nonnen brachten uns fröhlich lächelnd eine wäßrige Suppe und zerkochte Knödel, und wir sprachen ein Gebet vor und nach der Mahlzeit.

Nach dem Essen begaben wir uns in die hübsche kleine Wohnung meines Onkels, die mit gediegenen alten Holzmöbeln eingerichtet war. Die Nonnen hielten alles sehr sauber. Mein Onkel kochte einen Tee und zeigte mir seine Alben mit Familienfotos. Es gab alte Porträts von meiner Großmutter in langem Pelzmantel und Hut; Fotos von meinem Onkel in langen Gewändern zusammen mit anderen jungen Männern des Priesterseminars und sogar Fotos aus der Zeit, als er als Zwangsarbeiter in Deutschland war. Er wurde dort jedoch gut behandelt und verbrachte einen Großteil des Krieges in einer Universitätsbibliothek. Auf den Fotos sahen die Leute irgendwie anders aus. Sie schienen fröhlicher und lebendiger als die Leute, denen man in den Straßen von Bydgoszcz begegnete.

 

Später sollte Onkel Władek den Auftrag erhalten, Kardinal Wyszyńskis handschriftliche Memoiren zu transkribieren. Der 1981 verstorbene Kardinal war in den fünfziger Jahren von den Kommunisten inhaftiert worden und hatte nach seiner Freilassung den heimlichen Widerstand der katholischen Kirche geleitet. Zwei Nonnen halfen meinem Onkel bei dieser Arbeit. Alle mußten sich zu absoluter Verschwiegenheit verpflichten. Die Tagebücher sollen erst im Jahr 2011, dreißig Jahre nach Wyszyhskis Tod, veröffentlicht werden.

Onkel Władeks Bruder, Onkel Roman, war ein engagierter Pfarrer in Inowrocław. Nach zwanzig Jahren hatte er die halbe Stadt dazu bewegen können, ihm bei der Instandsetzung der romanischen Kirche zu helfen, die seit dem Mittelalter eine Ruine gewesen war. Sogar mein Vater, ein unverbesserlicher Atheist, erklärte sich bereit, unentgeltlich die Pläne für eine Heizanlage zu zeichnen – »einfach um die Roten zu ärgern«, wie er meinte. Zusammen mit meiner Großmutter habe ich Onkel Roman oft besucht. Wir wohnten dann im Pfarrhaus, wo seine Haushälterin sich um uns kümmerte. Morgens verschwand mein Onkel in aller Frühe, um die Messe vorzubereiten. Später am Tag sahen wir ihn dann wieder, wenn er in seinem Ornat am Altar der großen Kirche im Zentrum der Stadt stand. Anschließend besichtigten wir die romanische Kirche, deren Restauration damals bereits im Gange war. Über dem Eingang zur Sakristei waren Teufelsfratzen mit Hörnern in den Granit gemeißelt; eine von ihnen sah genauso aus wie meine Lehrerin Skarpeta, die Socke.

Mein Vater war vor dem Krieg Meßdiener gewesen. Er hatte sich aber von der Kirche abgewandt, nachdem er Zeuge geworden war, wie ein Priester sich an der von der Gemeinde gespendeten Kollekte bedient hatte. Sonntags fuhr er gerne zum Angeln an einen der Seen, die rings um Bydgoszcz lagen. Meine Großmutter kümmerte sich um meine religiöse Erziehung. Von ihr lernte ich, mich zu bekreuzigen, und das tägliche Morgen- und Abendgebet. Während mein Vater mit einem Hecht oder einem Karpfen kämpfte, schlossen wir uns oft den Kirchgängern an.

Unsere Pfarrkirche war die Basilika von Bydgoszcz. Vor dem Krieg hatten nach Amerika ausgewanderte Polen ihren Bau durch großzügige Spenden ermöglicht; sie gehörte zum Orden vom hl. Vinzenz von Paul. Das Kreuz auf der riesigen Kuppel war kilometerweit zu erkennen. Tausende von Menschen fanden in der Basilika Platz; jede Messe zog Hunderte von Familien an, die im Sonntagsstaat aus allen Himmelsrichtungen in die Kirche strömten. Väter schoben Kinderwagen vor sich her, während die Mütter mit verstohlenen Blicken prüften, ob Freunde und Bekannte ihr schmuckes Aussehen oder ihre neuen Kleider auch gebührend würdigten. Jedesmal schien es, als hätte sich die ganze Stadt versammelt. Man hätte eher den Eindruck gewinnen können, Zeuge einer nationalen Rückkehr zum Glauben zu sein, als in einem kommunistisch regierten Land zu leben. Obwohl die Kirche groß genug war, um die ganze Gemeinde aufzunehmen, fanden neben den Hauptgottesdiensten am Vormittag auch Frühgottesdienste um fünf Uhr dreißig oder sechs Uhr statt. Meine Großmutter erklärte mir, daß diese Messen für Mitglieder der Kommunistischen Partei gedacht waren, die ungern gesehen werden wollten. So früh am Morgen war es ihnen möglich, heimlich hinter einer Säule dem Gottesdienst beizuwohnen.

