Buch lesen: «Persönlichkeit»

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Persönlichkeit

Rabindranath Tagore

Inhaltsverzeichnis

PERSÖNLICHKEIT

1

2

RELIGIÖSE BETRACHTUNG

Impressum

PERSÖNLICHKEIT

WAS IST KUNST?

WIR stehen dieser großen Welt Auge in Auge gegenüber, und mannigfach sind unsre Beziehungen zu ihr. Eine derselben ist die Notwendigkeit zu leben: wir müssen den Boden beackern, uns Nahrung suchen, uns kleiden, und zu allem muß uns die Natur den Stoff liefern. Da wir unausgesetzt bemüht sein müssen, unsre Bedürfnisse zu befriedigen, sind wir in beständiger Berührung mit der Natur. So halten Hunger und Durst und all unsre physischen Bedürfnisse die stete Beziehung zu dieser großen Welt aufrecht.

Aber wir haben auch einen Geist, und dieser Geist sucht sich seine eigene Nahrung. Auch er hat seine Bedürfnisse. Er muß den Sinn der Dinge finden. Er steht einer Vielfältigkeit von Tatsachen gegenüber und ist verwirrt, wenn er kein einheitliches Prinzip finden kann, das die Verschiedenartigkeit der Dinge vereinfacht. Der Mensch ist so veranlagt, daß er sich nicht mit Tatsachen begnügen kann, sondern gewisse Gesetze finden muß, die ihm die Last der bloßen Zahl und Menge erleichtern.

Doch es ist noch ein drittes Ich in mir neben dem physischen und geistigen, das seelische Ich. Dies Ich hat seine Neigungen und Abneigungen und sucht etwas, das sein Bedürfnis nach Liebe erfüllt. Dies seelische Ich gehört der Sphäre an, wo wir frei sind von aller Notwendigkeit, wo die Bedürfnisse des Körpers und des Geistes keinen Einfluß haben, wo nach Nutzen oder Zweck nicht gefragt wird. Dies seelische Ich ist das Höchste im Menschen. Es hat seine eigenen persönlichen Beziehungen zu der großen Welt und sucht persönliche Befriedigung in ihr.

Die Welt der Naturwissenschaft ist nicht eine Welt der Wirklichkeit, sondern eine abstrakte Welt der Kräfte. Wir können sie uns mit Hilfe unsres Verstandes zunutze machen, aber wir können sie nicht mit unsrer Seele erfassen. Sie gleicht einer Schar von Handwerkern, die, wenn sie auch Dinge für uns als persönliche Wesen herstellen, doch bloße Schatten für uns sind.

Aber es gibt noch eine andre Welt, die Wirklichkeit für uns hat. Wir sehen sie, wir fühlen sie, wir nehmen mit all unsern Empfindungen an ihr teil. Doch wir können sie nicht erklären und messen, und daher bleibt sie uns ewig geheimnisvoll. Wir können nur in freudigem Erkennen sagen: „Da bist du ja.“

Dies ist die Welt, von der die Naturwissenschaft sich abwendet, und in der die Kunst ihren Sitz hat. Und wenn es uns gelingt, die Frage, was Kunst ist, zu beantworten, so werden wir auch wissen, was für eine Welt es ist, mit der die Kunst so nahe verwandt ist.

Es ist an sich keine wichtige Frage. Denn die Kunst wächst wie das Leben selbst aus eigenem Antrieb, und der Mensch freut sich an ihr, ohne daß er sich genau klar macht, was sie ist. Und wir könnten diese Frage ruhig im Untergrunde des Bewußtseins schlummern lassen, wo alles Lebendige im Dunkel gehegt und genährt wird.

Aber wir leben in einem Zeitalter, wo unsre Welt um und um gekehrt und alles, was auf dem Grunde verborgen lag, an die Oberfläche gezerrt wird. Selbst den Vorgang des Lebens, der ganz unbewußt ist, bringen wir unter das Seziermesser der Wissenschaft, — auf Kosten des Lebens selbst, das wir durch unsre Untersuchung in ein totes Museumsexemplar verwandeln.

Die Frage „Was ist Kunst?“ ist oft aufgeworfen und auf verschiedene Weise beantwortet worden. Solche Erörterungen bringen immer etwas von bewußter Absicht in ein Gebiet hinein, wo sowohl das Schaffen wie das Genießen spontan und nur halb bewußt ist. Sie gehen darauf aus, unser Kunsturteil mit ganz bestimmten Maßstäben zu versehen. Und so hören wir heutzutage Kunstrichter nach selbstgefertigten Regeln ihr vernichtendes Urteil fällen über das, was seit Jahrhunderten als groß und unsterblich anerkannt wurde.

