Die Geheimnisse meiner Zunge

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Die Geheimnisse meiner Zunge
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Philomène Atyame

Die Geheimnisse meiner Zunge

Eine Erzählung

ATHENA

Literaturen und Kulturen Afrikas

Band 10

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2012

Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-418-0

ISBN (ePUB) 978-3-89896-823-2

»Mein Name stammt zwar aus dem Süden,

aber mein Geist aus dem Westen

und meine Liebe aus dem Norden.«

Meinen Töchtern

Marcelle und Fatou-Myriam

Das Ntem-Wasser

Mein ganzes Leben verläuft einem Teufelskreis gleich: Ich kam mit einer behinderten Zunge zur Welt und starb vergewaltigt in einer unruhigen Zeit unseres Landes. Aber ich lebe noch!

Mein leidvolles Leben begann in einer Schule voller kleiner Dämonen, die mir die Schulzeit zur Hölle machten, derart, dass ich dort jede Stunde, Minute und Sekunde als ein Teufelswerk zu betrachten begann. Ich fing an, die Zeit zu hassen. Ich erinnere mich noch an meine kleine, schwarze Armbanduhr, an diesen treuen Spiegel der Zeit, den ich wie ein großes Unheil empfand und in den Ntem-Fluss schleuderte. Selten gönnte mir die Schule Augenblicke der Freude! Ja, selbst meine Lehrer bereiteten mir höllische Stunden der Qual. Hätte ich das Wissen, das sie mir vermittelten, nicht so sehr geliebt, hätte ich schon in der ersten Klasse die Schule aufgegeben!

»Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die unser Land erreichten. Portugiesische Seefahrer im Dienst von Fernando Gomez, einem Großhändler aus Lissabon, gelangten Anfang der 70er-Jahre des 15. Jahrhunderts an die Küsten Kameruns. Als sie ankamen, entdeckten sie eine Menge Krabben im Wouri-Fluss, den sie deswegen Rio dos Cameroes nannten. Von Rio dos Cameroes wurde später der Name Kamerun abgeleitet.«

Ich saß im Geschichtsunterricht, schaute auf meine Uhr: elf. Ich schaute auf Mbitas Uhr: dieselbe Uhrzeit, genau elf Uhr. Noch eine Stunde Unterricht! Weh mir! »Das Beste ist, du vergisst die Zeit«, sagte Mbita zu mir. Er hatte Recht, und ich folgte seinem Rat, soweit ich es konnte. Ich versuchte, die Zeit zu vergessen und dem Geschichtslehrer zuzuhören.

»Wie in der letzten Woche bereits erwähnt, waren die ersten Einwohner Kameruns die Bantu. Zu ihnen gehören die Duala, die heutzutage eine große Mehrheit der Bevölkerung der Westküste bilden. Ursprünglich lebten die Duala im Bakota-Gebiet, im Norden von Gabun. Sie wanderten den Dibamba-Fluss entlang bis zu den Wouri-Ufern, wo sie auf die Bakoko, nicht weit von den Bassa, stießen. Sie jagten diese ins Binnenland und besiedelten ihr Gebiet. Die Ureinwohner im Süden von Kamerun sind die Pangwe; ursprünglich hießen sie die Ekan. Es sind die Europäer, die sie Pangwe nannten. Die Ekan sind jene Völker, die zwischen den Sanaga-Tälern und dem Ogooue-Fluss lebten. Die Ekan sind in zwei ethnische Gruppen unterteilt: die erste Gruppe bilden die Beti, das heißt die Ewondo, die Bulu und die Eton; zur zweiten Gruppe gehören die Fang. Was die Herkunft der Ekan angeht, herrscht bis heute unter den Historikern Meinungsverschiedenheit.«

Er sprach weiter, erwähnte Ostafrika, Bahr El Gazal, Adamaoua, dann eine Legende, derzufolge die Ekan aus dem Ntem-Fluss stammen würden. So erfuhr ich, dass meine Ahnen Ekan waren, dass ich ein Beti mit einer Ekan-Abstammung war. Meine Ahnen waren von Ostafrika aus durch den dichten Wald des Äquators nach Kamerun ins Adamaoua-Hochland eingewandert. Später, nachdem sie von dieser Hochebene vertrieben worden waren, zogen sie in den Süden des Landes. Mehrmals besiedelten sie das Festland zwischen den Flüssen Mbam und Sanaga. Die Bulu bewohnten den Wald zwischen dem Dja-Fluss und Kribi.

