Die Annalen von Naschfuhd; aus den Chroniken von Biglund

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„Ich gehe meinen alten Onkel Baram besuchen. Er schrieb mir einen Brief und meinte, er hätte neues Rauchkraut geerntet“, log Albin. Sein Onkel Baram wohnte einige Tagesmärsche weit weg vom Quelldorf.

„Na gut, aber dass du mir ja nicht wieder zu viel rauchst“, mahnte seine Mutter. „Du weißt ja, das ist ungesund.“

„Ja, Mama!“

„Hast du alles eingepackt, was du brauchst?“

„Klar. Sag Papa einen Gruß von mir und meinem Chef, dass ich eine Weile weg bin und Urlaub mache. Ich muss jetzt so schnell wie möglich gehen.“

Mit einer letzten Umarmung verabschiedete sich Albin von seiner Mutter und verließ das Haus. Die lange Reise konnte beginnen.

Albin machte sich auf den direkten Weg nach Braksop und verließ das Quelldorf, an dessen Dorfrand bereits der sagenumwobene und für die Dorfbewohner verwunschene Nebelwald lag. Es war ein geheimnisvoller, beinahe mystischer Ort, an dem die Dorfkinder aufgrund seiner geheimnisvoll mystischen Art nicht spielen durften. Albin war bereits einige Male dort, um eine bestimmte Sorte Pilze zu suchen, die im Verdacht standen, das Bewusstsein zu erweitern. Doch diesmal war er auf einer heiligeren Mission und gönnte sich diesen Luxus ausnahmsweise nicht. Stattdessen überquerte er ohne Umschweife die sogenannte große Vogelwiese, die sich zwischen dem Nebelwald und Quelldorf befand und setzte auf dem beschilderten Wanderweg den ersten Schritt in den Wald hinein.

Albin kannte selbst den Weg nach Braksop, wo König Theobald der Siebte thronte. Er führte auf der kleinen Straße geradewegs durch den Nebelwald, der sich genau zwischen den beiden Städten befand und seine Heimat, das Oberland, vom Unterland trennte. Vor einem musste er sich dort jedoch sehr in Acht nehmen, nämlich vor den grasgrünen Warzas, einer höchst merkwürdigen Lebensform, die sich nur im Nebelwald aufhielt und sogar die großen Bauernaufstände zu Beginn des neuen Zeitalters, die sich größtenteils am und im Nebelwald abspielten, ohne nennenswerte Verluste überlebte. Der gemeine grasgrüne Warza war genauer gesagt ein sehr widerspenstiges, oval geformtes, äußerst seltsames Wesen, das einfach alles und jeden unverhofft mitten ins Gesicht oder an jede andere erdenkliche Körperregion sprang. Albin sorgte für diesen Fall vor, indem er sein altes Vierkantholz von Zuhause mitnahm. Er hielt es schlagbereit in der rechten Hand, als er den ersten Schritt in den Nebelwald wagte.

Viele unbedenklich schwache und völlig ungefährliche Tiere befanden sich direkt vor ihm, an der Schwelle zum Nebelwald, doch das würde sich mit jedem Markierungsstein, an dem er vorbeizog eine ganze Spur ändern können. Albin schritt den Weg entlang, der nach Braksop führte und war dabei in ständiger Kampfbereitschaft. Jedes noch so hinterhältige Knistern, jedes noch so verräterische Zucken hätte für dasjenige, was da so hinterhältig zuckte oder verräterisch knisterte, mit einem ordentlichen Schlag durch das Vierkantholz geendet.

Eine ganze Weile lang tat sich nichts, während Albin den Weg durch den Nebelwald wanderte. Es gab weder ein Knistern, noch ein Zucken und auch kein Murren und Knurren. Es war nicht einmal ein kleines Huschen zu hören. Es war eigentlich für hiesige Zustände merkwürdig ruhig in dem Wald, vielleicht sogar zu ruhig. Albin konnte sich nicht daran erinnern, dass es in diesem Wald einmal tatsächlich so ruhig gewesen wäre, aber vielleicht täuschte er sich auch, da er sich normalerweise auch am wesentlich geräuschvolleren Waldrand aufhielt, weil dort am meisten Pilze und - wesentlich bedeutsamer - am wenigsten gefährliche Tiere - allen voran große, ovalförmige und angriffslustige Warzas - aufhielten. Vielleicht hatten die anderen Tiere des Waldes zu große Angst, sich mitten in den Nebelwald zu begeben. Vielleicht hatte es auch ganz andere Gründe, zu deren fachgerechter Lösung es der Heranziehung mindestens eines biglundischen Gelehrten der Biologie bedurfte. Doch eines war klar: Es war einfach viel zu ruhig in diesem gottverlassenen Wald.