Diese meteorologische Störung in der Sphäre der Kunstkritik, die ihren Ursprung im Abendlande hat, ist auch an unsre Küste nach Bengalen gekommen und trübt unsern klaren Himmel mit Nebel und Wolken. Auch wir haben angefangen, uns zu fragen, ob Schöpfungen der Kunst nicht danach beurteilt werden sollten, entweder wie weit sie geeignet sind allgemein verstanden zu werden, oder was für eine Lebensphilosophie sie enthalten, oder wieviel sie zur Lösung der großen Zeitprobleme beitragen, oder ob sie etwas zum Ausdruck bringen, was dem Geist des Volkes, dem der Dichter angehört, eigentümlich ist. Wenn also die Menschen allen Ernstes dabei sind, für die Kunst Normen und Maßstäbe aufzustellen, die gar nicht zu ihrem Wesen gehören, wenn man sozusagen die Herrlichkeit eines Flusses von dem Gesichtspunkt des Kanals aus beurteilt, können wir die Frage nicht auf sich beruhen lassen, sondern müssen uns in die Debatte einmischen.

Sollten wir zunächst versuchen, den Begriff „Kunst“ zu definieren? Aber wenn man lebendige Dinge zu definieren sucht, so heißt dies im Grunde, daß man sein Gesichtsfeld einengt, um deutlicher sehen zu können. Und Deutlichkeit ist nicht ohne weiteres die einzige oder wichtigste Seite bei der Wahrheit. Die Blendlaterne gibt uns ein deutliches, aber nicht ein vollständiges Bild. Wenn wir ein Rad in Bewegung kennen lernen sollen, so macht es nichts, wenn wir die Speichen nicht zählen können. Wenn es nicht auf die Genauigkeit seiner Form, sondern auf die Schnelligkeit seiner Bewegung ankommt, so müssen wir uns mit einem etwas undeutlichen Bilde des Rades begnügen. Lebendige Dinge sind eng verwachsen mit ihrer Umgebung und ihre Wurzeln reichen oft tief hinab in den Boden. Wir können in unserm Erkenntniseifer die Wurzeln und Zweige eines Baumes abhauen und ihn in einen Holzklotz verwandeln, der sich leichter von Klasse zu Klasse rollen und in einem Lehrbuch darstellen läßt. Aber man kann doch nicht sagen, daß solch ein Holzklotz, weil er nackt und deutlich vor aller Augen liegt, vom Baum als Ganzem ein richtigeres Bild gäbe.

Daher will ich nicht versuchen, den Begriff der Kunst zu definieren, sondern ich will nach dem Grunde ihres Daseins fragen und herauszufinden suchen, ob sie um irgendeines sozialen Zweckes willen da ist, oder um uns ästhetischen Genuß zu verschaffen, oder ob sie entstanden ist aus dem Bedürfnis, unser eigenes Wesen zum Ausdruck zu bringen.

Man hat sich lange um das Wort „L'art pour l'art“ gestritten, das bei einem Teil der abendländischen Kritiker in Mißkredit gekommen ist. Es ist ein Zeichen, daß das asketische Ideal des puritanischen Zeitalters wiederkehrt, wo Genuß als Selbstzweck für sündhaft gehalten wurde. Aber jeder Puritanismus ist eine Reaktion. Er kann die Wahrheit nicht mit unbefangenem Auge und daher nicht in ihrer wahren Gestalt sehen. Wenn der Genuß die unmittelbare Berührung mit dem Leben verliert und in der Welt seiner künstlich und mühsam ausgearbeiteten Konventionen immer wählerischer und phantastischer wird, dann kommt der Ruf nach Entsagung, die das Glück selbst als eine Schlinge des Verderbens von sich weist. Ich will mich nicht auf die Geschichte der modernen Kunst einlassen, ich fühle mich hierzu durchaus nicht kompetent, doch ich kann als allgemeine Wahrheit behaupten: wenn der Mensch seinen Trieb nach Freude zu unterdrücken sucht und ihn in einen bloßen Trieb nach Erkenntnis oder Wohltun umwandelt, so muß der Grund darin liegen, daß seine Freudefähigkeit ihre natürliche Frische und Gesundheit verloren hat.