Meine Ahnen hatten gekämpft und Flüsse überquert, große Flüsse, den Sanaga, den Ogooue, Mbam, Dja, Ntem. Ich erinnere mich noch an diese Flüsse. Unterwegs habe ich sie gesehen, ihre Wellen und Fälle, ja, ich habe sie gesehen. Immer, wenn ich mit Mbita fischen gegangen war, hörte ich Wasser prasseln. Wie habe ich dieses laute Geräusch geliebt, dieses Geräusch fern strömenden Wassers, das mir damals nicht nur Strom und Wasser, sondern auch Heilung versprochen hatte!

Ich hatte das Wasser vom Ntem getrunken, das Wasser von seinen Fällen. Als ich noch ein kleines Kind war, holte meine Mutter oft Wasser von den Ntem-Fällen und gab es mir zu Trinken, damit ich nicht mehr stottere. Die Greise unseres Dorfes sagen, dass Flüsse mit Wasserfällen Heilquellen sind und Stotterer heilen. Ich trank und trank und trank, aber ich stotterte weiter, überall, zu Hause, auf dem Schulhof, im Unterricht. Ich war von diesem Wasser so enttäuscht, dass ich es schließlich zu trinken ablehnte.

»Essono, wiederhole, was ich gerade gesagt habe!«, befahl der Lehrer, während er mich vorwurfsvoll anschaute.

Er hatte mich erneut in Gedanken versunken erwischt, und er glaubte, dass ich von Träumereien besessen wäre; aber weil ich oft sehr gute Arbeiten schrieb, blieb ich für ihn ein Rätsel. Seine Fragen an mich waren oft ein Versuch, mich zu enträtseln, aber vergeblich. Wie ich von meinem Freund Mbita erfuhr, erzählte mein Geschichtslehrer seinen Kollegen, ich hätte ein seltsam starkes Selbstvertrauen und würde ihn deswegen ignorieren.

Er irrte sich. Er kannte mich nicht gut. Ich hatte damals kein starkes Selbstbewusstsein. Immer, wenn ich im Unterricht geistig abwesend war, beschäftigte mich einzig und allein meine Zunge. Oh ja, ich vertraute meiner Zunge nicht, weil ich oft stotterte, wenn ich etwas sagen wollte. Im Geschichtsunterricht hatte ich nie den Mund aufgemacht! Daher wusste mein Lehrer nicht, was mit mir los war. Wieder schwieg ich, wieder traute ich es mir nicht zu, zu sprechen. Nein, ich wollte kein Mitleid mehr erwecken und auch nicht den Klassenclown spielen.

1980 war ich in der sechsten Klasse. In den ersten fünf Klassen hatte ich manchmal versucht, meinen Mund aufzumachen. Oh, du Herr der Gezeiten! Was wagte ich da? Das Unmachbare machen, über Stock und Stein laufen gleich einem Nomaden, der bei Sturm und Wind die Saharaküste zu Fuß zu überqueren versucht und sich an die gefährlichsten Sandgruben heranwagt. Es war ein vergebliches Wagnis. Ich sprach selten einen Satz zu Ende. Und was machten meine Kameraden dann? Einige lachten, diese kleinen Dämonen! Andere litten mit mir und bemitleideten mich. Mit der Zeit konnte ich ihr Gelächter und Mitleid nicht mehr ertragen. Dann schwieg ich, ja, seit der fünften Klasse schwieg ich, selbst wenn ein Lehrer mich tausendfach zum Sprechen aufforderte. Viele Lehrer kannten mich schon und ließen mich meistens in Ruhe. Aber mein Geschichtslehrer war ein Neuling! Er war nicht nur neu in unserer Klasse, sondern auch in unserer Schule. Ein frischer Wind von Osten, ein Baya aus dem Orient, der von Batouri nach Elat versetzt wurde.

