TO DIE FOR – GNADENLOSE JAGD

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Aus der Reihe: To die for #1
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»Das war vor der Sache mit dem Casino?«



»Ja, klar doch.«



Etwas Schweres drückte von innen gegen meinen Kopf.



»Hast du Kendall gesagt, dass du mich wegen dem Juwelier getroffen hast?«



»Nein.«



Kendall!





Kapitel 4



Es ergab keinen Sinn. Kendall hatte King noch vor dem Casino-Job von mir abgeraten. Warum hatte er dann aber nicht Beckett gewarnt? Kendall war nicht dumm. Er hätte nicht riskiert, Beckett auflaufen zu lassen. Außerdem hatte Kendall mir gesagt, dass es der Überfall auf Ellis und der Tod von Simpson waren, die mich verdächtig aussehen ließen: Zwei Jobs, vier Tote, beide Male fehlte die Beute. Keine Frage, die Kombination ließ mich schuldig aussehen, oder vom Pech verfolgt, aber mich noch vor der Sache mit dem Casino schlecht machen – das ergab keinen Sinn.



All das ging mir im Kopf herum, als ich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf stapfte. Als ich die Tür öffnete, nahm ich schützend die Arme hoch. Keine Ahnung, warum ich das tat – wahrscheinlich aus Gewohnheit. Der erste Schlag landete auf meiner rechten Schulter. Der Schmerz schoss mir durch den Rücken und meine Rippen. Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Der zweite Schlag kam von links. Ich bewegte mich schnell, wich zurück und nahm so dem Schlag die Kraft. Trotzdem traf er mich wie ein elektrischer Schock seitlich am Kopf. Alles drehte sich und verschwamm, aber daran war ich gewöhnt. Ich duckte mich und stürzte in die Richtung, aus der der Schlag gekommen war. Sah jemanden. Ich holte mit der Linken aus, spürte Knorpel, Fleisch und brechende Knochen, hörte ein Stöhnen und dann ein lautes Krachen. Rechts von mir blitzte etwas anderes auf. Ich machte einen Schritt zurück in die Türöffnung. Etwas rauschte vor mir durch die Luft. Ein Baseballschläger, wie ich jetzt sah. Mein rechter Arm war taub, und wenn ich die Linke benutzte, würde ich das Gleichgewicht verlieren. Ich stürmte mit der Schulter in den Mann hinein. Zusammen stürzten wir in die Küche, knallten gegen das Waschbecken am anderen Ende und zertrümmerten den Sperrholzschrank, als wäre er aus Streichhölzern. Ich griff nach seinem Hemd, seiner Haut, was immer ich zu fassen bekam. Hörte ihn schreien. Ich benutzte meinen Körper als Angelpunkt und warf den Mann über meine Schulter. Sah, wie eine graue Masse hart auf dem Boden landete. Hörte, wie die Luft aus ihm wich, in einem Schrei aus Panik und Schmerzen. Ich hob meinen Fuß und trat ihm gegen den Kopf. Ich stieß den Fuß wieder hinab, und wieder und wieder, legte mein ganzes Gewicht in jeden Tritt. Nach einer Weile hörte die graue Masse auf, sich zu bewegen. Schmieriges Zeug klebte am Boden. Mein Schuh war glitschig vom Blut. Es dauerte einen Moment, bis sich das Adrenalin verzog. Mein Arm pochte und war warm, aber das taube Gefühl war verschwunden. Ich stieg über die Sauerei und lief zurück in den Flur, wo der andere Mann auf dem Boden lag. Er bewegte sich nicht. Ich knipste das Licht an und schloss die Wohnungstür.



Der Kerl am Boden war jung, um die zwanzig, mit kurzrasierten blonden Haaren. Stämmig wie ein Bodybuilder, aber er sah zu frisch aus, um in vielen Kämpfen gewesen zu sein. Er war rückwärts in einen flachen Tisch gekracht. Ein Loch war in der Gipskartonplatte am Boden, wo er mit dem Kopf aufgeschlagen war. Sein Genick war verdreht, Blut tropfte aus einer Wunde über seinem Auge. Sein Atem ging flach, sein Gesicht war aschfahl. Wahrscheinlich war sein Genick gebrochen. Um ihn musste ich mir keine Sorgen mehr machen, also ging ich zurück in die Küche. Der Mann hier war älter und kleiner. Mehr konnte ich nicht erkennen. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer dicken tiefroten Pfütze aus Blut. Ich schob meinen Fuß unter sein Gesicht und drehte ihn herum. Seine Augen standen offen. Er atmete nicht mehr.