Die Ästhetiker im alten Indien trugen kein Bedenken zu sagen, daß Freude, selbstlose Freude, die Seele der Dichtkunst sei. Aber das Wort „Freude“ muß richtig verstanden werden. Wenn wir es analysieren, so zeigt uns sein Spektrum eine unendliche Reihe von Streifen, deren Farbe und Intensität je nach den verschiedenen Welten unendlich verschieden ist. Die Welt der Kunst enthält Elemente, die ganz offenbar nur ihr angehören und Strahlen aussenden, die ihre besondere Leuchtkraft und Eigentümlichkeit haben. Es ist unsre Pflicht, sie zu unterscheiden und ihrem Ursprung und Wachstum nachzugehen.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen ist der, daß das Tier fast ganz in den Schranken seiner Bedürfnisse eingeschlossen ist, da der größte Teil seiner Tätigkeit zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung der Gattung nötig ist. Es hat, wie der Kleinhändler, keinen großen Gewinn auf dem Markt des Lebens, sondern die Hauptmasse seiner Einnahme muß als Zins auf die Bank gezahlt werden. Es braucht den größten Teil seiner Mittel nur, um sein Dasein zu fristen. Aber der Mensch ist auf dem Markte des Lebens ein Großkaufmann. Er verdient sehr viel mehr, als er unbedingt ausgeben muß. Daher hat das Leben des Menschen ein ungeheures Übermaß von Reichtum, das ihm die Freiheit gibt, Verantwortung und Nutzen in weitem Maße außer acht zu lassen. An den Bereich seiner Bedürfnisse schließen sich noch weite Gebiete, deren Gegenstände ihm Selbstzweck sind.

Die Tiere brauchen bestimmte Kenntnisse, die sie für ihre Lebenszwecke anwenden müssen. Aber damit begnügen sie sich auch. Sie müssen ihre Umgebung kennen, um Obdach und Nahrung finden zu können, sie müssen die Eigentümlichkeiten bestimmter Dinge kennen, um sich Wohnungen bauen zu können, die Anzeichen der verschiedenen Jahreszeiten, um sich dem Wechsel anpassen zu können. Auch der Mensch braucht bestimmte Kenntnisse, um leben zu können. Aber der Mensch hat einen Überschuß, von dem er stolz behaupten kann: das Wissen ist um des Wissens willen da. Dies Wissen gewährt ihm reine Freude, denn es ist Freiheit. Dieser Überschuß ist der Fonds, von dem seine Wissenschaft und Philosophie lebt.

Wiederum hat auch das Tier ein gewisses Maß von Altruismus: den Altruismus der Elternschaft, den Altruismus der Herde und des Bienenstocks. Dieser Altruismus ist unbedingt nötig zur Erhaltung der Gattung. Aber der Mensch hat mehr. Zwar muß auch er gut sein, weil es für die Gattung nötig ist, aber er geht weit darüber hinaus. Seine Güte ist nicht eine magere Kost, die nur gerade genügt, um sein sittliches Dasein kümmerlich zu fristen. Er kann mit vollem Recht sagen, daß er das Gute um des Guten willen tut. Und auf diesem Reichtum an Güte, — die die Ehrlichkeit nicht darum schätzt, weil sie die beste Politik ist, sondern weil sie mehr wert ist als Politik und es sich leisten kann, aller Politik Trotz zu bieten — auf diesen Reichtum an Güte gründet sich die Sittlichkeit des Menschen.

Auch die Idee „L'art pour l'art“ hat ihren Ursprung in dieser Region des Überflusses. Wir wollen daher versuchen festzustellen, welche Tätigkeit es ist, aus deren Überschuß die Kunst entsprießt.

Für den Menschen wie für die Tiere ist es ein Bedürfnis, ihre Gefühle der Lust und Unlust, der Furcht, des Zorns und der Liebe zum Ausdruck zu bringen. Bei den Tieren gehen diese Gefühlsausdrücke wenig über die Grenzen der Nützlichkeit hinaus. Aber wenn sie auch beim Menschen noch in ihrem ursprünglichen Zweck ihre Wurzel haben, so sind sie doch aus ihrem Boden hoch in die Luft emporgewachsen und breiten ihre Zweige nach allen Richtungen weit in den unendlichen Himmel. Der Mensch hat einen Vorrat an Gefühlskraft, den er für seine Selbsterhaltung nicht verbraucht. Dieser Überschuß sucht seinen Ausfluß in der Kunstschöpfung, denn die Kultur des Menschen baut sich auf seinem Überfluß auf.

