Die geheimen Stimmen der Medusa

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Inhalt

Sabine Haupt Die geheimen Stimmen der Medusa Wie Frauen in der Wissenschaft überleben

Die Autorin

Impressum

Sabine Haupt

Die geheimen Stimmen der Medusa

Wie Frauen in der Wissenschaft überleben

»Frauen gehören eigentlich nicht in die Wissenschaft.« Wir befinden uns in München, irgendein Juniabend, kurz nach Sonnenuntergang. Die hier zur Debatte stehenden Vorkommnisse sind – ich schwöre bei allen guten, von Logik und Vernunft noch nicht völlig verlassenen Geistern – keine erfundene Horrorgeschichte aus dem Gruselkabinett radikalfeministischer #genderwarriors. Nein, es ist eine ganz normale Alltagsszene aus einem ganz normalen Frauenleben. Wir sitzen zu dritt in einer Küche im Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg. Es gibt hier, gleich um die Ecke, einen Springbrunnen, den der Volksmund »Das steinerne Paar« getauft hat, und es gibt einen Schlosspark, in dem die Nationalsozialisten bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg im Hochsommer die »Nacht der Amazonen« feierten. Solche Details erwähne ich nur, um darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall gewisse örtliche und historische Zusammenhänge zu berücksichtigen sind.

Ich kenne E. und R. seit über 40 Jahren. Er arbeitet noch immer als Psychoanalytiker, sie als Kindertherapeutin. Es gab eine Zeit, da waren die beiden miteinander verheiratet. Doch irgendwann hatte E. die Sprüche ihres Mannes satt, meistens ging es dabei um Penisneid und Hysterie, dionysische Männer und kastrierende Frauen, um natürliche und widernatürliche Bestimmungen, reife und unreife Orgasmen. Ich will die diskursiven Gräben dieser Analytiker-Ehe jetzt nicht weiter vertiefen, obwohl sie symptomatisch sind für das, worum es mir hier geht. So viel ist jedenfalls sicher: Sein Todestrieb war stärker als ihre Libido. Oder umgekehrt, eins von beiden. Darauf zumindest konnten sie sich einigen.

Doch zurück an den Münchner Küchentisch. Dort geht es jetzt nicht um diese Ehe, es geht um mich. Denn die Wissenschaftlerin, die als Frau nicht in die Wissenschaft gehört, bin ich. R. hockt da und grinst. Ich weiß: Er provoziert. Das macht er gerne. Er ist dafür bei Freunden und Feinden bekannt, man erwartet nichts anderes von ihm. Schon mahnt eine altbekannte, gut trainierte innere Stimme (vermutlich die Kleinhirn-Souffleuse aus der hinteren Schädelgrube): »Lass ihn doch quatschen, er will dich nur aus der Reserve locken!« Stimmt! Er hockt da, grinst und lockt mich aus der Reserve. Wie eine fette Spinne hockt er da, beäugt seine Ex und mich durch dicke, leicht beschlagene Brillengläser. R. ist Ende 60, kryptokatholisch, moderat übergewichtig, bluthochdruckgerötet, vermutlich Diabetes Typ 2.

Mit seinen hellen, etwas schlaffen Händen greift er nach Rotwein und Gläsern, verteilt, schenkt ein, trinkt, schweigt, lauert. Ich weiß: Er kann es nicht lassen. Grenzen und Menschen zu verletzen, das ist seine Leidenschaft. Ich stelle ihn mir vor, Mitte der 1960er-Jahre, er ist 13 oder 14 Jahre alt, gut in Latein und Religion, schlecht in Mathematik und Sport, ein dicker bayerischer Bub vom Land, dem auf dem Gymnasium der Schrobenhausener Dialekt ausgetrieben wird. Brille, Akne und kurze Hosen verstellen die Sicht aufs Leben. Die Mama füttert ihn mit Kuchen und fetten Würsten, er rächt sich an kleinen Tieren und Mädchen mit langen Zöpfen.

Natürlich weiß ich das, jeder weiß es, es ist entsetzlich banal, vielleicht wäre jetzt eine hochmütige Form von Mitleid die adäquate Reaktion. Doch es gelingt nicht. Vor 40 Jahren hätte mich ein solcher Satz augenblicklich verstummen lassen. Im Französischen gibt es für diesen Zustand äußersten Befremdens das Wort »médusé«, was so viel bedeutet wie: erstarrt, völlig verblüfft, vom Medusenblick des anderen versteinert, Schockstarre statt Angriff oder Flucht. Vor 30 Jahren hätte ich wohl eifrig dagegengehalten, argumentiert, wahrscheinlich auch noch vor 20 Jahren. Heute möchte ich nur noch zuschlagen. Und wundere mich. Warum verletzt es mich, wenn ein Mann dieser Generation Frauen das theoretische Denken abspricht, von linken und rechten Hirnhälften schwafelt, Aristoteles, Schopenhauer, Nietzsche, Weiniger, Möbius und Co. zitiert, ohne die Quelle zu kennen? Der Schwachsinn des Weibes ist weder physiologisch noch kognitiv, weder genetisch noch anatomisch bedingt. Er ist sozial. Das sehen Hedwig Dohm, Simone de Beauvoir, Kate Millet, Alice Schwarzer, Hélène Cixous, Judith Butler, Martha Nussbaum und viele, viele andere genauso. So viel Konstruktivismus kann und muss sein, egal in welcher Welle des Feminismus wir uns gerade befinden.

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