Ich ging ins Bad, schälte mich aus meiner Jacke und zog mein Hemd aus. Meine Waffe fiel klappernd zu Boden. Die hatte ich vergessen. Ich besah mir im Spiegel meine Schulter, bewegte sie, massierte sie, bewegte den Arm auf und ab. Dort, wo sich ein Bluterguss bilden würde, hatte sich die Haut bereits verfärbt, aber es war nichts gebrochen. Ein Schmerz fuhr durch meinen Kopf und für einen Augenblick wurde mir schwindelig. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, dann ging ich ins Schlafzimmer und schnappte mir eine Reisetasche aus Leder. Damit lief ich von Zimmer zu Zimmer und packte das Wichtigste ein: was zum Anziehen, Trockenfutter.



Ich verließ die Wohnung, um ein paar Sachen zu holen, die ich unter den Holzdielen auf dem Treppenabsatz gebunkert hatte. Von unten starrte Akrams Großmutter mit großen Augen und den Händen vor dem Mund zu mir herauf. Sie war total erschrocken, plapperte etwas, das ich nicht verstand, drehte sich um und lief die Treppenstufen hinunter. Ich zog den Teppich zurück und löste eines der Dielenbretter. Darunter lag ein Päckchen, aus einem schwarzen Müllsack und mit Klebeband handlich zu etwa der Größe eines gebundenen Buches zusammengeschnürt. Ich schnappte mir das Paket, schob das Holzbrett und den Teppich wieder an ihren Platz und ging zurück in die Wohnung. Ich öffnete das Päckchen und schüttete dessen Inhalt in die Ledertasche: eine Smith & Wesson M10 .38 Special, zwei Päckchen Munition – jeweils eines für jede meiner Pistolen –, ein Schalldämpfer für die Makarov und fünftausend Pfund in Zwanzig- und Zehnpfundnoten.



Ich stellte die Reisetasche an der Wohnungstür ab und sah mich um. Es machte mir nichts aus, mein altes Leben zurückzulassen. Putzen war zwecklos. Ich hätte Stunden damit zubringen können, meine Spuren zu verwischen und würde doch etwas übersehen. Die Wohnung lief ohnehin auf einen anderen Namen. Seit ich bei den Paras aufgehört hatte, benutzte ich meinen wirklichen Namen nicht mehr. Solange ich mich nicht schnappen ließ, war alles okay. Ich musste mich unauffällig verhalten und für eine Weile untertauchen. Ich brauchte ein anderes Auto. Wenn diese Kerle Coles Männer waren, würden sie sehr schnell wissen, was für einen Wagen ich bislang fuhr.



Zurück in der Küche untersuchte ich die Taschen des toten Mannes. Ich kramte fünfhundert Pfund in neuen Fünfzigpfundscheinen und noch mal hundert aus benutzten Zwanzigern hervor, einen Ring mit verschiedenen Schlüsseln, davon ein Autoschlüssel, und eine Bankkarte auf den Namen Brian Dirkin. Ich nahm das Geld und die Schlüssel an mich und überlegte, mir Dirkins Wagen zu schnappen, aber der würde genauso heiß sein wie meiner, sobald man seine Leiche fand. Und dem Gesichtsausdruck von Akrams Großmutter nach zu urteilen würde das nicht allzu lange dauern.



Der Junge im Flur hatte sich nicht bewegt. Ich stand da und sah für einen Moment auf ihn hinunter. Er hatte ein schwarzes Tattoo in Form eines Tribals auf seinem rechten Oberarm. Etwas zwickte mich in einer der hintersten Ecken meines Verstandes, und ich hatte das Gefühl, als wollte es mich vor irgendetwas warnen. Wie etwas Furchtbares, das auf mich lauerte.



Ich hockte mich neben ihn und durchsuchte seine Taschen. Da war ein Kondom, ein Taschenmesser, und wie bei Dirkin fünfhundert Pfund in Fünfzigern und hundert Pfund in gebrauchten Zwanzigern. Das war eigenartig. Ich verglich beide Bündel Fünfziger miteinander und überprüfte die Seriennummern. Fortlaufend nummeriert. So wie es aussah, hatte jemand diesen Männern Tausend Scheine bezahlt, damit sie mir auflauerten.