So ging es auch viel zu ruhig weiter, zumindest eine gewisse Zeit lang. Doch dies änderte sich plötzlich und ohne jedes noch so kleine Zeichen einer Vorwarnung, als etwas ganz in der Nähe befindliches mit voller Wucht direkt in Albins Hinterkopf sprang. Es gab einen sehr dumpfen Aufschlag, auf den ein sehr dumpfer Schmerz folgte.

„Aaahhh!!!“ schrie Albin, stolperte einen Meter nach vorne und drehte sich schnell um.

Tatsächlich, es war ein Warza! „Uoouh! Uoouh!“ grölte es. Ein seltsamer Ruf, denn der eigentliche Ruf eines gemeinen Warzas klang mehr wie ein „Phuääh!“ Mit einem neuen Sprung kam es nun direkt auf Albins Magengegend zu. Albin hatte keine Zeit zum Nachdenken. Reflexartig wich er der Kreatur aus. Es musste ein sehr angriffslustiges und schnelles Exemplar dieser Gattung sein. Albin wurde nervös. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Augenlieder zuckten und seine Knie wurden weich. Seine Sinne schärften sich und seine Schweißdrüsen sonderten Schweiß ab, um seinen Körper abzukühlen. Sein Puls erhöhte sich. Dann zuckten wieder seine Augenlieder und sein Mund wurde trocken. Es war alles so unglaublich aufregend, aber auf eine ziemlich beschissene Art und Weise.

Albin nahm all seinen Mut zusammen und holte mit seinem Vierkantholz weit aus, da sprang ihn das grüne Warza völlig unverhofft wieder an und wollte ihn allem Anschein nach direkt im Gesicht treffen. Wieder musste er schnell ausweichen, um schlimmere Folgen, welche aus der Umsetzung dieser Absicht zwangsläufig resultieren würden, abzuwenden. Das Warza hörte nicht auf, sofort nach dem einen Fehlschlag einen neuen Rammversuch zu starten. Wieder kam es auf ihn zu und wollte ihn im Leistenbereich treffen. Doch anstatt auszuweichen, schleuderte Albin das Ding diesmal mit einem schnellen und beherzten Schlag in dessen Fratze weg von sich in die dicke, graue Nebelwand. Das Warza flüchtete panisch.

„Puh, das war knapp“, dachte Albin, denn um ein Haar hätte er sich eine leichte Prellung zugezogen, die im schlimmsten Falle sogar mit einem blauen Fleck geendet hätte. Der Kampf dauerte über eine Minute lang. Albin verschnaufte erst einmal.

Das, was ihn soeben attackierte war ein starkes Warza, denn es hatte ganze fünf rote Bommel am Körper. Albin sah normalerweise wenn überhaupt einmal ein Warza mit drei oder vier Bommeln. Exemplare mit fünf roten Bommeln waren hingegen eine Rarität. Es war sicher ein Zeichen dafür, dass auch die Natur aufgeschreckt war durch die neuesten Ereignisse und nun ein wenig verrücktspielte. Es lag etwas in der Luft und es roch verdächtig nach großem Ärger. Wahrscheinlich hatte der Dorfälteste tatsächlich Recht, dachte Albin. Im nächsten Moment stellte er zwar fest, dass dieser merkwürdige Geruch, der in der Luft hing, anscheinend von einem kleinen Überrest tierischer Exkremente am Wegesrand maßgeblich mit verursacht wurde, doch ein fünfbommeliges Warza war auf jeden Fall kein gutes Zeichen und allein deshalb zweifelte Albin keineswegs mehr an seiner Mission. Die Zeichen waren zu eindeutig.