Der Krieger begnügt sich nicht mit dem Kampf, zu dem ihn die Notwendigkeit zwingt, er hat auch das Bedürfnis, seinem gesteigerten Kriegerbewußtsein durch Musik und Schmuck Ausdruck zu geben, was nicht nur nicht notwendig, sondern unter Umständen geradezu selbstmörderisch ist. Ein Mensch von starker Religiosität verehrt seine Gottheit nicht nur mit aller Andacht, sondern sein religiöses Gefühl verlangt nach Ausdruck in der Pracht des Tempels und in dem reichen Zeremoniell des Gottesdienstes. Wenn in unserm Herzen ein Gefühl erregt wird, das weit hinausgeht über das, was der Gegenstand, der es hervorbrachte, in sich aufnehmen kann, so schlagen seine Wogen wieder auf uns zurück und erwecken unser Bewußtsein von uns selbst. Wenn wir arm sind, ist unsre ganze Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, auf die Gegenstände, die wir zur Stillung unsres Bedürfnisses erwerben müssen. Aber wenn unser Reichtum weit größer ist als unsre Bedürfnisse, so fällt sein Licht auf uns zurück, und wir haben das frohlockende Gefühl, daß wir reich sind. Daher kommt es, daß von allen Geschöpfen nur der Mensch sich selbst kennt, weil sein Erkenntnistrieb sich draußen nicht ausgibt und so zu ihm selbst zurückkehrt. Er fühlt seine Persönlichkeit intensiver als andere Geschöpfe, weil seine Fähigkeit zu fühlen durch die Gegenstände außer ihm nicht erschöpft wird. Dies Bewußtsein seiner Persönlichkeit will sich zum Ausdruck bringen. Daher offenbart der Mensch in der Kunst sich selbst und nicht die Gegenstände. Diese haben ihren Platz in wissenschaftlichen Lehrbüchern, wo er selbst sich ganz verbergen muß.

Ich weiß, mancher wird Anstoß daran nehmen, wenn ich das Wort Persönlichkeit gebrauche, das einen so weiten Sinn hat. Solche unbestimmten Wörter können Begriffe nicht nur verschiedenen Umfangs, sondern auch verschiedener Art umschließen. Sie sind wie Regenmäntel, die in der Halle hinter der Haustür hängen und von zerstreuten Besuchern, die kein Eigentumsrecht an sie haben, weggenommen werden können.

Als Wissender ist der Mensch noch nicht völlig er selbst, durch sein bloßes Wissen offenbart er noch nicht sein Wesen. Aber als Persönlichkeit ist er ein Organismus, der von Natur die Macht hat, sich die Dinge aus seiner Umgebung auszusuchen und sich zu eigen zu machen. Er hat seine Anziehungs- und Abstoßungskraft, durch die er nicht nur Dinge um sich her anhäuft, sondern auch sein Selbst hervorbringt. Die hauptsächlichsten schöpferischen Kräfte, welche die Dinge in unser lebendiges Selbst umwandeln, sind Gefühlskräfte. Ein religiöser Mensch ist als solcher eine Persönlichkeit, aber er ist es nicht als bloßer Theologe. Sein Gefühl für das Göttliche ist schöpferisch. Aber sein bloßes Wissen um das Göttliche läßt sich nicht in sein eigenes Wesen umwandeln, weil ihm der schöpferische Funke des Gefühls fehlt.

Wir wollen versuchen, uns klarzumachen, worin diese Persönlichkeit besteht und welcher Art ihre Beziehungen zur äußeren Welt sind. Diese Welt erscheint uns als eine Einheit, und nicht als ein bloßes Bündel unsichtbarer Kräfte. Dies verdankt sie, wie jeder weiß, zum großen Teil unsern eigenen Sinnen und unserm eigenen Geiste. Diese Welt der Erscheinungen ist die Welt des Menschen. Sie erhält ihre charakteristischen Züge in bezug auf Gestalt, Farbe und Bewegung durch den Umfang und die Qualitäten unsrer Wahrnehmung. Sie ist das, was unsre beschränkten Sinne eigens für uns erworben, aufgebaut und umgrenzt haben. Nicht nur die physischen und chemischen Kräfte, sondern auch die Wahrnehmungskräfte des Menschen sind die in ihr wirksamen Faktoren, denn es ist eine Welt des Menschen und nicht eine abstrakte Welt der Physik oder Metaphysik.