Wieder starrte er mich an und sprach:

»Essono, hast du etwa eine lange Leitung? Oder bist du taub? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich bitte dich zum letzten Mal, das zu wiederholen, was ich gerade gesagt habe!«

»Er kann nicht sprechen«, sagte Mbita, mein bester und einziger Schulfreund.

»Er kann nicht sprechen?«, rief der Lehrer. Dann fuhr er heftig fort: »Für wen hältst du mich eigentlich, Mbita? Für einen Idioten? Glaubst du, dass ich blöd bin? Pass auf, Mbita! Ich bin nicht verrückt! Ich beobachte euch beide schon seit meiner Ankunft hier. Jedes Mal, wenn ihr draußen in der Pause Fußball spielt, höre ich Essono laut schreien. Mehrmals habe ich diesen Essono, deinen Nachbarn, draußen sprechen hören. Und jetzt kommst du und erzählst mir, er könne nicht sprechen! Pack deine Sachen und verschwinde auf der Stelle!«

In aller Ruhe räumte Mbita Stift und Heft in seine Tasche und verließ die Klasse. Ich sah ihn gehen. Es war sooo ungerecht! Ich fühlte mich elend! Es war meine Schuld, oh nein, es war die Schuld des Lehrers. Er hatte Mbita nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich zu entschuldigen. Aber wofür? Hatte Mbita etwa gelogen? Oh du armer Sohn der Verzweiflung, wo fließt die Heilquelle?

Selbstverständlich war ich nicht stumm. Ich konnte sprechen, konnte Wörter hervorbringen, aber ich konnte nicht fließend sprechen. Ich stotterte, und weil das Stottern anstrengend war, schwieg ich, wenn ein Lehrer mich zum Sprechen aufforderte. Nachdem Mbita hinausgegangen war, kam der Lehrer zu mir.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, begann er. »Warum sagst du nie etwas im Unterricht? Dumm bist du nicht. Soviel ich weiß, bist du sogar der beste Schüler dieser Klasse. Nur: gute Leistungen helfen kaum, wenn man nicht reden kann! Dieses Jahr wirst du den CEPE, die erste Schulabschlussprüfung ablegen. Das heißt, man wird dich nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich prüfen. Wenn du deinen Mund nicht aufmachst und deine Zunge nicht bewegst, wirst du durchfallen. Verstehst du? Durchfallen! Trotz deiner guten Leistungen wirst du sitzen bleiben! Denk darüber nach!« Er ging wieder nach vorne. Ich sagte nichts. Er sprach weiter:

»Die Eton wanderten von Norden kommend den Sanaga-Fluss entlang und siedelten sich schließlich auf den Hochebenen um die heutige Stadt Jaunde an. In der Beti-Ethnie sind die Eton in der Überzahl. Die Ewondo bewohnten die Hochebene südwestlich von Jaunde. Einer der Führer der Ewondo, Charles Atangana, hatte eine bedeutsame Rolle während der deutschen Zeit gespielt. Im Osten und Südwesten des Landes, abgesehen von den Pygmäen, gehören die meisten Autochthonen dem Baya-Stamm an. Die Baya sind angeblich ein Bantuvolk. Einige Geschichtszeugnisse bezeichnen sie jedoch als Sudano-Bantu.«

 

Er sprach lange von den Baya, von ihrer Herkunft und Wanderung in den Osten Kameruns.

Die Völkerwanderung ist eine uralte Bewegung der Menschheit, angetrieben durch die Suche nach besseren, möglichst guten Lebensbedingungen; oh ja, Menschen sehnen sich immer wieder nach fernen Orten, im Glauben, sie würden in der Ferne das lang ersehnte Glück finden! Der eigentliche Grund für diese Bewegung ist in den meisten Fällen eher die Unfähigkeit des Menschen, die Langeweile eines sesshaften Lebens auszuhalten. Manch einer fühlt sich deshalb zu einem Wanderleben verurteilt, wird zu einem Daueremigranten, der sein Leben lang hin und her reist, auf der Flucht vor etwas, was – das glaubt er – ihn hier oder dort stört, ohne sich aber jemals darüber bewusst zu werden, dass er im Grunde immer nur vor sich selbst flüchtet.