Nach einer kurzen Verschnaufpause ging es weiter. Nun war Albin ein ganzes Stück vorsichtiger als davor und hielt sein Vierkantholz deutlich stärker in der Hand umklammert. Er musste sehr auf der Hut sein. Die Geschöpfe des Waldes waren schließlich hinterhältig, verdorben und bis in das finsterste Innere ihrer abgrundtiefen Seele durchtrieben und die Warzas waren nicht einmal die fiesesten unter ihnen. Inzucht, Kannibalismus und Rassendiskriminierung gehörten genauso zum trostlosen Alltag dieser geistig minderbemittelten Lebewesen wie Drogenhandel, Bandenkriege und sonstiges organisiertes Verbrechen. Man erzählte sich im Dorf nicht selten die gruseligsten Geschichten, die leichtsinnigen Menschen passierten, als sie diesen Wald durchqueren wollten. Von einem Nachbarn hörte Albin einmal, dass er von seinem Schwager hörte, dass dessen Bekannter einmal jemanden kannte, der von einem anderen gehört hatte, dass dieser jemanden gesehen hatte, der dort von einer riesigen Blume gefressen wurde. Albin wusste zwar nicht, ob es stimmte, doch es war allemal ein Grund, besondere Vorsicht walten zu lassen.

Der Wald wurde im Laufe des weiteren Weges immer dichter und nebeliger, sodass Albin bald nur noch eine kurze Strecke vor sich erkennen konnte. Er schlich mehr, als er durch den Wald wanderte, um keine Tiere anzulocken. Im Nebel war er ihnen klar unterlegen. Seine Taktik ging glücklicherweise eine Zeit lang auf, denn außer einem gelegentlichen Rascheln passierte eine ganze Weile nichts Bedrohliches. Dann kam er plötzlich an einer Frittenbude vorbei, bestellte sich dort aber nichts, denn das Fett roch bereits sehr alt. Anschließend war es wieder sehr ruhig. Vielleicht war es zu ruhig. Insbesondere begegnete er bisher keiner fleischfressenden Riesenblume, was einerseits durchaus erfreulich, andererseits wiederum beunruhigend war. Denn lange blieb es im Nebelwald für gewöhnlich nur dann ruhig, wenn gerade etwas Gefährliches lauerte. Zumindest erzählte man sich das im Dorf.

Die Geschichte des Nebelwaldes war weit bemerkenswerter als es der Wald selbst und seine begrenzte Flora und Fauna für Fremde und Ortsunkundige zunächst vermuten ließ und noch viel weniger sein junges Alter. Denn der Nebelwald existierte erst seit ungefähr anderthalb Zeitaltern, wobei die Zahl anderthalb an dieser Stelle leidlich ungenau, vielmehr falsch ist, da man zu jener Zeit noch nicht wissen konnte, wann sich das derzeitige Zeitalter seinem Ende neigen würde, beispielsweise aufgrund eines großen und bedeutsamen Ereignisses oder - wie in den meisten Fällen - aufgrund eines einstimmigen Beschlusses hochrangiger Gelehrter und bestechlicher Politiker, denen das derzeitige Zeitalter bereits zu lange andauerte oder denen sehr an der Verjährung eines Straftatbestandes gelegen war. Doch die Benennung eines Zeitraumes, der bereits in den Beginn des vorherigen Zeitalters reichte, wurde umgangssprachlich mit der Zahl anderthalb angegeben, weil bis zu jener Zeit keine vernünftigere Alternative gefunden wurde, da die meisten Bewohner Biglunds selbst nicht so genau wussten, in welchem Jahr des derzeitigen Zeitalters sie sich befanden. Jedenfalls begab es sich so, dass der Nebelwald erst zu Beginn des vorangegangenen Zeitalters nach biglundischer Zeitrechnung existierte. Es war einer der wenigen künstlich angelegten Wälder Biglunds und er wurde nur deshalb angelegt, weil die Bewohner des Oberlandes, zu dem vor allem das Quelldorf und mehrere umliegende Dörfer gehörten, nichts mehr mit dem zu tun haben wollten, was sich hinter dem zu pflanzenden Nebelwald befand und davon ausgingen, dass ein Wald als natürliches Hindernis ausreichen sollte, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich ging dieser Wunsch in Erfüllung, allerdings lag das vielmehr daran, dass alles, was sich hinter dem Nebelwald verbarg, selbst kein Interesse mehr an den Bewohnern des Oberlandes hatte. Der Grund für das gegenseitige Misstrauen zwischen den Menschen, die den Nebelwald pflanzten, und allem anderen, was sich dahinter verbarg geriet mit der Zeit in Vergessenheit, sodass sich eine Vielzahl von Mutmaßungen, Spekulationen und Mythen um den eigentlichen Grund rankten, von denen eine unglaubwürdiger als die andere war und regelmäßig zu handfesten Streitigkeiten unter den Bewohnern des Oberlandes führte.

