Buch lesen: «Tartaglia»
Das Buch
Eine leise Erzählung über die Verwandlung, das Verstummen, den Liebesmoment und den Tod: Herculine reist durch Kontinente, Länder, Dörfer und Landschaften, fotografiert Karnevale und Maskeraden. Tartaglia, der Stotterer, bleibt in seinem Zimmer, an seinem Tisch. Im Raum, neben dem Kamin: Bücherstapel – Goethes gesammelte Werke, die ihm zum Feuermachen dienen an Wintertagen. Anstatt in die Welt zu gehen, durchquert er Sprachlandstriche und kartografiert Innenwelten. Dann, an einem Februarmorgen, ist Tartaglia fort …
Der Autor
Philipp Weiss, 1982 in Wien geboren; Auszeichnungen u. a. das Hans-Gratzer-Stipendium am Schauspielhaus Wien 2011, Nominierung zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2009, Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008/2009, 3. Litarena Literaturpreis 2007, Hermann-Lenz-Stipendium 2006; zahlreiche Publikationen, u. a. im Residenz Verlag, in kolik, Volltext, manuskripte und im Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter (über Peter Handkes Wunschloses Unglück, 2009) sowie im Passagen Verlag (egon. Ein Kunst-Stück, 2008)
Die Textlicht-Reihe
Textlicht ist junge, unterhaltsame Literatur in einem handlichen Format, egal ob für daheim oder unterwegs, nebenher oder zwischendurch – die Bücher der Textlicht-Reihe sind Literatur, die unter die Haut geht und noch lange im Kopf bleibt.
Philipp Weiss
Tartaglia
Inhalt
Kapitel 1
Er nannte mich Herculine. Da ich anderen zufolge ein Mann sei, meinem Empfinden nach eine Frau bin, und das auch nach außen, somit für die Welt ein verirrter Cherub bin, ein durch die Unbestimmtheit schwirrender Faun, Inkubus, so sagte er. Wie ich ihn auch als Frau liebte und nicht als Mann, da ich ihn immer als anders empfand, er mich aber weder als Frau noch als Mann liebte, sondern als das ihm unbegreiflich Nahe.
Herculine – mit diesem Namen rief er mich, seit ich ihm die Aufzeichnungen der Herculine Barbin geschenkt hatte, die sich das Leben nahm, da sie ein fremdartiges Mischwesen war, ein Satyr, eine Undine, die durch die Netze fiel und nur in der Negation eines Ortes ihren Platz finden konnte, im Tod.
Die arabischen Gelehrten scheinen, wenn sie vom Tod sprechen, den wunderbaren Ausdruck /der gewisse Körper/ zu verwenden. Ich ertappe mich manchmal dabei, mir seinen Körper in verschiedenen Stadien der Verwesung zu denken. Sein zarter Körper zunächst, das bläuliche Netz der Venen, ein Flechtwerk, und die Blasen auf der Haut, Selbstverdauung, Durchwirktwerden und Maden und die Zersetzung nach und nach, das Ausfallen von Zähnen und Haaren und zuletzt etwas Namenloses. Dieser gewisse Körper, nämlich sein Körper im Zustand der Fäulnis, ist für mich zum Synonym für den Tod geworden. Die Erlegung des Todes stelle ich mir wie ein Maskenfest vor.
Das Weiß der Sprache von den Wänden zu lecken, mit viel Speichel lösen und sachte ablecken und schlucken, in den Tag schlucken mit seinen Schatten, Gewächsen, und immerzu mit Lust schlecken, ohne einem störrischen Schmerz anheimzufallen, einer Melancholie, unmerklich und plötzlich und ohne dabei zu verstummen, sagte er, das wäre das, wovon im Stillen, ganz mit sich selbst, die Rede sei. Eine Harztraube kosten, so sagte er, in diesen Bildern, für mich vage, für ihn eine Genauigkeit in seiner eigensten Vorstellung, sodass ich niemals widersprach. Wie mir auch jetzt erst klar wird, dass er nur in seiner eigenen Sprache die Dinge betrachtete, ertastete in seinen Worten, Feldern, fremd, oft über die Grenzen des Verstehens hinaustastete, in ihren Bedeutungen nur erahnbar für mich und mehr noch für andere, die daran nicht gewohnt waren, ein Spiel, damit kein Mundtod geschieht, so sagte er, kein Klebemund, damit nicht das Harz bereits im Mund erstarrt, an den Zähnen, Lippen, Zungenrand klebt und zur Falle wird. Man muss mit Lust lecken ohne Ende und schichten im Inneren und davon bleich werden, ein Speichellecker, bleich und bleicher und dennoch immer weiterschichten, um an ein Ende zu gelangen oder irgendwohin, sagte er, aber niemals tonlos sein, immer Stimme haben.
Ich schreibe mich vom Tod weg. Ich, die nie ein Wort geschrieben hat, schreiben konnte, da ich immer näher zu den Dingen wollte, da ich die Distanz der Sprache nie ertragen habe, da mich der Welt nähern wollen in der Sprache immer mich von ihr entfernen bedeutete, abbrechen und zerfallen, weshalb ich den Weg immer über das Bild suchte, das mir greifbarer war. Ich schreibe mich nun vom Tod weg, da mir gerade die Distanz (Dichtungsferne sagte er) eine Notwendigkeit geworden ist. Das Bild versagt hier. Etwa habe ich die Kamera seit Wochen nicht mehr angefasst oder angesehen, ihre Präsenz im Raum aber immer wahrgenommen, deshalb in die alte Truhe in den Keller gelegt, zugeklappt, zugesperrt, damit ich ihr nicht begegne, da mir Bilder zu machen mit einem Mal falsch erscheint. Darum ein Versuch mit Worten, nicht um mich der Welt zu nähern, sondern um mich von ihr zu entfernen im Schreiben.
Er sagte: Ich schiebe die Töne vor mir her anstatt sie anzustimmen. Ich schlucke die Töne nur um zu stimmen und ohne zu kauen. Ich bin ein Sprachstummel, sagte er, ein Schubstammler und stumm. Oft sprach er davon, in Schüben. Er meinte, er litte, und ich lachte und er lachte auch und verstummte bald wieder und begann von Neuem. Wie wir auch nicht zueinander fanden in solchen Momenten. Weil er keine Lust auf mich hatte, weil die Sprache ihm jede Lust nahm, weil er mich nicht begehrte und er nicht begehrt sein wollte, weil er mich nicht in sich fühlen konnte in solchen Momenten und schon gar nicht sich in mir fühlen wollte, da er die Sprache nicht fühlen konnte, mir nur immerzu sagte, er sei bereits übervoll und leer zugleich, und ich ihn nicht einmal anfassen durfte in solchen Momenten, da es ihn einschnürte, leblos machte berührt zu werden. Er sagte: Ich habe meine Hautlosigkeit am Schreibtisch verloren. Hautlosigkeit sagte er, das Lieben nehme ihm die Haut, mache ihn schutzlos, preisgegeben und auch stumm, auf andere Art stumm, und alles gleite ihm bis ins Innerste dadurch, sagte er, in einen Innenraum, ungehemmt, aber in ein Durch und Durch zugleich, in eine Ortlosigkeit.
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