Diese Welt, die durch die Form unsrer Wahrnehmung ihre Gestalt erhält, ist doch erst die unvollkommene Welt unsrer Sinne und unsres Verstandes. Sie kehrt als Gast bei uns ein, aber nicht als Verwandter. Erst im Bereich unsres Gefühls machen wir sie uns ganz zu eigen. Wenn unsre Liebe und unser Haß, unsre Freude und unser Schmerz, unsre Furcht und unser Staunen beständig auf sie wirken, wird sie ein Teil unsrer Persönlichkeit. Sie wächst und wandelt sich, wie wir wachsen und uns wandeln. Wir sind groß oder klein in dem Maße, wie wir sie uns einverleiben. Wenn diese Welt verschwände, so würde unsre Persönlichkeit ihren ganzen Inhalt verlieren.

Unsre Empfindungen sind die Magensäfte, die diese Welt der Erscheinungen in die innere Welt der Gefühle umwandeln. Doch auch diese äußere Welt hat ihre besonderen Säfte, die ihre besonderen Eigenschaften haben, kraft deren sie unser Gefühlsleben anregen. Eine Dichtung enthält solche Säfte. Sie bringt uns Vorstellungen, die durch Gefühle Leben erhalten haben und die unsre Natur als Lebenssubstanz aufnehmen kann.

Bloße Mitteilung von Tatsachen ist nicht Literatur, denn die bloßen Tatsachen hängen nicht mit unserm innern Leben zusammen. Wenn man uns immer die Tatsachen wiederholte, daß die Sonne rund, das Wasser durchsichtig und das Feuer heiß ist, so wäre dies unerträglich. Aber eine Schilderung der Schönheit des Sonnenaufgangs verliert nie ihr Interesse für uns, denn hier ist es nicht die Tatsache, sondern das Erlebnis des Sonnenaufgangs, was der Gegenstand unsres dauerndes Interesses ist.

Die Upanischaden lehren, daß wir den Reichtum lieben nicht um des Reichtums willen, sondern um unsrer selbst willen. Das heißt: wir fühlen uns selbst in unserm Reichtum, und daher lieben wir ihn. Die Dinge, die unsre Gefühle erregen, erregen unser Selbst-Gefühl. Es ist, wie wenn wir die Harfensaite berühren: ist die Berührung zu schwach, so spüren wir nichts anderes als die Berührung selbst; aber wenn sie stark ist, so kehrt sie in Tönen zu uns zurück und erhöht unser Bewußtsein.

Es gibt die Welt der Naturwissenschaft. Aus ihr ist alles Persönliche sorgfältig ausgeschieden. Hier sind unsre Gefühle nicht am Platze. Aber zu der großen weiten Welt der Wirklichkeit stehen wir in persönlicher Beziehung. Wir müssen sie nicht nur erkennen und dann beiseite lassen, sondern wir müssen sie fühlen, denn indem wir sie fühlen, fühlen wir uns selbst.

Aber wie können wir unsre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, die wir nur durch unser Gefühl kennen? Ein Naturwissenschaftler kann das, was er gelernt hat, durch Analyse und Experiment bekannt machen. Aber was ein Künstler zu sagen hat, kann er nicht einfach durch lehrhafte Auseinandersetzung ausdrücken. Um zu sagen, was ich von der Rose weiß, genügt die einfachste Sprache, aber ganz anders ist es, wenn ich sagen will, was ich bei der Rose empfinde. Dies hat nichts mit äußeren Tatsachen oder Naturgesetzen zu tun, sondern ist eine Sache des Schönheitssinnes, der nur durch den Schönheitssinn wahrgenommen werden kann. Daher sagen unsre alten Meister, daß der Dichter Worte brauchen muß, die ihren eigenen Duft und ihre eigene Farbe haben, die nicht nur reden, sondern malen und singen. Denn Bilder und Lieder sind keine bloßen Tatsachen, sie sind persönliche Erlebnisse. Sie sind nicht nur sie selbst, sondern drücken auch unser Selbst aus. Sie lassen sich nicht analysieren und haben unmittelbaren Zugang zu unserm Herzen.