Unser Geschichtslehrer aber flüchtete gar nicht vor sich selbst. Er war eher den Zwängen des Lebens unterworfen, wanderte aus beruflichen Gründen vom Osten in den Süden. Er war ein Baya und sprach von den Baya, erinnerte sich an seine Heimatstadt, erzählte uns von seiner Geburtsstadt, von seinen Ahnen. Er stand vor uns, aber man hätte glauben können, er wäre in Batouri. Er war ein Moslem wie die meisten Baya, der aber – wie er selbst betonte – nichts gegen seine christlichen Brüder hatte.

Es gibt Moslems und Christen im östlichen Teil meiner Heimat, so wie überall in Kamerun: Vom Osten bis zum Westen, vom Norden bis zum Süden gibt es Moslems und Christen, selbst wenn der Norden mehrheitlich von Moslems und der Süden zum größten Teil von Christen bewohnt ist. Völkerwanderungen, Begegnungen und Vermischungen haben in meiner Heimat Mohammedaner und Christen zusammengebracht, Menschen, die zwar nicht der gleichen Überzeugung sind, die aber hier harmonisch miteinander leben können. Mich beschäftigt deshalb immer wieder die Frage, warum unsere Glaubensbrüder in anderen Ecken der Welt gegeneinander kämpfen. Oh Gott, warum wollen die Menschen ihre Glaubensunterschiede nicht vergessen und friedlich zusammenleben? Warum liefern sie sich immer und immer wieder blutige Kämpfe wegen Propheten, die längst gestorben sind? Ich werde nie aufhören, das Glück zu genießen, dass meine Heimat Lehren aus ihrer Vergangenheit gezogen hat, aus einer Vergangenheit, die auch von Glaubenskriegen erschüttert wurde. Darauf machte uns auch der Lehrer an diesem Schultag aufmerksam:

»Im Norden Kameruns sind die Fulbe die Hauptgruppe der Bevölkerung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, unter der Führung des Mohammedaners Ousman Dan Fodio erklärten die Fulbe den nichtislamischen Bevölkerungsgruppen den Jihad, das heißt den Heiligen Krieg. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründeten die Fulbe eine Einflussdomäne auf der Adamaoua-Hochebene und erweiterten ihren Einflussbereich um Maroua, Garoua und Ngaoundéré, wo sie Festungen errichteten. Auf demselben nordischen Raum siedelten sich die Haussa, die von der sudanesischen Sahelzone kamen. Die Gebirge im Westen Kameruns, die so genannten Highlands, waren anfänglich von den Tikar besetzt. Der wachsende Bedarf an Wohnfläche dort verursachte jedoch Konflikte, die das Tikar-Volk in verschiedene Gruppen spalteten. Diese Gruppen wanderten in das Grassfield-Gebiet und siedelten nach Bamenda und dem Bamoun-Land über. Das Grassfield-Gebiet bewohnten mehrheitlich die Bamiléké, die dort viele Herrschaftsdomänen gründeten. Eine andere Gruppe, die ins Grassfield-Gebiet zog, ist das Bali-Volk. Die Bali kamen aus dem Norden, genau aus dem Faro, und bildeten hier eine kleine Gemeinschaft unter der Führung eines Fon.«

Genau um zwölf Uhr unterbrach der Lehrer den Unterricht. Er hatte sehr lange über die Wanderung der Kameruner gesprochen, so lange, dass er von der Zeit eingeholt wurde.

»Lest zu Hause in euren Büchern von Seite 40 bis Seite 52. Es handelt sich um das Kapitel ›Die ersten Europäer in Kamerun‹. Es ist ein wichtiges Kapitel unserer Geschichte. Also, bereitet euch gut vor. Bis morgen«. Er verließ die Klasse.