Ich fragte mich, wie weit sie wohl gegangen wären. Waren sie dafür bezahlt worden, mich umzulegen? Tausend Piepen erschienen dafür etwas wenig. Und Baseballschläger wären dann auch nicht die beste Wahl für eine Waffe gewesen. Nein, man hatte sie dafür bezahlt, mich aufzumischen. Andererseits … Simpson wurde zu Tode geprügelt. Und vielleicht waren die Fünfhundert für jeden nur die Anzahlung gewesen. Trotzdem war es nicht Coles Art, die Sache auf diese Art anzugehen. Er hatte Schläger für so was auf der Gehaltsliste, daher bestand kein Grund, Fremde anzuheuern. Erst recht keine Amateure wie diese hier.



Ich hörte ein Krächzen und erstarrte. Der Junge versuchte zu atmen. Ich beobachtete ihn eine Weile, dann ging ich ins Wohnzimmer, wo ich die Sockelleiste am Boden zurückzog und in die kleine Vertiefung dahinter griff. Dort hatte ich einen Führerschein und einen britischen Pass versteckt, beide waren auf einen anderen Namen ausgestellt. Der Pass war okay, solange ich damit nicht versuchen würde, das Land zu verlassen, aber der Führerschein war einer dieser alten aus Papier. Ich war nicht sicher, ob die noch gültig waren. Von einem Kleiderhaken im Flur schnappte ich mir einen langen Mantel und eine Balaklava.



Da erst bemerkte ich die Segeltuchtasche. Die Art, wie sie Sportler oft benutzten. Ich öffnete sie. Sie war leer. Die beiden Männer würden keine leere Tasche in meine Wohnung bringen. Entweder wollten sie etwas mitnehmen oder sie hatten etwas hier gelassen. Ich lief zurück zu dem Jungen im Flur. Seine Augen standen jetzt offen. Sie rollten herum und sahen zu mir hinauf. Er zuckte zurück und das ließ ihn vor Schmerz laut aufschreien.



»Wer hat dich geschickt?«, fragte ich.



»Ich kann mein Bein nicht bewegen.« Er fing an zu heulen. Seine Lippen bebten, Rotz lief ihm aus der Nase. »Hilf mir.«



»Wer hat dich geschickt?«



»Weiß ich nicht. Bryan kennt ihn.«



Seine Augenlider zuckten, dann fielen sie zu. Ich tastete nach seinem Puls. Schwach, aber vorhanden. Ich schlug ihn ein paar Mal ins Gesicht, um ihn zurückzuholen. Nach einer Weile öffnete er wieder die Augen. Als er mich sah, geriet er in Panik und zuckte krampfartig.



»Bitte, nicht …«, sagte er mit brüchiger Stimme.



»Was war in der Tasche.«



Der Junge formte mit dem Mund das Wort, bevor er seine Stimme fand.

 



»Geld.«



»Welches Geld? Warum?«



»Keine Ahnung.«



»Wo ist es?«



»Ba…«



»Badezimmer?«



Er versuchte zu nicken und verzog schmerzerfüllt sein Gesicht.



Ich ging ins Bad, sah im Wandschrank und unter dem Waschbecken nach. Dann öffnete ich den Wasserkasten an der Toilette, und da war es. Ein durchsichtiger Plastikbeutel, mit Klebeband umwickelt. Ich holte den Beutel heraus und riss ihn auf. Wasser tropfte auf den Boden und Bündel aus gerollten Fünfzig- und Zwanzigpfundnoten fielen heraus. Jede Rolle bestand aus tausend Pfund. Die Geldscheine sahen neu aus. Ich zählte die Röllchen. Vierundzwanzig Stück. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass die beiden Tausender, die ich den Männern abgenommen hatte, ebenfalls aus diesem Paket stammten. Wahrscheinlich hatte man den beiden jeweils Hundert bezahlt, und dann hatten sie beschlossen, einen Tausender abzuzweigen und unter sich aufzuteilen. Demnach hatte man sie auch nicht angeheuert, um mir was zu tun, sondern um das Geld zu deponieren. Die Baseballschläger dienten nur der Absicherung. Darauf waren sie wahrscheinlich selber gekommen. Als ich heimkam, gerieten sie in Panik. Es gab keinen anderen Fluchtweg als zu Vordertür raus. Also entschieden sie, mich zusammenzuschlagen und dann das Weite zu suchen. War geraten, aber so passte alles zusammen. Ich entschied, das Geld vorerst zu behalten. Damit konnte man mir zwar nachweisen, dass ich bei dem Casino-Job dabei war, aber andererseits … wenn man mich schnappte, würden sie mich wegen weit mehr drankriegen.