Wir müssen allerdings zugeben, daß der Mensch auch in der Welt des Nützlichen seine Persönlichkeit offenbart. Aber hier ist Selbstoffenbarung nicht sein erster und wesentlicher Zweck. Im Alltagsleben, wo wir zumeist durch unsre Gewohnheiten bestimmt werden, sind wir sparsam damit, denn dort ist unser Seelenbewußtsein im Zustand der Ebbe; es hat eben Fülle genug, um in den Rinnen seiner Gewohnheit dahinzugleiten. Aber wenn unser Herz in Liebe oder in einem andern großen Gefühl voll erwacht, dann hat unsre Persönlichkeit ihre Flutzeit. Dann möchte sie ihr innerstes Wesen offenbaren, — nur um der Offenbarung willen. Dann kommt die Kunst, und wir vergessen die Forderungen der Notdurft und die Vorteile der Nützlichkeit, — dann suchen die Türme unsres Tempels die Sterne zu küssen und die Töne unsrer Musik die Tiefe des Unaussprechlichen zu ergründen.

Die Energien des Menschen, die in zwei getrennten Bahnen, der des Nutzens und der der Selbstoffenbarung, nebeneinander herlaufen, haben immer das Bestreben, sich zu treffen und zu vereinen. Um unsre Gebrauchsgegenstände lagert sich nach und nach eine ganze Schicht von Gefühlen, die die Kunst einladen, sie zu offenbaren. Und so tut sich im verzierten Schwert des Kriegers sein Stolz und seine Liebe kund, und im prunkenden Weinkelch die Kameradschaftlichkeit festlicher Gelage.

In der Regel zeichnet sich das Bureau des Rechtsanwalts nicht gerade durch Schönheit aus, und das ist begreiflich. Aber in einer Stadt, wo die Menschen stolz sind auf ihr Bürgertum, müssen die öffentlichen Gebäude durch ihre Bauart diesen Stolz zum Ausdruck bringen. Als der Sitz der britischen Regierung von Kalkutta nach Delhi verlegt und dies die Hauptstadt wurde, beratschlagte man über den Baustil, den die neuen Gebäude haben sollten. Einige waren für den indischen Stil der Mongolenzeit — den Stil, der aus der Vereinigung des mongolischen und des indischen Geistes entsprungen war. Man übersah dabei die Tatsache, daß jede echte Kunst ihren Ursprung im Gefühl hat. Sowohl das mongolische Delhi wie das mongolische Agra bringen in ihren Bauten menschliche Persönlichkeit zum Ausdruck. Die Mongolenkaiser waren Menschen, nicht bloße Verwaltungsbeamte. Sie lebten und starben, liebten und kämpften in Indien. Das Andenken an ihre Herrschaft lebt nicht in Trümmern von Fabriken und Amtsgebäuden, sondern in unsterblichen Werken der Kunst, nicht nur der Baukunst, sondern auch der Malerei, der Musik, des Kunsthandwerks in Stein und Metall und der Webekunst. Aber die britische Regierung in Indien hat nichts Persönliches. Sie ist amtlich und daher abstrakt. Sie hat nichts in der wahren Sprache der Kunst auszudrücken. Denn Gesetz, mechanische Tüchtigkeit und Ausbeutung gestaltet sich nicht zu steinernen Heldengedichten. Lord Lytton [1] , der zu seinem Unglück mit mehr Phantasie ausgestattet war als ein indischer Vizekönig braucht, versuchte eine der mongolischen Staatsfeierlichkeiten, die Durbar [2] -Zeremonie, nachzumachen. Aber solche Staatsfeierlichkeiten sind Kunstwerke. Sie haben ihren natürlichen Ursprung in der wechselseitigen persönlichen Beziehung zwischen dem Volk und seinem Monarchen. Wenn sie nachgemacht werden, tragen sie alle Anzeichen der Unechtheit.

Wie sich Zweckmäßigkeit und Gefühl in verschiedenen Formen zum Ausdruck bringen, sehen wir, wenn wir die Kleidung des Mannes mit der der Frau vergleichen. Der Mann vermeidet im allgemeinen alles Überflüssige, was nur als Schmuck dient. Die Frau dagegen wählt von Natur das Dekorative, nicht nur in ihrer Kleidung, sondern auch in ihrem Benehmen und in ihrer ganzen Lebensart. Sie muß schön und harmonisch sein, um das zu offenbaren, was sie in Wahrheit ist, denn sie ist durch die Aufgabe, die sie in dieser Welt hat, konkreter und persönlicher als der Mann. Sie will nicht nach ihrem Nutzen gewertet werden, sondern nach der Freude, die sie gibt. Daher ist sie immer darauf bedacht, nicht ihren Beruf, sondern ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Da nun der Ausdruck der Persönlichkeit und nicht der irgendeiner abstrakten oder analysierbaren Sache auch das Hauptziel der Kunst ist, so bedient sie sich mit Notwendigkeit der Sprache der Malerei und Musik. Dies hat uns zu der falschen Annahme geführt, daß die Hervorbringung von Schönheit das Ziel der Kunst sei. Doch die Schönheit ist für die Kunst nichts weiter als ein Mittel, sie ist nicht ihr ganzer und letzter Sinn.