»Le chat parti, les souris dansent«[1], schrien die Schüler. Ich hörte, wie ein Stein von meinem Herzen fiel. Welch ein langer Vormittag! Ich packte meine Sachen und machte mich auf den Weg nach Hause. Als ich die Türschwelle unserer Klasse erreichte, die Stufe hinunter stieg und in den Schulhof gelangte, fasste mich eine Hand von hinten an. Ich drehte mich um und war nicht überrascht, Mbita zu sehen.

Mbita hatte auf mich gewartet. Ich konnte die Wut in seinen Augen sehen. Die Stirn zusammengezogen und der Mund verkniffen, schaute er mir gerade in die Augen. In diesem Augenblick blinzelten seine Augen wie diejenigen der braunen Katze, die täglich, oft um die Mittagszeit, in die Küche meiner Mutter kam, um das Essen zu stibitzen. Mbita war so wütend, dass auch er nun seine Zunge nur mit Schwierigkeiten bewegen konnte. Hätte ich nicht gewusst, dass Stottern nicht ansteckend ist, so hätte ich tatsächlich geglaubt, Mbita damit angesteckt zu haben. Aber dann flossen die Worte in seiner Muttersprache wie Wasser aus seinem Mund:

»O lo jom wo te bo o lo jom wo te bo! A mu je wo ben nyu menjim ya Ntem?« [2]

Mbita warf mir vor, dass er meinetwegen hinausgeworfen worden war und fragte mich, warum ich das Ntem-Wasser nicht mehr trank. Auch seine geröteten Augen verrieten mir etwas: Mbita hatte hier draußen geweint. Das tat mir so leid! Wieder fragte er mich, und dieses Mal spöttisch, warum ich das Ntem-Wasser nicht mehr trank. Es war das erste Mal, dass Mbita sich über meine Behinderung lustig machte, dass er so böse zu mir war. Ich schwieg, ich konnte nicht mehr reden. Ja, jedes Mal, wenn ich mich unter Druck gesetzt fühlte, wenn ich innerlich unruhig war, konnte ich kein Wort herausbringen. Ich brauchte sehr viel Ruhe, vor allem sehr viel Liebe, um sprechen zu können.

Mbita redete weiter, machte aber keine bösen Bemerkungen mehr. Er empfahl mir freundlich, mit meiner Mutter zu reden, sie zu bitten, mir wieder das Ntem-Wasser zu trinken zu geben oder irgendetwas anderes gegen meine Behinderung zu tun. Ich folgte Mbitas Rat, musste es tun, da es – wie es auch der Lehrer im Unterricht betont hatte – um meine Zukunft ging. Und die CEPE-Prüfung, die Grundschulabschlussprüfung, rückte immer näher.

Es waren nur noch ein paar Monate bis zum CEPE. Es waren genau drei Monate, vierzehn Wochen, zweiundneunzig Tage, viele Stunden und Minuten, die alle rasch wie Sekunden zu vergehen schienen.

Die Zeit setzte mich unter Druck. Um den schriftlichen Teil machte ich mir keine Sorgen, aber der mündliche versetzte mich in Angst. Meinen Mund und meine Zunge, wie sollte ich sie nur dazu bringen, sich so zu bewegen, dass die Worte fließend herauskamen? Den Mund aufmachen und die Zunge bewegen! Das hatte der Geschichtslehrer gesagt. Konnte ich das? Vor einem Prüfer? Oh du armer Sohn der Verzweiflung, wo fließt die Heilquelle? Ich war völlig verzweifelt.