Dann stutzte ich. Wie waren sie hereingekommen? Am Türschloss hatte sich niemand zu schaffen gemacht, und ohne eine Leiter oder ein Seil wären sie auch nicht durchs Fenster reingekommen, und selbst dann hätten sie das Fenster einschlagen müssen, was sie nicht getan hatten. Werkzeug, mit dem man ein Schloss knacken konnte, hatte ich auch nicht gefunden. Ich holte Dirkins Schlüsselbund hervor und verglich die Schlüssel mit meinen eigenen. Einer der Schlüssel war identisch: gleiche Form, gleiche blassgrüne Farbe, selber Hersteller.



Ich ging hinaus und warf im Vorbeigehen einen Blick auf den Jungen. Seine Augen standen offen, aber er starrte nur in die Luft. Sein Atem ging schnell und stoßweise.



Akram war allein im Laden. Er stand hinter der Theke, vor sich seine Bücher und ein Taschenrechner, und machte ein angestrengtes Gesicht. Es roch schwach nach würzigem Essen, aber der Geruch war abgestanden. Keine Musik. Als sich die Tür öffnete, sah Akram auf.



»Hallo, mein Freund«, rief er, hob kurz grüßend eine Hand und lächelte. »Was kann ich für dich tun? Vielleicht eine Telefonkarte?«



Ich blieb einen Moment stehen und ließ meinen Blick herumwandern. Aus dem Hinterkopf pulsierte ein Schmerz bis in die Stirn. Ich versuchte den Schmerz auszublenden, musste nachdenken.



Am hinteren Ende des Geschäfts, in der Nähe des Perlenvorhangs, fehlte das untere Zeitschriftenregal. Die Magazine waren auf einem Haufen aufgeschichtet, aber die oberen waren heruntergefallen. Akrams Lächeln verschwand, als ich näherkam. Er sah wieder in seine Bücher, ließ einen schmutzigen Finger über die Spalten gleiten und tippte ein paar Zahlen in seinen Taschenrechner.



»Was ist mit dem Regal passiert?«



Er zuckte mit den Achseln, ohne den Blick von seinen Büchern zu nehmen. »Kinder«, sagte er. »Die tollen herum.«



»Wo ist deine Frau?«



»Meine Frau? Die ist krank.«



»Was hat sie?«



Er sah auf. Sein Finger lag noch immer auf seiner Abrechnung. »Sie ist krank.«



»Mh-hm«, machte ich. »Erzähl mir von deiner Großmutter.«



»Meine Großmutter?«



»Ja.«



»Was soll mit ihr sein?«



»Sie war am Dienstag hier. Schien aufgebracht.«



»Sie ist immer aufgebracht.«



»Sie hat dir von ein paar Männern erzählt, die versucht haben, einzubrechen, oder?«



»Hat sie dir das erzählt? Sie ist alt und ein bisschen verrückt. Sie glaubt, dass jeder sie vergewaltigen will.«



»Deine Frau ist krank, deine Großmutter verrückt und Kinder verwüsten deinen Laden. Scheißwoche, was?«



Er versuchte zu lächeln. Es gelang ihm nicht.



»Bitte, kann ich irgendetwas für dich tun? Ich bin gerade beschäftigt.«



»Hatten sie einen Schlüssel?«



»Was?«



»Als sie in meine alte Bude eingestiegen sind, da, wo jetzt deine Großmutter wohnt. Hatten sie da einen Schlüssel?«



»Sie ist durcheinander. Ich sagte ihr bereits, niemand hat einen Schlüssel. Du hast deinen zurückgegeben.«



»Also hat sie dir gesagt, dass sie einen Schlüssel hatten, nicht wahr?«



Jetzt wirkte Akram nervös. Er fuhr sich mit der Hand über seinen dichten Bart und spähte zu dem Perlenvorhang hinüber.



»Wie viele Schlüssel gibt es für meine neue Wohnung?«



»Ich hab einen. Du hast einen.«



Mein Kopf hämmerte, mein rechter Arm schmerzte und fühlte sich schwer an. Aber ich wollte nicht, dass Akram bemerkte, dass mein Arm beinahe taub war. Wollte nicht, dass er bemerkte, dass ich Schmerzen hatte. Ich streckte ihm die Linke hin.



»Zeig mir deinen«, sagte ich.



»Was?«



Ich musste mich zusammenreißen, geduldig bleiben. Es war wichtig, dass Akram ruhig blieb. Hätten die Dinge anders gestanden, hätte ich ihm längst seinen beschissenen verschwitzten Kopf abgerissen.