Infolgedessen hat man oft die Frage erörtert, ob nicht die Form mehr als der Stoff das wesentliche Element der Kunst sei. Mit solchen Erörterungen kommt man ebensowenig zum Ziel, als wollte man ein bodenloses Faß mit Wasser füllen. Denn man geht dabei von der Vorstellung aus, daß die Schönheit das letzte Ziel der Kunst sei, und da der Stoff an sich nicht die Eigenschaft der Schönheit haben kann, fragt man sich, ob nicht die Form der wesentliche Faktor der Kunst sei.

Aber auf dem Wege der Analyse werden wir das wahre Wesen der Kunst nie entdecken. Denn das wahre Prinzip der Kunst ist das Prinzip der Einheit. Wenn wir den Nährwert gewisser Speisen wissen wollen, so müssen wir die Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen, untersuchen; aber ihr Geschmackswert besteht in ihrer Einheit und läßt sich nicht analysieren. Sowohl Stoff wie Form sind Abstraktionen, die wir vornehmen; der Stoff für sich genommen fällt der naturwissenschaftlichen Betrachtung zu, die Form als solche fällt unter die Gesetze der Ästhetik. Aber wenn sie unlösbar eins sind, finden sie die Gesetze ihrer Harmonie in unsrer Persönlichkeit, die ein organischer Komplex von Stoff und Form, Gedanken und Dingen, Motiven und Handlungen ist.

Daher sehen wir, daß alle abstrakten Ideen in der wahren Kunst nicht am Platze sind; um Zutritt zu gewinnen, müssen sie persönliche Gestalt annehmen. So kommt es, daß die Dichtkunst Worte zu wählen sucht, die voll von Leben sind, Worte, die nicht nur der bloßen Mitteilung dienen und durch beständigen Gebrauch abgegriffen sind, sondern in unserm Herzen Heimatrecht haben. Zum Beispiel ist das deutsche Wort „Bewußtsein“ noch nicht aus seinem scholastischen Verpuppungszustand zum Schmetterlingsdasein vorgedrungen, daher kommt es in der Poesie selten vor, während das ihm entsprechende indische Wort cetana lebendige Kraft hat und in der Dichtkunst ganz heimisch ist. Dagegen ist das deutsche Wort „Gefühl“ von Leben durchblutet, aber das bengalische anubhūti findet in der Dichtung keinen Zutritt, weil es nur Sinn, aber keinen Duft hat. Und so gibt es auch naturwissenschaftliche und philosophische Wahrheiten, die Farbe und Geschmack des Lebens gewonnen haben, und andere, die abstrakt und unpersönlich geblieben sind. Solange sie dies sind, müssen sie wie ungekochte Gemüse beim Festmahl der Kunst draußen bleiben. Solange die Geschichte sich die Naturwissenschaft zum Vorbild nimmt und sich in Abstraktionen bewegt, bleibt sie außerhalb der Domäne der Literatur. Aber wenn sie Begebenheiten darstellt, stellt sie sich dem Epos an die Seite. Denn die Darstellung von Begebenheiten bringt uns die Zeit, in der sie sich zutrugen, persönlich nahe. Durch sie wird jene Zeit für uns lebendig; wir fühlen ihren Herzschlag.

Die Welt und des Menschen Persönlichkeit stehen sich Antlitz in Antlitz gegenüber wie Freunde, die ihre innersten Geheimnisse austauschen. Die Welt fragt den innern Menschen: „Freund, siehst du mich? liebst du mich? — nicht als einen, der dir Nahrung und Genuß verschafft, nicht als einen, dessen Gesetze du entdeckt hast, sondern als persönliches Wesen?“

Der Künstler antwortet: „Ja, ich sehe dich, ich kenne und liebe dich, — nicht weil ich deiner bedarf, nicht weil ich deine Gesetze zu meinen eigenen Machtzwecken brauchen will. Ich kenne die Kräfte, die in dir wirken und treiben und die zu Macht führen, aber das ist es nicht. Ich sehe und liebe dich da, wo du mir gleich bist.“

Aber wie können wir wissen, daß der Künstler dieses Welt-Ich erkannt und von Angesicht zu Angesicht geschaut hat?