Die mündliche Prüfung bestand aus einer Rezitation. Jeder Schüler, der geprüft wurde, sollte entweder drei Fabeln von La Fontaine oder zwei Gedichte von Victor Hugo auswendig lernen und einen von diesen Texten vor einem Prüfer rezitieren. Bei dem Gedanken wurde mir übel. Mbita hatte Recht. Ich musste mit meiner Mutter reden, sie darum bitten, mir wieder Wasser von den Ntem-Fällen zu holen, möglichst von dem größten Wasserfall Menve’eles. Es schien meine einzige Chance zu sein, die letzte, die ich nicht verpassen durfte. Anders konnten mir meine Eltern nicht helfen. Der Arzt von Enonga verlangte viel Geld für eine Operation. So viel Geld hatten meine Eltern nicht. Vater und Mutter waren arme Bauern, die nur von den Ernten ihrer Felder lebten. Außerdem zweifelten sie an einer Heilung durch einen Eingriff an meiner behinderten Zunge.

Mbita und ich machten uns auf den Weg nach Hause. Unterwegs begegneten wir Frauen, die vom Dorfmarkt zurückkehrten. Sie hatten ihre Erdwurzeln verkauft, den beliebten gekochten Maniok. Einige von ihnen trugen grüne Bananen in ihren Körben, andere schleppten schwere Taschen mit Süßkartoffeln, Palmfrüchten und Palmöl. Es waren keine Händlerinnen, sondern Hausfrauen, die erst um die Mittagszeit aufbrachen, um die nicht mehr frischen und deswegen preiswert gewordenen Waren zu kaufen und dann schnell wieder nach Hause zurückkehrten, um die Mittagsmahlzeit zuzubereiten. Ein Mann hielt eine auffällig reife Frucht vom Palmbaum in seiner rechten Hand. Dicke und abgespannte Venen zeichneten Linien gleich einer eisernen Welle auf seinen rechten Arm. Sie alle sahen erschöpft aus, müde vom langen Sitzen, Stehen oder Gehen in der Hitze der längsten Trockenzeit.

Wir kamen in unserem kleinen Dorf an. Mbita und ich verabschiedeten uns vor dem Haus, in dem ich mit meinen Eltern lebte. Er wohnte zwanzig Meter von uns entfernt bei seinen Großeltern. Kurz vor der Eingangstür seines Hauses drehte er sich noch einmal um, winkte mir zu und verschwand. Ich ging ins Wohnzimmer und grüßte meine Eltern, die mit dem Mittagessen schon auf mich warteten. Meine Mutter fragte mich ihrer Gewohnheit gemäß, was wir in der Schule gemacht hätten.

Meine Mutter war eine neugierige Frau. Ich jedenfalls hielt sie für einen neugierigen Menschen. Mein Vater war aber der Meinung, dass nicht die Neugier, sondern der Verantwortungssinn sie immer dazu drängte, sich nach meinen Schulleistungen zu erkundigen. Es verging kein Tag, ohne dass sie mich fragte, was ich in der Schule gemacht hätte.

»Heute hatten wir Geschichtsunterricht«, erwiderte ich mit müder Stimme.

»Wie war es?«, erkundigte sie sich weiter.

Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Gut war dieser Geschichtsunterricht nicht gewesen, zumindest nicht für mich. Der Unterricht an sich war gut gewesen. Ich hatte viel über meine Vorfahren, meine Wurzeln erfahren. Seit diesem Unterricht wusste ich mehr über meine Ahnen, über mich und meine Landsleute, mehr als meine Eltern mir bisher erzählt hatten. Aber während der zweiten Hälfte des Unterrichts war meine Stimmung abgefallen. Meinetwegen war Mbita, mein bester Schulfreund, rausgeschmissen worden. Anschließend hatte der Lehrer böse Bemerkungen gemacht. Obwohl seine Absicht eigentlich nicht böse war, hatten mir seine Bemerkungen doch Unbehagen bereitet. Ich hatte nichts gegen die Lehrer, die gern wie unsere Eltern redeten, ich wollte nur ihren Bemerkungen entkommen, weil ich in ihnen eine unterdrückende Macht wahrnahm. Ich war kein Rebell, nein, ich zog die Aufmerksamkeit der Klasse auf mich, weil ich ein stummer Stotterer war, einer, den die Kameraden sprechen hören wollten, der es aber vorzog zu schweigen, weil er nicht fließend sprechen konnte. Oh Gott, nichts wäre mir lieber gewesen als nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

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