»Der Schlüssel für meine Wohnung. Zeig ihn mir.«



»Wozu brauchst du ihn?«



»Gib her oder ich komme rüber und hol ihn mir.«



Er sah mich an. Zögerte. Sein Mund stand offen, er wollte etwas sagen, ließ es aber bleiben. Er klopfte seinen Taschen ab und sah in einer Schublade nach.



»Ich habe ihn nicht bei mir«, sagte er. »Warum kommst du nicht später noch mal wieder, hm?«



»Sie waren hier«, sagte ich. »Zwei von ihnen.«



»Was?«



»Haben sie dich bedroht? Dich geschlagen?«



»Ich weiß nicht …«



»Ich hab keine Zeit für diesen Mist. Sie waren hier, richtig? Zwei Männer. Einer jung, groß, kahl rasiert. Der andere älter, kleiner.«



Er machte einen Schritt zurück und sackte auf seinen Stuhl. Er war kein harter Mann. Seine Schultern fielen in sich zusammen. Er sah dorthin, wo das fehlende Regal stand. Griff hinter sich und zog ein Päckchen Zigaretten aus dem Display, löste die Folie, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an.



»Sie haben meine Frau verprügelt. Mit Schlägern.«



»Baseballschlägern?«



»Haben mir den Laden zertrümmert.« Er zog an der Zigarette. »Diese Bastarde. Ich hätte versuchen sollen, sie aufzuhalten.«



»Dann hätten sie dich übel zugerichtet.«



»Aber sie hätten meiner Frau nichts getan. Sie hat zwei gebrochene Rippen.« Er hielt zwei Finger in die Luft, der Anflug von Wut hob ihn für einen Moment von seinem Stuhl. Dann verzog sich die Wut wieder und er sank erneut in sich zusammen.



»Gebrochene Rippen. Sie sagten, wenn ich dir oder der Polizei davon erzähle, dann kommen sie wieder und schlagen meine Großmutter.«



»Die werden nicht wiederkommen.«



»Woher willst du das wissen? Das kannst du nicht wissen.«



»Die kommen nicht wieder.«



Er sah mich unverwandt an. »Ja«, sagte er dann. »Ich glaube dir.«



»Deine Großmutter.«



»Sie wollte nicht her«, sagte Akram. »Sie sagte immer, London sei gefährlich. Gangs, die aufeinander schießen. Ich sagte ihr, es sei hier sicher.«



»Sie haben einen Schlüssel benutzt, um in ihre Wohnung einzudringen. Meine alte Wohnung.«



»Ja. Sie schrie sie an, und sie rannten davon. Sie erzählte mir immer wieder, dass seltsame Männer in ihrer Wohnung waren. Sie ist alt. Ich dachte, sie spinnt sich was zusammen.«



»Und als sie hierherkamen, wollten sie den Schlüssel zu meiner neuen Bleibe?«



»Ja.«



»Wann war das?«



»Heute, am Abend.«



»Wann?«



»Was für eine Rolle spielt das?«



»Welche verdammte Uhrzeit?«





Kapitel 5



Kendalls Frau war bewusstlos. Ihr Kiefer war ausgerenkt und hing schief von ihrer Wange. Wahrscheinlich war auch ihr Schädel gebrochen. Unter ihrem Kopf war eine ziemliche Sauerei. Kendall selber kümmerte sich nicht um seine Frau – er hatte eigene Probleme. Er kauerte auf allen vieren, spuckte Blut und Zähne und versuchte zu sprechen, versuchte Worte durch seinen zertrümmerten Mund zu schieben und mir zu sagen, dass ich aufhören solle, ihm weiter wehzutun.



»Bitte«, presste er hervor.



Ich hob ihn vom Boden und warf ihn in den Barschrank. Glas und Holz splitterten. Ich schwitzte, knurrte durch die Zähne. Jetzt, wo das Adrenalin durch meinen Körper pumpte, bemerkte ich den Schmerz in meinem Arm kaum. Ich verstand es nicht. Ich zitterte. Die ganze Zeit. Ich verlor nie die Beherrschung so wie andere. Deshalb heuerte man mich an. Ich drehte nicht durch. Und jetzt stand ich mitten in Kendalls Wohnzimmer und es sah aus wie das Armageddon. Kendalls Frau hatte sich noch immer nicht bewegt, aber das spielte keine Rolle. Was jedoch eine Rolle spielte, war, dass Kendall bei Bewusstsein bleiben und mit mir reden musste, und ich den Wichser umbringen würde, wenn ich nicht aufpasste.



An der Haustür waren Koffer aufgereiht. Wäre ich nur ein paar Minuten später hier aufgekreuzt, wären Kendall und seine Frau über alle Berge gewesen.