 

Albin ließ sich nicht verunsichern und schlich vorsichtig weiter. Er musste den Markierungen zufolge etwa zwei Drittel des Waldweges hinter sich gelassen haben, als der Nebel allmählich wieder schwächer wurde. Es war schon fast Mittag und diese eigentlich so lapidare Tatsache war für Albin gerade ein riesiges Problem. Denn bis zu seinem Ziel hätte genau deshalb noch alles Mögliche passieren können, vorausgesetzt es hätte sich noch in den gesetzlichen Grenzen der Logik und Magie von Biglund gehalten. Denn nach den Gesetzen der Logik und Magie von Biglund war so Einiges möglich. Gerade um die Mittagszeit wurden demnach alle Tiere in der Nähe des Quelldorfes aggressiver und suchten förmlich nur so nach Streit. Die Mittagszeit war die gefährlichste Tageszeit in dieser Region. Warum das im Übrigen so war, wusste niemand so genau und es rankten sich wie immer in solchen Fällen zahlreiche Mythen und Legenden um die Ursache dieses seltsamen Phänomens.

Albin musste sich beeilen, um vor Anbruch der Mittagszeit den Nebelwald durchquert zu haben. Er beschleunigte sein Tempo und verzichtete auf das Herumschleichen. Immer schneller hastete er durch den Nebelwald und kam in regelmäßigen Abständen an den am Wegesrand liegenden Markierungssteinen vorbei. Immer wieder konnte er hinter sich ein lautes Rascheln oder Huschen, bzw. Murren oder Knurren hören, doch er war schnell und dachte nicht daran, sich von den Strapazen des Waldweges auszuruhen. Nur ein Warza mit gerade einmal zwei Bommeln ließ es sich anscheinend nicht nehmen, aus dem dichten Unterholz zu seiner Linken zu kommen und direkt vor seiner Nase aufzutauchen. Doch es war schwach und unbeholfen und Albins stürmischer Wut und panikartiger Verzweiflung über die heranrückende Mittagszeit in keinster Weise gewachsen. Mit einem wuchtigen Schlag durch das Vierkantholz wurde es niedergestreckt und flüchtete jaulend in die Tiefen des Waldes. „Mysteriös“, dachte Albin, denn plötzlich lag hinter ihm ein halbes Grillhähnchen auf dem Boden.

Albin schaffte es endlich, noch knapp vor der Mittagszeit am Ende des Waldweges anzukommen. Erleichterung machte sich breit. Braksop! Auf der anderen Seite des Waldes konnte er es sehen. Da lag es nun hinter einer großen Wiese voller halb bestellter Felder direkt vor seinen Füßen: Die Hauptstadt des großen und glorreichen Königreiches Splinarsa, mit all seinen hohen Türmen und dicken Mauern. Legenden und Mythen, Logik und Magie, Gut und Böse rankten sich um die Stadt, ganz so als wollten sie diese Metropole jeweils für sich beanspruchen. Das war also Braksop, Heimat der unbegrenzten Möglichkeiten, Ort der Krieger und Zauberer, Stadt der Musen und der Krämerseelen, Biglunds große Perle und Zankapfel vieler Mächte und Epochen. So stand es zumindest einmal in einem Werbeprospekt, welches Albin von einem Reisebüro im Nachbardorf fünf Jahre zuvor mitnahm und sich auf eine seiner Zimmerwände klebte. Die hohen Mauern aus dickem Stein gewährten ihm nur einen schmalen Einblick in die Stadt. Albin ging den Wanderweg weiter auf die Stadt zu, denn er führte direkt zu einem der Tore. Er war schon sehr gespannt darauf, die Hauptstadt des Königreichs einmal von innen zu sehen, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dies jemals getan zu haben und das obwohl sie nicht einmal weit entfernt war. Aber ein Quelldorfbewohner reist nun mal nicht gerne. In Erwartung von dem Ausmaß an Glanz und Prunk betrat er das Tor, das vor ihm von zwei gelangweilt aussehenden Wachen geöffnet wurde.