Wenn wir jemand zum erstenmal begegnen, der noch nicht unser Freund ist, so bemerken wir zahllose unwesentliche Züge, die beim ersten Blick unsre Aufmerksamkeit anziehen; und in dem Gewirr der verschiedenen Einzelheiten verlieren wir den, der unser Freund werden sollte.

Als unser Schiff an der japanischen Küste landete, befand sich unter den Passagieren ein Japaner, der von Rangoon in die Heimat zurückkehrte, während wir andern zum erstenmal in unserm Leben diese Küste betraten. Es war ein großer Unterschied in der Art, wie wir Ausschau hielten. Wir sahen jede kleine Besonderheit, und unzählige bedeutungslose Dinge zogen unsre Aufmerksamkeit an. Aber der Japaner tauchte sogleich in die Persönlichkeit, in die Seele des Landes ein, wo seine eigene Seele Befriedigung fand. Er sah weniger Dinge als wir, aber was er sah, war die Seele Japans. Zu ihr konnte man nicht gelangen, indem man eine möglichst große Masse von Einzelheiten ins Auge faßte, sondern durch etwas Unsichtbares, das tiefer lag. Weil wir all jene unzähligen Dinge sahen, sahen wir Japan nicht besser als er, im Gegenteil, die Dinge verbauten uns das eigentliche Japan.

Wenn wir jemand, der nicht Künstler ist, bitten, irgendeinen besonderen Baum zu zeichnen, so versucht er, jede Einzelheit genau wiederzugeben, aus Furcht, die Eigentümlichkeit könne sonst verloren gehen; er vergißt, daß die Eigentümlichkeit des Baumes nicht seine Persönlichkeit ist. Doch wenn der wahre Künstler kommt, so kümmert er sich nicht um die Einzelheiten und geht auf das, was wesentlich und charakteristisch für den Baum ist.

Auch unser Verstand sucht für die Vielheit der Dinge ein inneres, einheitliches Prinzip; er sucht sich von den Einzelheiten zu befreien und in den Kern der Dinge einzudringen, wo sie eins sind. Aber der Unterschied ist der: der Naturwissenschaftler sucht ein unpersönliches Einheitsprinzip, das sich auf alle Dinge anwenden läßt. Er zerstört zum Beispiel den menschlichen Leib, der etwas Individuelles ist, um der Physiologie willen, die unpersönlich und allgemein ist.

Aber der Künstler erkennt das Eigenartige, das Individuelle, das im Kern des Universalen ist. Wenn er den Baum ansieht, so sieht er im Baum das Einzigartige, nicht das allgemein Typische wie der Botaniker, der alles in Klassen einteilt. Es ist die Aufgabe des Künstlers, die Eigenart dieses einen Baumes darzustellen. Wie macht er das? Nicht indem er die besondere Eigentümlichkeit aufweist, die der Mißklang der Eigenart ist, sondern die Seele, die Persönlichkeit des Baumes, die Harmonie ist. Daher muß er den Zusammenklang dieses einen Dinges mit allen Dingen ringsum zum Ausdruck bringen.

Die Größe und Schönheit der orientalischen, besonders der japanischen und chinesischen Kunst besteht darin, daß die Künstler diese Seele der Dinge erkannt haben und an sie glauben. Das Abendland glaubt wohl an die Seele des Menschen, aber es glaubt nicht wirklich, daß das Weltall eine Seele hat. Doch dies ist der Glaube des Morgenlandes, und alles, was der Osten der Menschheit an geistigem Gut gebracht hat, ist von dieser Idee erfüllt. Daher haben wir Bewohner des Ostens nicht das Bedürfnis, auf Einzelheiten Nachdruck zu legen, denn das Wesentliche ist für uns die Weltseele, über die unsre Weisen nachgesonnen und die unsre Künstler zum Ausdruck gebracht haben.

Weil wir im Osten den Glauben an diese Weltseele haben, wissen wir, daß Wahrheit, Macht und Schönheit da zu finden sind, wo Schlichtheit ist, wo der innere Blick nicht durch Außendinge gehemmt wird. Daher haben all unsre Weisen versucht, ihr Leben einfach und rein zu gestalten, weil sie so in einer Wahrheit leben, die, wenn auch unsichtbar, doch wirklicher ist als das, was durch Umfang und Zahl sich aufdrängt.

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150 S.
ISBN:
9783754184417
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