Ich konnte nicht klar denken. Gott, die Schmerzen in meinem Kopf waren schier endlos. Es dröhnte, als würde mir jemand geschmolzenes Blei in den Schädel pumpen. Lichter tanzten vor meinen Augen.



Er bewegte sich, krabbelte aus den Überresten des Schränkchens. Ich stand über ihm, presste meinen Fuß auf seinen Rücken und drückte ihn nach unten.



»Du hast mir eine Falle gestellt.«



»Nein«, murmelte er in den Teppich.



»Du hast gewartet, bis ich nicht zuhause war – sondern mit dir zusammen im Roxie – und dann hast du deine Jungs angerufen und ihnen gesagt, dass sie das Geld bei mir deponieren sollen.«



»Joe, bitte.«



»Sie waren zu langsam – und zu gierig.«



»Ich weiß nicht, wovon du redest.«



»Ich hab Dirkin gefunden. Hab ihn getötet. Er war bei Akram, hat dessen Frau verprügelt und sich die Schlüssel zu meiner Wohnung verschafft.«



»Bitte, Joe.«



Ich war klitschnass vom Schweiß, und jedes Mal, wenn der Schmerz in Wellen durch mich hindurchfuhr, brach mir noch mehr kalter Schweiß aus den Poren.



»Aber du hast es vermasselt, Kendall. Sie hatten es schon einmal versucht, aber du wusstest nicht, dass ich umgezogen war, richtig? Hast sie in die falsche Wohnung geschickt.«



Ich legte mehr Gewicht auf mein Bein und drückte ihn stärker gegen den Teppich.



»Ich kann nicht … atmen.«



»Du und Beckett, ihr wolltet mich an Cole verfüttern. War es so? Deshalb war ich bei dem Job dabei, oder? Oder? Mich auf den Job ansetzen und schön aus dem Weg halten, damit ich nicht dabei bin, wenn die anderen mit dem Geld verduften.«



Seine Beine rutschen über den Boden. Seine Arme zappelten herum. Er sah aus wie ein sterbender Fisch.



»Ich … kann nicht …«



»Rede, Kendall, du Mistkerl. Simpson hat man zu Tode geprügelt. Und jeder wusste, dass ich mit meinen Fäusten ganz gut umgehen kann. Hat Beckett ihn umgebracht?«



Ich drückte ihn noch stärker gegen den Boden. Jetzt atmete er nicht mehr. Sein Gesicht war rot, seine Hände tasteten hilfesuchend umher, aber da war nichts, was ihm helfen konnte.



»Joe«, gurgelte er.



»Deshalb hast du Gerüchte bei King und Daley über mich verbreitet und mir den Ellis-Schlamassel in die Schuhe geschoben. Hast den Acker bestellt, oder?«



Jetzt bewegte er sich nicht mehr. Ich hob ihn auf und warf ihn quer durch den Raum. Er krachte zu Boden und rührte sich nicht.



Mein Kopf pulsierte. Ich brauchte Kendall bei Bewusstsein. Ich lief in die Küche und steckte meinen Kopf unter den Hahn mit dem kalten Wasser. Dann füllte ich ein Glas voll Wasser, nahm es mit ins Wohnzimmer und schüttete es über Kendall aus. Er zuckte und stöhnte.



Ich musste nachdenken. Nicht alles passte zusammen. Wenn man mich als einen der Räuber an Cole auslieferte, wäre Beckett deswegen nicht aus dem Schneider. Cole würde weiterhin nach dem Drahtzieher Ausschau halten. Er würde weiterhin nach seiner Million suchen.



Ich kniete mich hin und drehte Kendall auf den Rücken.



»Nicht. Es reicht. Es war Beckett.«



»Weiter.«



Ich hob ihn hoch und lehnte ihn gegen die Wand. Fand etwas Wodka, den ich ihm in den Rachen goss. Er spuckte und hustete und schob den Wodka weg. Er spuckte Blut und Alkohol und krümmte sich hustend. Ich zwang mich zu warten, zuzuschauen und den Drang zu ignorieren, ihn fertigzumachen. Ihn auseinanderzunehmen. Nach ein paar Minuten richtete er sich wieder auf. In seinen Augen schwammen Tränen.

 



»Sieh mal, Joe …«



»Erzähl mir was über Beckett. Er wusste, dass das Casino Cole gehörte. Warum das Ding dann trotzdem durchziehen?«



»Abgekartet. Die ganze Sache. Cole bot Beckett einen Anteil der Beute, wenn er das Casino ausrauben würde.«



»Cole?«



»Cole.«



»Beckett hatte Insider-Informationen.«



»Ja.«



»Wozu dann Warren?«



»Das war nur Show. Sollte wie der Job von jemand anderem aussehen.«



Und mich wollte man für ein paar Stunden aus dem Weg haben.