Die Wahrheit war anscheinend weitaus profaner als das Werbeprospekt vermuten ließ. Streunende Katzen jagten Ratten und Mäuse die Straßen entlang, an deren Seiten viel zu alte Frauen bestimmte Dienste anboten, die weder ihrem Alter, noch ihrem Anblick entsprachen. Kinder spielten in Schlammpfützen und machten sich dadurch ihre Klamotten schmutzig, Ungeziefer krabbelte, kroch, flog oder schwirrte herum und junge Zaubererlehrlinge besorgten für ihre Meister ein paar Arbeitsutensilien in den ausgefallensten und schäbigsten Läden, die Albin je gesehen hatte. Die eine Hälfte der Häuser war längst grundsanierungsbedürftig und ein Drittel der anderen Hälfte war noch nicht einmal zu siebzig Prozent fertig gebaut oder kläglich durch die Verwendung einfachster Bauzauberei vor dem vorzeitigen Einsturz bewahrt. Bauzauberei war nun mal teuer. Das Einzige, was in dieser Stadt augenscheinlich gut instandgehalten wurde, waren ein paar Lesben-Bars und die Türme, in denen sich entweder Zauberer, Steuereintreiber, Zöllner oder Gefangene aufhielten. Albin konnte es kaum glauben, hier richtig zu sein, doch sämtliche Indizien, insbesondere das Schild mit der Aufschrift „Braksop - Hauptstadt des Königreichs“, das er schon vor dem Betreten der Stadt am Wegesrand sah, sprachen klar für diese Annahme. Hinzu kam, dass man hier einen anderen Dialekt sprach, als in dem Dorf, aus dem Albin stammte und in dem man sich genau über diesen Dialekt der Stadtmenschen leidenschaftlich aufregte. Das war also Braksop. Vielmehr ein Schmelztiegel zahlloser sozialer Schichten, Kulturen, Weltanschauungen und ein wild zusammengebrautes Gemisch aus Kriminalität, eigenbrötlerischer Selbstsüchtigkeit, Unrat und dessen, was man armseliges Leben nennt.

Albin ging neugierig die Straße entlang, in der Hoffnung auf handfeste Indizien zu stoßen, die ihm bei seiner Suche nach König Theobald dem Siebten weiterhelfen konnten. Doch er fand nichts: Kein Wegweiser, keine Menschen, die auch nur irgendein Wort über ihn verloren und auch sonst nicht der kleinste Hinweis in dieser hoffnungslosen Gegend. Albin fiel nach einiger Zeit auf, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich König Theobald der Siebte überhaupt befinden konnte. Denn erstaunlicherweise sah er weit und breit keine Burg und kein Schloss, in dem dieser hätte residieren können. Albin ging weiter in Richtung Stadtmitte, in der Hoffnung, irgendwo wenigstens eine bürgerlichere Gegend finden zu können. Die Personen und sogar die Tiere, welche ihm auf dem Weg dorthin begegneten, betrachteten ihn mit großem Argwohn und spürbarer Missgunst. Es bestand von vornherein nicht der geringste Zweifel daran, dass Albin ganz und gar nicht willkommen war in dieser Stadt.

Die versiffte Gegend veränderte sich dem äußeren Anschein zwar nicht allzu sehr, doch immerhin kam Albin nach einiger Zeit am Marktplatz der Hauptstadt an, auf dem sich einige Leute tummelten und umhergingen. „Die machen wenigstens einen seriöseren Eindruck“, dachte er. Vielleicht wussten ja diese Stadtmenschen wirklich mehr als er. Albin suchte sich einen der allerbuckligsten Marktplatzpassanten aus und ging zu ihm.

„Entschuldigen Sie bitte. Wo finde ich König Theobald den Siebten?“ fragte er ihn.

Der bucklige Mann sah Albin von oben bis unten misstrauisch an, kam dann ein gutes Stück mit seinem linken Ohr näher an Albins Mund heran und fragte: „Häh?“

„Ich suche König Theobald. Wissen Sie, wo er ist?“ fragte Albin erneut und diesmal deutlich lauter.

„Ich? Ja, das weiß ich“, antwortete der Bucklige und zog dabei eine schelmische Schnute.

„Und wo ist er?“ fragte Albin ungeduldig.

Der Bucklige spuckte auf den Boden und verzog sein Gesicht. „Nun, für drei Goldtaler oder ein Dutzend gerupfter Hühner verrate ich es dir“, bot er Albin an.