Die Basilika war zwar sehr groß – neben dem Säuleneingang befanden sich zwei mehrstöckige Seitenflügel –, doch die Außenmauern aus nacktem Backstein waren genauso karg wie das Innere der Kirche mit der weißgetünchten Kuppeldecke und einem Boden aus rohem Beton. Gigantische Heiligenstatuen aus Gips verharrten unter Rundbögen im kreisförmigen Hauptschiff. Meine Großmutter hatte eine besondere Vorliebe für den hl. Judas, den Schutzpatron der Verzweifelten und der hoffnungslosen Fälle, vor dessen Statue ich unzählige Stunden mit dem Beten von Rosenkränzen verbracht habe. Mein Gewissen rang mehr als einmal mit meiner Habsucht, als ich Münzen vom mühselig – mit dem Sammeln von Pfandflaschen – verdienten Taschengeld abzwackte, um sie in den dunklen Opferstock neben dem Judasaltar zu werfen.

Während die Schule unermüdlich ihren Hirnwäscheversuch betrieb, wurden mir nach Schulschluß im Kommunionsunterricht traditionelle moralische Werte nahegebracht. Der Fußweg zur Basilika dauerte eine gute halbe Stunde, und wir wurden dort in kleinen Räumen zusammengepfercht, doch das war alles nicht schlimm. Unsere Schullehrer lehnten den Kommunionsunterricht ab, und schon deshalb gab uns die Teilnahme daran ein wunderbar rebellisches Gefühl. Wir warteten geduldig auf dem Flur im vierten oder fünften Stock in einem der Seitenflügel der Kirche, bis ein Priester oder eine Nonne uns auf altmodischen Schulbänken Platz nehmen ließ. Wir lauschten vielen Bibelgeschichten, doch aus der Schrift selbst wurde nicht gelesen. Außerdem lernten wir den Katechismus in einer Fassung für Kinder aus der Zeit um 1590. Intellektuell gesehen wurde ich in diesem Unterricht nur ein einziges Mal wirklich angeregt. Unser Priester, den wir wegen seiner unnatürlich roten Backen den »Säufer« nannten, lehrte uns Beweise für die Existenz Gottes, die vor allem den Sinn hatten, uns gegen den in der Schule verbreiteten darwinistischen Unfug zu immunisieren. Besonderes Gewicht legte er auf das Argument der zweckgerichteten Ordnung der Welt (die Welt sei so komplex, daß sie einen zwecksetzenden Geist unterstelle). Der Säufer fügte an dieser Stelle einen schlagenden Beweis hinzu. »Seht her«, rief er begeistert, stellte sich hin und breitete die Arme aus, »Gott beweist uns seine Existenz sogar durch die Form unserer Körper«, und er strahlte uns triumphierend an. »Bedenkt, daß euer eigener Körper die Form des Kreuzes hat!«

Wie die meisten meiner Freunde ging ich im Alter von zehn Jahren zur ersten Kommunion. Für diesen Anlaß bekam ich meinen ersten Anzug. Vorher wurden wir noch über die Todsünden aufgeklärt, die die Teilnahme an der Kommunion ausschlossen, und über die läßlichen Sünden, die verzeihlich waren und nicht erforderten, daß man vorher noch einmal zur Beichte ging. Eine Woche vor dem großen Tag bildeten wir von zwei Seiten eine Schlange vor dem neobarocken Beichtstuhl, in dem sich sowohl links als rechts neben dem Priester eine Kabine befand. Während auf der einen Seite jemand seine Reue bekundete und sein Schlußgebet sprach, konnte sich der Beichtvater auf der anderen Seite bereits einer weiteren Sündenlitanei widmen.

Wie alle anderen auch bereitete ich mich auf meine erste Beichte vor, indem ich meine Vergehen auf einem Zettel auflistete und dazu die passenden Abbitteformeln schrieb, nur für den Fall, daß mich mein Gedächtnis im Stich ließ. Das Notieren seiner Sünden war zwar genauso verpönt wie das Abschreiben in der Schule, aber die Beichte war ja anonym, und sollten wir rein zufällig auf einen unserer Priester aus dem Unterricht stoßen, so hätte er uns an unserem Flüstern sowieso nicht erkennen können. Auf dem Weg in die Kirche umklammerte ich den Zettel fest in der Hosentasche, denn ich hatte schreckliche Angst, daß er herausfallen und von einem Klassenkameraden gefunden werden könnte, der meine Schrift kannte. Würde Gott mir vergeben, daß ich während einer Pause auf der Schultoilette geraucht hatte? Und was war mit dem Schuleschwänzen in mehreren Fällen? Wenn Gott mir nur erlaubte, einen neuen Anfang zu machen, wollte ich fortan ein guter Junge sein! Ich wollte mich wirklich bessern. Ich hörte ein Klopfen an der Wand des Beichtstuhls und lateinische Worte, die für mich gesprochen wurden. Nach einer sanften Ermahnung sagte der Priester mir, wie ich Buße zu tun hatte. Ich stand zitternd auf und taumelte aus dem Beichtstuhl mit einem Gefühl von Glückseligkeit und Reue, das so stark war, daß ich fast vergessen hätte, das Zertifikat mitzunehmen, das mich zur Teilnahme an der ersten Kommunion berechtigte. Ich würde sagen, daß eine ordentliche Beichte den Geist wirksamer befreit als eine monatelange Psychoanalyse.