»Beckett sollte einen Anteil bekommen? Den Rest Cole zurückgeben?«



»Ja.«



»Aber der Fang war zu gut. Zu gut, um ihn aufzugeben, richtig? Also entschied er, das Geld für sich zu behalten, und brauchte einen Blödmann wie mich. Jemanden, dem man unterschieben konnte, dass er Beckett reingelegt und das Geld für sich behalten hat. Also ist er deswegen zu dir gekommen.«



»Er suchte …«



»Er suchte was? Einen Dummen?«



»Joe, bitte.«



Ich verpasste ihm eine.



»Stimmt das? Er kam zu dir und meinte, er braucht einen Trottel, den er verarschen kann.«



»Ja.«



»Aber ich habe einen guten Ruf, immer schon. Zu gut. Cole wäre vielleicht misstrauisch geworden. Beckett musste es ein wenig hindrehen, also habt ihr euch abgesprochen, das Gerücht zu streuen, ich hätte was damit zu tun, dass sie Tony Ellis Gang hochgenommen haben. Das hat das Wässerchen getrübt und ließ mich schlecht dastehen.«



»Was hätte ich tun sollen?«



»Warum wurde Simpson getötet?«, fragte ich.



Jetzt weinte er. Er hob eine zitternde Hand unter seine Nase und wischte sich den Rotz ab.



»Beckett«, sagte er.



»Was soll das heißen?«



»Das muss Beckett gewesen sein. Mehr weiß ich nicht.«



Er schaute zur Tür hinüber.



»Du würdest es nicht schaffen«, sagte ich.



Er schluckte ein Schluchzen hinunter.



»Geld«, sagte er. »Wie viel?«



Ich nahm meinen Blick nicht von ihm, nagelte Kendall mit meinen Augen fest. Er hob die Hände, so als würde er einen Angriff abwehren.



»Oh, Gott«, sagte er.



Ich schlug seine Hände beiseite.



»Wie viel hat er dir bezahlt?«



»Zehn Mille, auf die Hand. Fünf Prozent der Beute. Gehört dir.«



Er hob wieder seine Hände. Ich denke nicht, dass er wusste, was er tat. Einfach nur der Drang, sich zu verteidigen. Ich schlug wieder nach den Händen.



»Wann bekommst du den Rest? Wo?«



»Beckett sollte ihn mir geben, nachdem …«



»Nachdem was?«



»Er sollte es mir einfach später geben.«



»Nachdem ihr mich um die Ecke gebracht habt?«



Er streckte seine Arme aus, berührte meine Hände und hielt sie fest.



»Hör zu, Joe, ich habe einen Fehler gemacht. Das weiß ich. Es tut mir leid.«



Ich zog meine Hände aus seiner feuchten Umklammerung. Er versuchte wieder, mich anzufassen, fuchtelte herum, versuchte am Leben zu bleiben. Tränen rannen seine Wangen hinab.



»Wir beide kennen uns seit einer Ewigkeit, stimmt‘s? Acht Jahre, länger. Ich erinnere mich noch, als wir uns das erste Mal trafen. Du auch? Das war nach dem Kampf in Leyton. Haben dich ausgezählt, weil du blind warst. Du würdest immer noch diese Scheiße machen, wenn ich nicht gewesen wäre. Du wärst jetzt blind oder tot, wenn ich nicht gewesen wäre. Nun, ich hab einen Fehler gemacht. Hast du noch nie einen beschissenen Fehler gemacht? Ich überlass‘ es dir. Sag mir einfach, was du willst. Was willst du, Joe, verdammt noch mal.«



Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Brust bebte.



»Bist du fertig?«, fragte ich.



Er ließ die Arme fallen. Senkte den Kopf.



»Wieso wurde Simpson umgebracht?«



»Ich weiß es nicht. Vielleicht bekam er es mit der Angst, ist eingeknickt. Damit habe ich nichts zu tun.«



»Wieso wollte Cole seinen eigenen Laden ausrauben lassen. 'Ne Versicherungssache?«



»Weiß nicht. Ja, möglicherweise.«



Er griff mit einer Hand nach der Wodka-Flasche, zog sie zu sich und nahm hustend einen Schluck. Ich griff die Flasche und warf sie weg. Er sah zu, wie sie an der Wand zerschellte.