Empört von diesem völlig überteuerten Angebot und enttäuscht von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit wandte sich Albin wortlos von dem buckligen Passanten ab und suchte sich eine neue Möglichkeit. Eine nicht allzu weit entfernte Frau, die in purpurfarbene Tücher gekleidet war, schien allein optisch gesehen wesentlich vielversprechender. Albin ging zu ihr. „Entschuldigen Sie. Wo finde ich König Theobald?“

Die Frau sah Albin noch misstrauischer und missgünstiger an als der bucklige Mann gerade erst; ungefähr so, wie man ein lästiges Insekt ansah. Nachdem sie Albins Frage vernommen hatte, spreizte sie ihre Finger, welche sie mit hochgezogenen Augenbrauen eine kurze Zeit lang begutachtete. Schließlich antwortete sie dann: „Nun, für drei Goldtaler und eine Silberunze verrate ich es dir.“

Albin war geschockt. So eine Summe hatte er noch nie in seinem Leben besessen. Konnte die Inflation in dieser Stadt tatsächlich so viel angerichtet haben? „Nein danke!“ antwortete er und wandte sich von der Frau ab.

Doch er hatte eine bessere Idee. Im Bürgermeisteramt würde er sicher jemanden finden, dessen überbezahlte Arbeit es wäre, ihm zu sagen, wo sich der König befindet. Und nach kurzem Umsehen stellte er fest, dass das Bürgermeisteramt zu seinem Glück direkt am Marktplatz lag. Albin ging sofort hinein und suchte eine hilfsbereit wirkende Person. Die Auswahl fiel nicht schwer, da lediglich eine Person im Bürgermeisteramt anzutreffen war, was Albin bereits sehr erstaunte. Es war die Dame am Empfangsschalter, die sich gerade damit beschäftigte, den Belag von ihren Zähnen zu entfernen, bis sie etwas peinlich berührt bemerkte, dass sich nunmehr eine weitere Person im Raum befand. Albin näherte sich ihr und fragte: „Hallo, Wo finde ich König Theobald den Siebten?“

Die Dame am Schalter spielte sich am Haar herum, überlegte einen Moment lang, kräuselte den Mund und machte anschließend eine Geste, welche unmissverständlich ausdrückte, dass diese Information ihr Geld wert sei.

Albin sah sie ungläubig an. Doch bevor er über den horrenden Preis der erwünschten Information aufgeklärt wurde, sah er bereits die Person, nach der er suchte. Ein breit gebauter Mann schritt hochnäsig wirkend mit zwei Gestalten als Gefolge einen kleinen Korridor entlang, der sich etwa zehn Meter von Albin entfernt befand und in einen weiteren Korridor mündete, welcher von der Empfangshalle in einen anderen Teil des Gebäudes führte. Der resolut wirkende Mann hielt ein Zepter in der rechten Hand und trug eine Rüstung und über der Rüstung ein langes, schwarz-gelbes Gewand mit einem aufgenähten Wappen, welches einen Hund darstellte, der gerade dabei war, versehentlich eine Katze zu besteigen. Das war das Wappen des Königreiches Splinarsa. Es musste eindeutig der König sein.

„Halt!“ schrie Albin, als sich der König in den anderen Teil des Gebäudes aufmachte, und bereute es im nächsten Moment, denn einen König schrie man ja nicht einfach so an.

„Was ist hier los?!“ antwortete König Theobald, drehte sich auf der Stelle um und blickte Albin direkt in sein verdutztes Gesicht.

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, euer Majestät“, sagte Albin schnell und deutete eine Verbeugung an. „Aber ich muss Sie ganz dringend sprechen. Es geht um den Untergang von ganz Biglund.“

„Habe gerade keine Zeit. In einer halben Stunde habe ich einen Friseurtermin und muss mich darauf angemessen vorbereiten“, sagte der König wichtigtuerisch, drehte sich um und ging weiter den Korridor entlang.

„Aber der Dorfälteste Baldomir der Dreiundvierzigste schickt mich!“ brüllte Albin.

Der König und sein Gefolge blieben abrupt auf der Stelle stehen, rührten sich einen kurzen Moment lang nicht von der Stelle und drehten sich anschließend um. Albin hatte urplötzlich ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Die Augenbrauen des Königs fingen langsam an zu vibrieren und seine Lippen kräuselten sich. Anscheinend bereitete ihm das, was Albin gerade durch den Gang brüllte, großes Unbehagen. Er kam ganz langsam und bedrohlich auf Albin zu. Der befürchtete das Schlimmste, doch er hielt dem Blick des Königs tapfer stand, bis dieser keinen halben Meter mehr vor ihm stand und mit erregter Stimme endlich antwortete: „Soso. Baldomir der Dreiundvierzigste sagst du. Wer bist du überhaupt, wenn du von diesem Dorf kommst, von dem man sagt, dass es sich nur durch Sodomie und Inzucht all die tausend Jahre über Wasser halten konnte?“

 

Albin fühlte sich etwas beleidigt von diesem König, den er zuvor noch nie leibhaftig gesehen hatte. Und darüber hinaus verbreitete der König während des Aussprechens dieser Worte einen etwas unangenehmen Geruch, der in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem königlichen Odem zu stehen schien. König Theobald der Siebte wirkte bedrohlich. Er musste sicher einer der durchtriebensten und machtbesessensten Könige sein, die es überhaupt einmal gegeben hatte. Das sagte man sich jedenfalls in Albins Dorf, vor allem innerhalb der Kreise des sogenannten gemeinen Fußvolkes. Und nun, da dieser König leibhaftig vor ihm stand, glaubte es Albin aufs Wort. Doch es war immerhin ein König und Albin musste diese Schmach über sein geliebtes Dorf wortlos über sich ergehen lassen. Dem König zu widersprechen wurde schließlich seit dem dritten splinarsaischen Konvent der Grenzdebilen und Inzestösen (einer Versammlung des Königreichs Splinarsa mit beschränkter Gesetzgebungsbefugnis) wahlweise entweder mit der Kastration oder der dreistündigen Kitzelfolter bestraft. König Theobald der Siebte war ein alter und fetter König, der aber weder durch sein Alter, noch durch seine Fettleibigkeit rein gar nichts an seiner durch Machtbesessenheit angetriebenen Energie eingebüßt hatte. Er fackelte nicht lange gegen Widerstände aus fremden, wie den eigenen Reihen und dachte sich ständig neue Möglichkeiten aus, sein Reich und seinen Einfluss zu vergrößern. Darüber hinaus war es ein äußerst selbstverliebter, arroganter und zuweilen großspurig angeberischer König, der seinen Bediensteten ungeheuerlich auf die Nerven ging. Und außerdem war er dumm, grob, aggressiv und beleidigend.

„Wie heißt du, Junge. Du siehst irgendwie aus wie dieser Adolf“, redete der König weiter und strich sich nachdenklich mit den Fingern durch seinen ungepflegten Drei-Tage-Bart.

„Euer Durchlaucht, mein Name ist Albin. Und wenn ich seiner Durchlaucht einen unterwürfigen Hinweis geben könnte...“

„Nein!“ unterbrach ihn der König. „Komm mit, wenn du tatsächlich von Baldomir dem Dreiundvierzigsten geschickt wurdest. Wir unterhalten uns in meinen luxuriösen Audienzräumlichkeiten.“

Der König wies Albin mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, mitzukommen und schritt nun wieder den Korridor entlang, an dessen Ende sich eine Tür befand. „Luxuriöse Audienzräumlichkeiten, hem?“ dachte Albin und kam ein wenig ins Schwärmen, wenngleich er auch irgendwie ein bisschen Furcht vor diesem König hatte. Er eilte dem König nach.

Als alle an der Tür am Ende des Korridors ankamen, nahm einer der Gefolgsleute des Königs, dessen Gesicht der Ausstrahlung einer eitrigen Pestbeule in nichts nachstand, einen kleinen Fetzen cyanblauen Stoffes aus einer seiner vielen Manteltaschen heraus, wedelte damit drei Mal an der Tür herum und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Dann öffnete sich die Tür. Der König sah voller Stolz und Selbstverliebtheit zu Albin herab und erklärte: „Ich habe einen der besten königlichen Obermagier in ganz Biglund.“ Albin konnte dem nicht viel Glauben schenken, denn sogar er sah bereits einige Zaubertricks, die diesen simplen Türöffnungszauber um Längen geschlagen hätten. Ein erfahrener Magier hätte diesen einfachen Bannspruch mit Leichtigkeit gebrochen und wäre direkt in die Räumlichkeiten des Königs gelangt. Doch der König war mit sich und seiner Leistung so zufrieden, dass er seinen Kopf so schnell und soweit zurück in die Schulter reckte, dass es einen empfindlichen Schmerz im Nackenbereich verursachte. Er stieß einen kurzen Schrei aus und versetzte zur Strafe für die eigene Dummheit seinem Gefolge einen kräftigen Hieb mit dem königlichen Zepter. Dann ging es wieder vorwärts durch die Tür, die in weitere, schlecht beleuchtete Gänge führte.