»Warum ist Cole noch nicht hinter mir her?«



»Hmm?«



»Der Job war vor vier Tagen.«



»Vielleicht … hat er den Zusammenhang noch nicht erkannt.«



Sollte das möglich sein, dass Cole noch nicht wie von Beckett geplant die Punkte miteinander verbunden hatte? Vielleicht hatte Cole erkannt, das Beckett hinter dem falschen Spiel steckte. Vielleicht waren in diesem Moment aber auch schon Coles Männer auf der Suche nach mir.



Kendall setzte sich auf. »Ich kläre das mit Cole«, sagte er. »Ich sag ihm, dass du mit der Sache nichts zu tun hattest. Ich sag ihm, dass es Beckett war.«



»Wo ist Beckett?«



»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Er hat die Fliege gemacht, mich in Schwierigkeiten gebracht. Walsh und Jenson genauso. Die Schweine haben sich in Luft aufgelöst.«



Hätte mich überrascht, wenn Kendall etwas gewusst hätte. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, warum also sollte Beckett ihm sein Schlupfloch verraten?



»Ich hab versucht, sie zu finden«, sagte er. »Gib mir etwas Zeit. Ich kriege die Jungs, wir waschen dich rein und bringen das mit Cole in Ordnung.«



»Wie?«



»Hmm?«



»Wie hast du versucht, sie zu finden?«



»Ich hab 'ne Telefonnummer«, sagte er und deutete auf einen Schreibtisch in der Fensternische des Wohnzimmers. »In der obersten Schublade.«



Ich stand auf und drehte mich zu dem Schreibtisch um. Was ein Fehler war.



Kendall sprang auf die Beine. Er war schnell, von der Verzweiflung angetrieben. Ich streckte den Arm aus und bekam ein Büschel seiner Haare zu fassen, riss sie mitsamt der Wurzel aus, zog ihn zurück und drehte ihn herum. Er schrie, sein Gesicht war verzerrt von Angst, Schock und Schmerz. Ich schlug ihm meine Faust ins Gesicht. Hörte das Knirschen von Knorpel, als seine Nase brach. Sein Kopf schnappte mit einem Knacken nach hinten. Er fiel auf den Boden, zuckte. Blut gurgelte aus seinem ruinierten Gesicht hervor. Sein Körper bäumte sich auf, seine Hände griffen nach seinem Gesicht und krallten sich in den Teppich. Er rollte herum, versuchte auf die Knie zu kommen, und brach zusammen. Er atmete gepresst, seine Bewegungen ließen nach.



Als ich wusste, dass er tot war, lief ich zu dem Schreibtisch, öffnete die Schublade und ging die Papiere und Fotografien darin durch. Nichts. Ich fegte alles vom Schreibtisch herunter. Durchsuchte den Rest des Hauses. Ich fand ein paar Bargeldverstecke, zusammen etwas um die Tausend. In einem der Koffer fand ich Kendalls Mobiltelefon. Ich wartete darauf, dass seine Frau wieder zu Bewusstsein kommen würde, damit ich sie befragen konnte. Nach einer Weile, nachdem sie sich noch immer nicht bewegt hatte, untersuchte ich sie und stellte fest, dass sie aufgehört hatte zu atmen und bereits kalt wurde. Sie war wohl schon seit einer halben Stunde tot.



Vielleicht bewahrte Kendall irgendwo Dokumente auf, mit deren Hilfe ich Beckett finden konnte. Ein Tagebuch, ein Adressbuch. Ich nahm die Bude auseinander. Es gab Rechnungen, Fotografien, Briefe, aber über seine geschäftlichen Aktivitäten war nichts zu finden. Kein Anzeichen dafür, dass er Männer bezahlte, die Banken überfielen, Schutzgelder erpressten und Schulden mit Vorschlaghämmern eintrieben. Vielleicht war eine Frau der Grund gewesen, warum er die beiden Bereiche seines Lebens getrennt hatte, oder vielleicht konnte Kendall hier so tun, als wäre er ein gewöhnlicher, aufrechter Bürger. Ich durchsuchte die Garage und die Autos. Nichts. Ich erinnerte mich, dass Kendall einmal ein Büro erwähnt hatte, aber ich wusste nicht, wo es sich befand.



Ich schaltete Kendalls Handy an und drückte so lange darauf herum, bis ich das Adressbuch fand. Ich ging die Einträge durch, bis ich »Beckett, J.« fand. Es gab zwei Nummern, davon eine Mobilnummer. Ich rief an, aber niemand ging ran. Ich schrieb mir di