Albin fragte sich, warum König Theobald der Siebte seine Räumlichkeiten in so etwas Unspektakulären wie dem städtischen Bürgermeisteramt hatte. Keine Burg und kein Schloss, bei einem König, der selbstverliebter war als alles andere in Biglund? Königliche Räume hinter engen, schlecht beleuchteten Korridoren im Bürgermeisteramt schienen jedenfalls nicht zu dieser aufgeblasenen Person zu passen. Die Antwort darauf lieferte der König selbst, als er während des Voranschreitens durch die Gänge zu Albin sagte: „Ein König braucht kein großes Schloss und keine marmornen Hallen.“ Dabei kam es Albin fast so vor, als wäre eine ungeheure Wehleidigkeit in diesem ausgesprochenen Satz gewesen. „Ich bin ein bescheidener König, der seinem Volke nicht die Last vieler großer Bauten nur für meine Wenigkeit auferlegen will“, sagte er mit einem weiteren Anflug von Wehleidigkeit. Albin vermutete eher, dass es an dem durch die immensen Kriegsausgaben völlig desolaten Haushalt gelegen hatte, dass er sich nunmehr selbst kein Schloss mehr leisten konnte, denn freiwillig hätte dieser König nicht im Traum daran gedacht, auf allen möglichen Pomp zu verzichten, nur damit es seinem Volk besser ginge. König Theobald der Siebte führte schließlich seit über dreizehn Jahren einen absolut sinnlosen Krieg gegen ein kleines Nomadendorf in den Schwefelbergen, welches weder ökonomisch, noch strategisch irgendeinen Vorteil bot, wenn es dem Königreich Splinarsa gehören würde. Durch seine geografische Lage und die Kräfte eines anscheinend sehr fähigen Schamanen war das Dorf jedoch auch mit der modernsten splinarsaischen Kriegsmaschinerie fast nicht einnehmbar. Man sagte sich, dass König Theobald selbst nicht mehr wusste, warum er alles daran setzte, dieses Dorf einzunehmen, aber einem Gerücht zufolge musste es sich um eine verlorene Wette mit einem Kobold handeln, der angeblich die Macht hatte, dem König Schaden zuzufügen, wenn er seinen Wetteinsatz nicht einbrachte. Niemand sollte eine Wette mit einem Kobold eingehen.

Albin schritt dem König und seinem speichelleckenden Gefolge weiter hinterher und fragte sich langsam, wie viele dieser engen Gänge sie noch durchschreiten mussten, bis sie endlich die luxuriösen Audienzräumlichkeiten des Königs erreicht hätten. Zu allem Überdruss lobte dabei einer der beiden Gefolgsleute, nämlich der, welcher die Tür nicht magisch öffnete und daher wohl nicht einer seiner Obermagier war, den König für die lächerlichsten Dinge, die man sich vorstellen konnte. Dutzende Male erwähnte er außerdem, wie toll der König sei und wie bescheiden und wie gütig und wie großmütig und wie friedfertig und so weiter er auch sei, also genau die Eigenschaften, die er tatsächlich am allerwenigsten verkörperte. Albin hielt sich nach einer Weile die Ohren zu und tat dann schnell so, als hätte er sie sich wegen einem Juckreiz nur gekratzt, nachdem der König sein offensichtliches Desinteresse an der königlichen Größe merkte. Glücklicherweise kamen sie kurz danach in besagten Audienzräumlichkeiten an, die zu Albins Überraschung aus einem einzigen, etwa dreißig Quadratmeter großen Raum bestanden, in dessen Mitte ein Tisch mit zwei gegenüberstehenden, ungleich großen Stühlen stand und an dessen einer Seite daneben sich eine kleine, hässliche Topfpflanze befand. Am Ende des Raumes befand sich eine Tür, die den Zugang zum Schlafzimmer des Königs ermöglichte.